Renzi hat einen Stalker

Stell dir das klassische Schema einer Regierungskoalition vor, mit einem Mehrheitsblock in der Mitte und zwei „Flügeln“, einem linken und einem rechten. Beide haben Vorbehalte gegen ihre Mitte, aber machen trotzdem mit, weil sie zu schwach sind, um allein regieren, und zu stark, um übergangen zu werden – ohne sie hätte die Regierung keine Mehrheit. Dass es da öfter zu Auseinandersetzungen kommt, ist normal, ebenso wie es zum täglichen Brot der Führung gehört, mit den Flügeln immer neue Kompromisse zu finden, damit die Koalition zusammenbleibt.

So weit, so normal. Nun stell dir Folgendes vor: Aus dem Lager der Opposition spaltet sich eine Gruppe ab, um sich der Koalition zu nähern. Indem sie plötzlich bei jeder wichtigen Abstimmung mit der Koalition stimmt und verkündet, dies auch in Zukunft tun zu wollen. Ohne irgendetwas zu fordern: keine Aufnahme in die Koalition, kein Ministeramt, kein vergoldetes Dankeschön. Nur „aus Verantwortung für das Land“. Eine Geschichte wie im Märchen, wo es plötzlich vom Himmel Dukaten regnet. Müssten, wenn so etwas einmal wirklich geschähe, nicht alle – wie im Märchen – glücklich und zufrieden sein?

Überläufer aus dem Berlusconi-Lager

Damit komme ich zur italienischen Realität. In der es dies alles gibt: die von Renzi geführte Koalition, mit den zwei obligatorischen Flügeln, die PD-Linke und Alfanos Neue Rechte (die „Cattodems“ lasse ich beiseite), und seit Neuestem auch den Wundermann von der anderen Seite. Er heißt Denis Verdini und bringt aus dem anderen Lager 19 Senatoren mit, ein Drittel von Berlusconis einstiger Senatsfraktion. Die Truppe bildete sich im vergangenen Sommer, als Verdini bei der Abstimmung über die Senatsreform gegen Berlusconis Anweisung mit Ja stimmte. Noch mehr Aufsehen erregte er kürzlich bei der Abstimmung über gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Um seine Koalition zu disziplinieren, hatte sie Renzi mit der Vertrauensfrage verbunden. Alle anderen Abgeordneten, die nicht zur Koalition gehören, hätte er damit eigentlich vom „Ja“ abschrecken müssen. Aber auch hier entschied sich Verdinis Truppe fürs dieses „Ja“, als ob sie, wie nun alle Welt messerscharf folgerte, schon „dazu gehört“.

In der Koalition löste es nicht nur Freude aus. Aus zwei Gründen. Der eine liegt in dem, was man „Flügellogik“ nennen könnte. Und der zweite in Verdinis Person.

Nervosität der Linken

Um die „Flügellogik“ zu verstehen, muss man Verdinis Annäherung aus der Perspektive der PD-Linken sehen. Im Senat verfügt sie über etwa 25 Abgeordnete, was ihr bisher die Gewissheit gab, dass sie Renzi zum Durchbringen seiner Gesetze braucht, sich also mit ihr immer wieder ins Benehmen setzen muss, auch wenn sich die wechselseitige Zuneigung sehr in Grenzen hält. Wenn jetzt plötzlich Verdini mit knapp 20 Überläufern aus dem anderen Lager erscheint und der Regierung bei all ihren Vorhaben eine Art Blankoscheck ausstellt, verliert dieses Faustpfand, das die Linke hat, erheblich an Wert. Renzi kann zwar immer noch mit der eigenen Linken verhandeln, bevor er seine Gesetzesprojekte auf den Weg bringt. Aber er muss es nicht. Vor allem dann nicht, wenn ihr seine Projekte zu „rechts“ sind. Er steht sowieso im Verdacht, aus der PD, die sich bisher „mittelinks“ verortete, eine „Renzi-Partei“ machen zu wollen, die nur noch auf sein Kommando hört und vor allem ins Zentrum ausstrahlen möchte. Zwar versichern sowohl die „Renzianer“ als auch Verdini, seine Truppe (gegenwärtig!) nicht in die Koalition aufnehmen zu wollen. Trotzdem forderten jetzt einige Vertreter der Linken, nachdem auch Verdini Renzis letzter Vertrauensfrage zugestimmt hatte, fast hysterisch die sofortige Einberufung eines außerordentlichen Kongresses. Die Renziani reagierten höhnisch, die Linke sähe mal wieder „Gespenster“, und der alte Napolitano ergänzte, dass die Stimmen der Verdini-Gruppe bei der Vertrauensfrage doch nur „zusätzlich“ und nicht „ersetzend“ („sostitutivi“) gewesen seien.

