Erdbeben: Italiens zwei Gesichter
Nach dem Erdbeben, das am 24. August den Ort Amatrice und die umliegenden Dörfer im Nordosten von Rom heimsuchte, wurden bisher 291 Tote aus den Trümmern gezogen. Nach dem Beben, das vor 4 Jahren die Emilia Romagna erfasste (und dort vor allem viele Klein- und Mittelbetriebe zerstörte), gab es 27, und nach dem Beben, das 2009 L‘Aquila in Schutt und Asche legte, 309 Tote. In Irpinia waren es 1980 über 2700, in Friaul 1976 1000, in Avezzano (Provinz Aquila) 1915 32.000, in Messina 1908 82.000 Tote. Ort, Zeit und Heftigkeit der Beben sind bis heute nicht vorhersagbar. Sicher ist nur, dass ihre Epizentren einer Linie folgen, die über den Apennin von Sizilien bis Norditalien läuft, dass die größeren Beben auf der Richter-Skala eine Stärke zwischen 6 und 7 haben und dass sie jedes Jahr von Hunderten kleinerer Beben begleitet werden.
Was kann man dagegen tun, außer in den Trümmern nach Toten und vielleicht noch Lebenden zu suchen? Verhindern kann man die Beben nicht, man weiß, sie kommen wieder, und man kann schätzen, welche Orte entlang der Bruchlinie besonders gefährdet sind.
Unzureichende politische Vorsorge
Wenn man von der ultima ratio der Entvölkerung absieht (die sowieso nicht funktionieren würde), bleibt nur die Prävention. Aus Ländern wie Japan, die mindestens genauso erdbebengefährdet sind wie Italien, hört man Wunderdinge, was sich mit anders gebauten Häusern erreichen lässt. Aber obwohl man sich hier vor deutscher Arroganz hüten muss (Erdbeben spielen in Deutschland fast keine Rolle), scheint Prävention nicht gerade eine italienische Stärke zu sein. Dies beginnt beim Gesetzgeber, der zwar nach der Katastrophe von L‘Aquila Vorschriften für eine erdbebensicherere Bauweise erließ, kombiniert mit finanziellen Anreizen dafür, dass die schon vorhandenen Gebäude in den Hochrisikogebieten auf mehr Erdbebensicherheit umgerüstet werden. Die damalige Regierung Berlusconi stellte eine knappe Milliarde Euro bereit, um jede Umrüstung zu 65 % staatlich zu fördern. Aber bisher wurde davon nur ein Bruchteil ausgeschöpft. Der Hauptgrund ist wohl, dass die Regionen und Gemeinden etwas kofinanzieren müssen. Auch wenn diese Anteile relativ gering sind, unterliegen sie der Austerity. So knüpfte z. B. die Region Lazio die Auszahlung an die Bedingung, dass es sich bei dem zu sichernden Privatgebäude um einen Erstwohnsitz handeln müsse. Das ist fahrlässig, denn die Orte in den Bergen füllen sich im Sommer traditionell mit Städtern, die hier ihre Zweitwohnung haben. In Amatrice, das „eigentlich“ ein 2750-Seelen-Dorf ist, sind 70 % der Privathäuser solche Zweitwohnungen, im August wächst der Ort auf 15.000 Einwohner. Außerdem wäre in den Hochrisikozonen eine obligatorische Gebäude-Versicherung gegen Erdbebenschäden vernünftig. Aber sie sind nur fakultativ, weil die Regierungen die Anklage fürchten, die Steuerlast weiter zu erhöhen.
Zu den politischen Versäumnissen kommt die Unfähigkeit (und manchmal auch Korruptheit) der Bürokratie. Auch hier ist Amatrice das Beispiel: Die wenigen Anträge auf Beihilfe, die schließlich doch noch gestellt wurden, „vergaß“ der zuständige Beamte fristgemäß nach Rom weiterzuleiten. Die übliche Praxis, Zahlungen aus öffentlichen Kassen zu verschleppen, bezieht sich auch auf solche Beihilfen: Sie werden in der Regel 10 Jahre später ausgezahlt.
