Gutmenschen, Buonisti, Liberals

Es ist nicht leicht, einfach nur gut zu sein. Denn die Evolution – oder der Schöpfer, wem das lieber ist – hat uns nicht nur dank der Spiegelneuronen mit der Fähigkeit zur Empathie ausgestattet, sondern auch mit der Fähigkeit zur Reflexivität. Wir fühlen uns nicht nur gut, wenn wir etwas Gutes tun, sondern wir wissen auch, dass wir uns dann gut fühlen. Und tun vielleicht das Gute vor allem deshalb – und um von anderen bewundert zu werden. Also hat der Gute Grund zum Selbstverdacht: im Altruismus stecken auch Narzissmus und Selbstsucht. Dass ich mich trotzdem gelegentlich zur guten Tat aufraffe, liegt wohl nur daran, dass ich mich frage: Soll nun der arme XY darunter leiden, dass ich so reflexiv bin?

Ambivalenz des „Guten“

Die christliche Erziehung verstärkt den Selbstverdacht. Dass „Gutmenschentum“ schimpflich sein kann, erfuhr ich im Konfirmandenunterricht, als das Thema „Jesus und die Pharisäer“ dran war. Der Pharisäer ist der fromme Heuchler, der viel davon redet, dass er Gutes tut, aber nicht danach handelt. Oder er ist der Hochmütige, der Gott dankt, dass er etwas Besseres ist als der zerknirschte Zöllner neben ihm. Mit dem Gutsein ist es also so eine Sache. Man soll Gutes tun, aber nicht nur zum Schein, und angeben darf man damit auch nicht, sonst ist man eben doch nicht gut.

Seitdem bringt das Schimpfwort „Gutmensch“ etwas bei mir zum Schwingen, auch wenn sich sein Bedeutungshof erweitert hat. Ich könnte z. B. meinen Großvater einen „Gutmenschen“ nennen. Er war Lehrer an einem Gymnasium und schrieb Romane über Figuren der deutschen Geschichte. Die Romane sind vergessen, und ich glaube: zu Recht. Warum? Weil man ihnen anmerkte, dass ihr Autor ein guter Mensch war. Die erfundenen Dialoge, die dargestellten Charaktere, die beschriebenen Schicksale waren im Grunde todlangweilig. Wenn ich also meinen Großvater einen „Gutmenschen“ nenne, meine ich, dass seinen Figuren etwas fehlt: das Moment Ambivalenz, das Tüpfelchen charakterliche Fragwürdigkeit, das nötig ist, um solche Romane interessant zu machen. Zuviel Güte kann auch Flachheit bedeuten, ein aseptisches Wegwischen aller Widersprüche und kleinen Schmutzigkeiten, aus denen heraus nun einmal menschliches Handeln entsteht.

Noch ein weiterer „Gutmensch“ fällt mir ein: eine protestantische Theologin, die es in Deutschland zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat. Man kann nicht leugnen, dass sie Persönlichkeit hat: eine Mischung von ekstatischer Herzlichkeit und Verkündungsdrang, mit einem Schuss Selbstinszenierung. Sie ging mir auf die Nerven wie das jederzeit abrufbare Wort zum Sonntag. Dann kam ihr Absturz: Sie wurde nachts betrunken im Auto erwischt. Seitdem dies durch die Medien ging, denke ich anders über sie. Ich stellte mir plastisch vor, wie sie aus dem Auto gezogen wurde, und denke mit brüderlicher Zuneigung an sie.

Bin ich hier selbst der pathologische Fall? Ich denke, so besonders bin ich gar nicht. Zur Rede vom „Gutmenschen“ gehören eben zwei: Derjenige, dem unterstellt wird, vor allem an seinem eigenen Standbild zu arbeiten, und derjenige, der ihn von diesem Sockel wieder herunterholen will. Die Rede ist also vielschichtig: Sie fragt nicht nur, ob einer gut ist (oder es nur heuchelt), sondern urteilt über die Qualität des Gutseins (flach, naiv) und mutmaßt zugleich, welche Hintergedanken hinzukommen (Hochmut). Und freut sich schon auf den Absturz, auf ein Ende des „Gutmenschen“ möglichst weit unten, zumindest in meiner Nähe.