Der Bürger Verdini

Der zweite Grund zur Aufregung ist Verdinis Person. Und die ist, freundlich ausgedrückt, vielschichtig. Von Haus aus Wirtschaftswissenschaftler, war er jahrelang Berlusconis Chefberater. In dieser Eigenschaft galt er als Spiritus rector des „Nazareno-Pakts“ zwischen Renzi und Berlusconi, der dem Land nicht nur das Wahlgesetz „Italicum“, sondern auch die Senatsreform bescherte. Als es sich aber Berlusconi im vergangenen Sommer wieder anders überlegt hatte und die Parole ausgab, die Senatsreform sei abzulehnen, geschah das Unerwartete: Verdini zeigte etwas ganz Neues, nämlich moralische „Kohärenz“.

Der kohärente Strippenzieher

Der kohärente Strippenzieher

Wer ihn kannte, rieb sich die Augen. Denn er war nicht nur in dieser Frage Berlusconis Chefberater gewesen, sondern auch in den Jahren zuvor, in denen das einzig „Kohärente“ die von Berlusconi angezettelte und gedeckte Korruption war. Verdini half nach Kräften, mit dem Ergebnis, dass er jetzt 5 Gerichtsverfahren am Hals hat (ein sechstes könnte hinzukommen), wegen Beihilfe zur Korruption, Bildung einer kriminellen Vereinigung, schwerem Betrug und betrügerischem Bankrott. So war er 2010 an der sog. „Loge P3“ beteiligt, laut Anklage eine „geheime Vereinigung“, deren Ziel es war, „eine große Anzahl von Straftaten wie Korruption, Amtsmissbrauch und illegale Finanzierung zu begehen“. Zum Zwecke der Erpressung legte sie persönliche Dossiers an und versuchte sogar Entscheidungen des Verfassungsgerichts zu manipulieren. Einige von Verdinis damaligen Komplizen (zu denen auch Mafiosi wie Cosentino und Marcello Dell’Utri gehörten) wurden schon zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Das Verfahren gegen Verdini kam allerdings erst jetzt in Gang, weil sich seine FI-Kumpels im Senat jahrelang geweigert hatten, seine Immunität aufzuheben.

Und dieser Verdini ist plötzlich „moralisch kohärent“ geworden? Aber halt ein, du Skeptiker, bevor du den Daumen nach unten senkst: Die italienische Heiligengeschichte ist voll von solchen Konversionen. Vom Missetäter, der hemmungslos sündigte und dann plötzlich zum Heiligen wurde. Meist ist ihm zwischendurch die Madonna erschienen, was alles veränderte und alles erklärt. Warum soll das nicht auch Verdini geschehen sein?

Begründetes Misstrauen

Für Verdinis Bruch mit Berlusconi gibt es aber auch eine prosaischere Lesart: Der alte Fuchs wittert, dass es mit Berlusconi abwärts geht und die Zukunft wohl eher bei Renzi liegt. Da zur ursprünglichen „Nazareno“-Verabredung zwischen Renzi und Berlusconi nicht nur die Senatsreform, sondern auch eine Justizreform gehört, ist es für Verdini von vitalem Interesse, im Spiel zu bleiben, um auf sie Einfluss nehmen zu können. Seine Ankündigung, von nun an allen Gesetzesvorhaben Renzis ohne Gegenleistung zuzustimmen, könnte dem klassischen Rezept folgen: erstmal nichts fordern, sondern sich nur unentbehrlich machen. Das Misstrauen der PD-Linken ist also nicht ganz unbegründet. Es geht hier nicht nur um ihr eigenes Gewicht in der PD. Sondern auch um die PD-Identität insgesamt.

Renzi trat einmal mit dem Versprechen an, der große „Verschrotter“ zu sein. Dabei ließ er integre Leute über die Klinge springen. Aber man konnte zumindest hoffen, er werde dabei die italienische Politik auch von Altlasten wie Verdini befreien. Andererseits möchte er mit seiner Partei ins Zentrum vorstoßen. Wo ihn jetzt ein Denis Verdini mit offenen Armen erwartet. Kann Renzi widerstehen? Die Antwort erfahren wir spätestens dann, wenn die Kandidaten-Listen der Parteien für die nächste Wahl aufgestellt werden. Die sind bekanntlich „erweiterungsfähig“.

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