Bürokratische Unfähigkeit, Pfusch und Korruption
Der dritte Faktor ist mörderischer Leichtsinn. Allzu viele Neubauten scheinen immer noch dem Schema zu folgen: Fragile Steinwände und Stützpfeiler, Decken aus Stahlbeton. Gerade in Erdbebengebieten werden sie zu tödlichen Fallen: Die Wände implodieren oder kippen zur Seite, die Stahlbetondecken stürzen herunter. Kontrollen, um dies zu verhindern, gibt es nicht – zumindest nicht in ausreichendem Maße.
Schließlich die Korruption, die die Bauvorschriften unterläuft. Hier ist das Beispiel die Schule von Amatrice: Sie wurde vor ein paar Jahren „seismisch saniert“, was 500.000 € verschlang. Aber bei dem Erdbeben am 24. August hielt nur die halbe Schule – die andere Hälfte „bröckelte einfach weg“, wie die Bewohner konsterniert beobachteten. Glück im Unglück: Wären während des Erdbebens nicht gerade Schulferien gewesen, hätte es ein Massaker werden können. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Billigpfuschs in dieser Schule und 115 weiteren Gebäuden. Zuviel Sand im Zement, so die erste Diagnose.Die Schakale
Italien hat zwei Gesichter, beide sind real. Das eine Gesicht besteht aus einer halbherzigen Politik, aus einer unfähigen Bürokratie, aus Korruption und realem Pfusch. Es zeigt sich nicht nur bei den Ursachen der Zerstörungen, welche die Erdbeben hervorrufen. Es zeigt sich noch widerwärtiger, wenn die Katastrophe geschehen ist. Dann beginnt, was die Italiener „sciacallaggio“ nennen, die schmutzige Arbeit der „Schakale“. Zunächst in Gestalt der kleinen Plünderer, die in den gerade von den Bewohnern verlassenen Ruinen nach deren Habseligkeiten zu suchen beginnen. So dass die Bewohner schon Streifen organisieren, die vor allem nachts das zurückgelassene Eigentum schützen sollen.
Dann aber sind auch schon die großen „Schakale“ an der Arbeit, die Netzwerker und Spekulanten, die in das Geschäft des Wiederaufbaus einsteigen wollen. Denn was sie bei jedem Erdbeben magisch anzieht, sind die öffentlichen Gelder, die nun kommen und wovon sie möglichst viel in die eigene Tasche ableiten wollen. Viele Italiener haben noch das (abgehörte) Freudengeheul im Ohr, in das vor 7 Jahren die Spekulanten nach der Zerstörung L‘ Aquilas ausbrachen. Vor 36 Jahren brachte das Erdbeben in Irpinia die Camorra dazu, sogar ihr Geschäftsmodell umzustellen – während sie vorher ihr Geld noch auf „traditionelle Weise“, d. h. mit Drogen, Prostitution und Erpressung machte, soll sie damals entdeckt haben, mit welcher Leichtigkeit es sich nach solchen Großkatastrophen verdienen lässt. Jetzt schwört der oberste Antikorruptionsbeauftragte Italiens, Cantone, dass sich Ähnliches nicht noch einmal wiederholen dürfe.
Das andere Gesicht: die „Volontari“
Aber dies ist nur das eine Gesicht Italiens. Das andere ist die Welle von Hilfsbereitschaft und spontaner Empathie, die jetzt durch das Land geht. Vor allem in Gestalt der „Volontari“, die sich aus allen Teilen des Landes in Bewegung setzten, um irgendwie zu helfen: beim Zivilschutz, beim Wegräumen der Trümmer, bei der Versorgung der obdachlos Gewordenen. Manchen Äußerungen der professionellen Hilfsorganisationen merkt man an, dass diese „Freiwilligen“ für sie sogar zum Problem wurden. Gelegentliche Spannungen zwischen „Ehrenamtlichen“ und „Profis“ zeigen sich in Deutschland bei der Flüchtlingsbetreuung. Aber die „Ehrenamtlichen“ hier und die „Volontari“ dort: Sie zeigen, wieviel zu wenig genutzte Hilfsbereitschaft in den Menschen steckt.
