Turin: Hohe Haftstrafen für Thyssen-Manager

Nach einer neunjährigen gerichtlichen Odyssee hat das Turiner Kassationsgericht vor einigen Tagen die Verurteilung von sechs Managern und leitenden Angestellten des früheren Thyssen-Stahlwerks wegen eines schweren Falls von fahrlässiger Tötung bestätigt: neun Jahre und acht Monate Haft für den ehemaligen Geschäftsführer Harald Espenhahn, zwischen sieben und sechs Jahren für weitere fünf Manager (vier Italiener und ein Deutscher).

Sieben Tote nach Brandkatastrophe von 2007

In der Nacht zwischen dem 5. und 6. Dezember 2007 brach im Turiner ThyssenKrupp-Stahlwerk ein verheerendes Feuer aus. Sieben Arbeiter verbrannten qualvoll bei lebendigem Leib, nur einer überlebte die schweren Verletzungen. Das Werk stand damals kurz vor der Schließung, nur noch 180 Arbeiter arbeiteten in Tag- und Nachtschicht, manchmal sogar ohne Pause. Sie berichteten über ein Werk im „Auflösungszustand“, wo Kontrollen selten waren und an Sicherheitsmaßnahmen gespart wurde. Als in jener Nacht am Ofen 5 das rollende Band plötzlich ins Schleudern geriet und gegen entzündliche Materialien stieß, brach der Brand aus. Die Arbeiter griffen sofort zu den Feuerlöschern, doch die waren leer. Wegen der extrem hohen Temperaturen verbreiteten sich die Flammen in Sekundenschnelle und fraßen sich dabei auch durch die Schutzkleidung und das Fleisch der Arbeiter. Sie hatten keine Chance. Nur einer von ihnen, Antonio Boccuzzi, konnte dem Tod hinter einer Wand entgehen.

Der damalige Turiner Staatsanwalt Guariniello brauchte nur zwei Monate, um die Ermittlungen gegen die sechs Thyssen-Manager abzuschließen, so eklatant waren die Sicherheitsmängel. Nichtsdestotrotz versuchte die Firmenleitung zunächst alle Schuld von sich abzuwälzen. „Eine Verkettung unglücklicher Umstände“ sei die Ursache gewesen. Angesichts allzu evidenter Fakten mussten sie diese Behauptung allerdings später zurückziehen und „Fehler“ einräumen.

Vor dem Turiner Kassationsgericht

Vor dem Turiner Kassationsgericht

2008 beginnt der Prozess, der in erster Instanz drei Jahre dauert und 2011 mit dem Urteil endet: Tötung mit bedingtem Vorsatz. 16 Jahre Haft für Espenhahn, zwischen 13 und 10 Jahren für die übrigen fünf. In der zweiten Instanz korrigiert das Berufungsgericht das Urteil von bedingt vorsätzlicher auf erschwerte fahrlässige Tötung und senkt die Haftstrafen um einige Jahre. Das Kassationsgericht annulliert das Urteil, weil es die Strafen noch für zu hoch hält, und ordnet eine Wiederholung des Berufungsverfahrens an. Dieses endet 2015 mit den jetzt bestätigten Haftstrafen. Neun Jahre mussten die Angehörigen der Opfer warten, immer wieder gelang es der Verteidigung, den Prozess zu verzögern. Noch zuletzt hatten die Anwälte beantragt, das Verfahren ein drittes Mal an das Berufungsgericht zu verweisen, um eine weitere Reduzierung der Haftstrafen zu erreichen. Als sich auch die Staatsanwaltschaft dem Antrag der Verteidigung anschloss, brachen im Saal Tumulte aus: Angehörige und Freunde der Opfer weinten, schrien „Schande!“ und „Verbrecher!“ und verließen unter Protest den Saal. Das Kassationsgericht verwarf schließlich diesen Antrag und bestätigte die Entscheidung der zweiten Instanz endgültig.

„Sieg der Gerechtigkeit“ neun Jahre danach

Antonio Boccuzzi, einziger Uberlebende der Brandkatastrophe und inzwischen Abgeordneter der PD, fiel bei der Urteilsverkündung auf die Knie und brach wie befreit in Tränen aus. „Nach den Worten des Staatsanwalts waren wir entsetzt, aber das Gericht hat die richtige Entscheidung getroffen“ erklärte er. Das sei ein Sieg der Gerechtigkeit nicht nur für die Angehörigen, sondern auch im Namen aller Opfer, die ihr Leben auf der Arbeit verloren.

Die vier italienischen Manager haben sich sofort nach dem Urteil den Justizbehörden gestellt (nur einer nahm am Verfahren persönlich teil) und sitzen bereits in Haft. Gegen die zwei verurteilten Deutschen – Harald Espenhahn und Gerald Priegnitz – wird ein europaweiter Haftbefehl vorbereitet. Entsprechend den bilateralen Abkommen zwischen Italien und Deutschland müssen die Verurteilten die Haftstrafe in ihrem Heimatland verbüßen und zwar in dem Umfang, der dort für die Straftat vorgesehen ist. Die renommierten deutschen Anwaltskanzleien, die Espenhahn und Priegnitz vertreten, haben bereits angedeutet, dass dies auf eine drastische Haftreduzierung für ihre Mandanten hinauslaufen könne. Möglicherweise nicht mehr als fünf Jahre Haft, das sei nach deutschem Recht die Höchststrafe bei erschwerter fahrlässiger Tötung.

Deutsche Hauptschuldige hoffen auf Strafreduzierung

Wenn das zutrifft, würde es nicht gerade für die soziale Ausgewogenheit des deutschen Rechtssystems sprechen. Und zur absurden Situation führen, dass gerade diejenigen, die vom Gericht als Hauptschuldige erkannt wurden, am glimpflichsten davonkommen. Das mag juristisch korrekt sein, das Rechtsempfinden sträubt sich trotzdem dagegen. Von grundsätzlicher Bedeutung bleibt das Urteil des Turiner Kassationsgerichts dennoch, denn zum ersten Mal werden für tödliche Arbeitsunfälle nicht „unglückliche Umstände“ oder „kleine und mittelgroße Fische“ – Meister, Abteilungsleiter – zur Verantwortung gezogen, sondern die höchste Führungsetage.

Auch wenn die Fälle hinsichtlich der Schwere der Folgen nicht vergleichbar sind: Würde man beim VW-Emissionsbetrug den gleichen Grundsatz anwenden, wäre es für die Manager und Aufsichtsräte schwierig, die Verantwortung für die gigantische Betrügerei auf die unteren Chargen abzuwälzen, die angeblich ohne ihr Wissen handelten. Stattdessen kassieren sie weiter millionenfache Boni und sehen sich schon fast als Märtyrer, weil diese um ein paar Millionen niedriger ausfallen als sonst. Nun planen sie, Arbeiter zu entlassen – wegen einer „ungünstigen Geschäftsentwicklung“, die sie selbst verursacht haben.

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