„Gutmenschentum“: Mantra der Rechten

Gerade diese Vielschichtigkeit scheint mir der Grund zu sein, warum die Beschimpfung „Gutmensch“ Karriere machte. Überall dort, wo moralische Argumente ins Spiel kommen, denen man sich entziehen möchte, öffnet sie den Weg zur einfachen Gegenattacke, weil sie Unterstellungen und Psychologisierungen erlaubt, die faktisch unwiderlegbar sind. Da die Linke oft moralisch daherkommt (soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte), ist diese Beschimpfung das Mantra der Rechten. Vor allem, als die Flüchtlinge kamen: Darmstädter Sprachwissenschaftler wählten 2015 den „Gutmenschen“ zum „Unwort des Jahres“, weil, so die Begründung, damit „insbesondere diejenigen beschimpft wurden, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen … Mit dem Vorwurf ‚Gutmensch‘, ‚Gutbürger‘ oder ‚Gutmenschentum‘ werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert“.

Rechte Reaktion auf das "Unwort des Jahres" (DWD Press)

Rechte Reaktion auf das „Unwort des Jahres“ (DWD Press)

In dieser Aufzählung steckt eine Steigerung, die der Begriff „Gutmensch“ nicht nur im Kopf der Sprachwissenschaftler, sondern auch in der Realität erlebt. Zunächst wurden die „Gutmenschen“ nur als weltfremde Naivlinge angegriffen, die die Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen, weil sie sich dabei selbst toll finden und nicht sehen wollen, wieviel Islamisten, Sozialschmarotzer und Frauenschänder sich unter denen befänden. So hörte man es auf den Montag-Demonstrationen der Pegida, so hörte man es von der Lega, wenn sie gegen die „Buonisti“ wetterte, welche den Flüchtlingen die norditalienischen Stadttore öffnen wollen. Als die Flüchtlinge trotzdem kamen, reichte dies nicht mehr aus. An die Stelle der „Naivität“ trat nun die unterstellte finstere Absicht, an die Stelle des freiwilligen Engagements die Verschwörung: Die Willkommenskultur komme nicht aus dem „Volk“ (das sind ja „wir“), sondern ist „von oben verordnet“. „Gutmenschen“ haben in Wahrheit „totalitäre“ Absichten, für deren „Durchsetzung sie alle Hemmschwellen abbauen“ würden, wenn man sie nur ließe (so ein Carsten Ostrowski aus der „Ev.-luth. Kommunität St. Michael“ in Cottbus).

Psychiatrisierung des Helfens

Die Front gegen das „Gutmenschentum“ internationalisiert sich und findet gerade einen neuen Dreh: Es wird zur Krankheit erklärt. Der Guru dieser Pathologisierung ist der amerikanische Psychiater Dr. Lyle Rossiter, der zur amerikanischen Tea-Party gehört. Er schrieb das Buch „The Liberal Mind: The Psychological Causes of Political Madness“ („Der liberale Geist. Die psychologischen Ursachen politischen Wahnsinns“). Zitate aus diesem Buch geistern seit einigen Jahren auch durch hiesige Internet-Foren, die es sich zur Aufgabe machen, das Gutmenschentum zu entlarven. Denn in den USA heißen die, die bei uns „Gutmenschen“ genannt werden, „Liberals“, und sie sind dort auch zu einem ähnlichen Feindbild geworden. Bekanntlich bekämpft die Tea Party Obamas gesetzliche Krankenversicherung bis aufs Messer, und Rossiter liefert ihr die Munition: Die Liberals/Gutmenschen, die solche Projekte verfolgen, seien psychisch krank, weil sie die Eigenverantwortung ablehnen und stattdessen allen Menschen eine widernatürliche wirtschaftliche und soziale Gleichheit aufzwingen wollen. An Argumentationen wie diesen wird auch bei uns gearbeitet, vor allem im Hinblick auf das Flüchtlingthema. Siehe den Dresdener Auftritt von Tatjana Festerling, die am 9. November vom Pegida-Podium aus verkündete, die Ursache unseres Gutmenschentums sei der Holocaust-Komplex. Deutschland gehöre auf die Couch, damit wir diesen Komplex endlich „loslassen“ können. Und alle daran hängenden Verkrampfungen und Tabus.

Ich wünsche allen „Gutmenschen“ und sonstigen Kandidaten für die geschlossene Anstalt frohe Ostern!

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