Ilvo Diamanti hat recht, wenn er in diesem „Volontariato“ auch den Ausdruck des Misstrauens gegenüber der Politik „da oben“ sieht. Im Engagement der „Ehrenamtlichen“ in Deutschland steckt ein ähnlicher Impuls, wenn auch nicht so ausgeprägt wie in Italien. Aber es hat einer Demokratie noch nie geschadet, wenn die Menschen das Gefühl haben, sich einmischen zu müssen. Hauptsache, sie tun es – und für eine gerechte Sache.
Besonders die Anmerkungen zu den ‚Volontari‘ sprechen mir aus dem Herzen. Die Leidenschaft und der Wille zum ‚Einmischen‘ sind ja in Italien – wie auch in Deutschland – vorhanden. Aber man muß dafür auch die notwendigen politischen Strukturen schaffen, damit nicht alles wieder in Kurzatmigkeit und individueller Überforderung versickert. Im Übrigen scheint mir die Wahl von Vasco Errani zum Chef-Koordinator der ‚Wiederaufbauhilfe‘ nach dem Erdbeben in Armatrice ein vorsichtig hoffnungsvolles Zeichen zu sein. Er verfügt über viel Erfahrungen nach dem Erdbeben in der Emilia im Jahr 2012. Dass Savini ihn jetzt wieder als Mitglied der ‚Casta‘ zu denunzieren glaubt, zeigt nur den Grad an Verdummung innerhalb der ‚Lega Nord‘. Vielleicht schadet dieser laute Populismus ja auch der ‚Lega‘. Es wäre ein kleines Zeichen der Hoffnung für Italien.
Carl Wilhelm Macke ( München – Ferrara )
Neben den sicherlich treffenden Kommentaren zu Korruption und anderen Missständen, sollte man sich aber auch vergegenwärtigen:
Städte wie Wismar oder Stralsund mit historischem Stadtkern und bedeutendem Kulturerbe gibt es unzählige in Italien.
Nun stelle man sich einmal vor, die sowieso schon zur Renovierung und/oder Restauration bedürftigen dortigen Häuser, müssten eben nicht nur renoviert sondern auch erdebensicher umgebaut werden. In einem solchen Fall ist es politisch und rechtlich aus leicht nachvollziehbaren Gründen gar nicht leicht, derlei Maßnahmen flächendeckend umzusetzen. Zum einen, weil die größtenteils im privaten Besitz befindlichen Häuser eben auch mit privaten Mitteln oder, was wesentlich realistischer ist, mit öffentlichen Geldern plus privater Kreditaufnahme gefördert mischfinanziert werden müssen, was aber mit einer durch die EU-Kommission geforderten z.T. deflatorisch wirkenden Sparpolitik eher schlecht zu vereinbaren ist. Vor allen Dingen, wenn man bedenkt, wie hoch die öffentlichen Subvention in diesem Fall sein müssten.
Ein gesetzlich strenger Zwang Häuser z.T. mit Baujahren aus der Jahrhundertwende oder noch älter, würde wohl doch eher zum Abriss und Neubau führen. Und ob das so wünschenswert wäre, sei dahingestellt – zumindest sträubt sich etwas in mir gegen z.B. „Hafencity-Baustil“ in Italien, auch wenn es dort genügend andere Bausünden gibt.
Das heißt, das es überlegenswert wäre, ob eine solche Forderung nach einem erdbebensicheren Umbau der alten Gebäuden und Häuser, vielleicht nicht nur eine humanitäre sondern auch nachfragetechnisch gute Idee wäre. Dazu müssten man aber weg von gesamtwirtschaftlich falschen Denkweise, dass öffentliche Investitionen oder Bezuschussung per se etwas schlechtes seien und die heutzutage vorherrschend ist.