Marinos Sturz, letzter Akt

Nun haben sie es also geschafft: Am 30. Oktober wurde der regierende Bürgermeister von Rom, Ignazio Marino, endgültig seines Amtes enthoben. Die Methode war auch für Italien einmalig: 26 der 48 Mitglieder des römischen Stadtrats, eines mehr als die absolute Mehrheit, erschienen an jenem Freitag beim Notar, um von ihrem Amt zurückzutreten und dies auch gleich beglaubigen zu lassen. Folge 1: Der Stadtrat war aufgelöst. Folge 2: Der Bürgermeister war sein Amt los. Letzteres war der Zweck der ganzen Prozedur, ohne dass es noch zu einer öffentlichen Diskussion kommen sollte. Zunächst hatte die PD gehofft, dass Marino, der ja eigentlich „ihr“ Mann war, von sich aus zurücktreten würde. Für sie wäre es der einfachste Weg gewesen. Marino hatte ja schon seinen Rücktritt eingereicht, aber ihn im letzten Moment wieder zurückgezogen. Lieber eine öffentliche Auseinandersetzung im Stadtrat und dann die Vertrauensfrage, erklärte er. Beides wollte die PD-Führung verhindern – sie wollte ihn weghaben, aber nicht im Kielwasser der Opposition ihrem eigenen Bürgermeister das Misstrauen aussprechen. Also blieb nur der Gang zum Notar, wobei man sich fragt, was erbärmlicher ist: die Feigheit vor der Öffentlichkeit oder die Schäbigkeit gegenüber Marinos Person. Von den 26 Ratsmitgliedern, die zum Notar gingen, gehörten 19 zur PD-Fraktion.

Viel Feind, viel Ehr‘

Damit war der Mann, der dazu beigetragen hatte, einen der größten Korruptionsskandale Roms aufzudecken, an einer relativ läppischen Affäre (vermutlich falsch deklarierte Quittungen über Abendessen) gescheitert. An seiner persönlichen Mitschuld gibt es keinen Zweifel, zumal er sich zuletzt auch noch in einem Netz von Halbwahrheiten und Ausflüchten verhedderte. Zum Schluss verschwieg er sogar seinen eigenen Mitarbeitern, dass die Staatsanwaltschaft wegen der Quittungsaffäre gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hat.

Der alte Bürgermeister ...

Der alte Bürgermeister …

Trotzdem enthält sein Sturz auch ein Moment von Tragik. Respekteinflößend ist allein schon die Zahl seiner Feinde, die er sich in seiner gut zweieinhalbjährigen Amtszeit gemacht hat. Das aus der Alemanno-Ära stammende Korruptionsnetz „Mafia Capitale“ hatte Mitspieler in allen Parteien, entsprechend vielstimmig war die Wut der Ertappten. Die römische Rechte hasste ihn, weil er ihr im Juni 2013 die Mehrheit im Stadtrat und das Bürgermeister-Amt entrissen hatte. Auch ein Teil seiner eigenen Partei (der PD) konnte ihm nicht verzeihen, dass er schon in den Vorwahlen die alten PD-Seilschaften aus dem Rennen geworfen hatte. Die „Grillini“ mussten ihn demontieren, weil er ihnen auf dem Gebiet Konkurrenz machte, das sie als ihre Spezialität betrachten: dem Kampf gegen die „korrupte Kaste“. Sie waren es, die ihm mit der Forderung, er möge doch mal seine Restaurant-Besuche genauer dokumentieren, das Genick brachen.

Aufrechter Gang auch gegenüber der Kirche

Was vielleicht am meisten über seinen Charakter verrät, ist sein Verhalten gegenüber der Kirche. Dass sich ein römischer Bürgermeister, der den Vatikan im Haus hat, mit ihr gut stellen muss, gehört zum ABC politischer Klugheit. Und tatsächlich suchte Marino, der gläubige Katholik, auch persönlich ein gutes Verhältnis zu Papst Franziskus, mit dem er von Amts wegen viel zu tun hatte und in dem er wohl auch eine Art Seelenverwandten sah. Schließlich war es jedoch Franziskus selbst, der ihn in aller Öffentlichkeit brüsk abservierte – der Grund ist immer noch ein wenig rätselhaft. Vielleicht war er auch für Franziskus ein allzu entschiedener Anhänger der Trennung von Kirche und Staat. Als ehemaliger Arzt setzte er sich bei den Themen Sterbehilfe und Patientenverfügung für von der Kirche abgelehnte Regelungen ein. 6 Wochen vor seiner Absetzung weihte er in der Hauptstadt einen „Martin-Luther-Platz“ ein – es gab katholische Organisationen, die darin einen gezielten Affront gegen das von Franziskus ausgerufene „Heilige Jahr“ sahen. Den größten Unmut dürfte er damit erregt haben, dass er 2014 damit begann, als römischer Bürgermeister gleichgeschlechtliche Paare zu trauen und in das städtische Register des Standesamts einzutragen.

Man kann sich vorstellen, dass ein Mann mit so kantigem Charakter auch in der PD-Zentrale auf Vorbehalte stieß. Einerseits war ihr Marino zu selbstständig, andererseits witterte sie, dass es mit ihm kein gutes Ende nehmen würde, obwohl sie eine Zeitlang versuchte, ihn durch beigeordnete Präfekten und Kommissare „einzuhegen“. Bis sie schließlich bei seinem Sturz selbst die Regie übernahm, indem sie ihre eigenen Abgeordneten zum Notar schickte. Seitdem erklärt Marino jedem, der es hören (und nicht hören) will, dass ihn die 26 „erdolcht“ hätten, wie einst Caesar. Und dass ihr Auftraggeber Renzi gewesen sei. Marino ist nicht pflegeleicht, eine Veranlagung zum Michael Kohlhaas scheint er auch zu haben.

Ein weiteres Problem für Renzi

Wer soll versuchen, Marinos Nachfolge anzutreten? Nach den Umfragen würde die PD bei Neuwahlen gegenwärtig in den Keller rutschen und die 5-Sterne-Bewegung haushoch gewinnen, was ihr im öffentlichen Ansehen zusätzlichen Schub geben würde. Dass jetzt von der Regierung erst einmal ein Kommissar eingesetzt wurde, der die Amtsgeschäfte des nicht mehr vorhandenen Stadtrats übernimmt, schafft der Regierung eine Atempause. Denn das „Heilige Jahr“ rechtfertigt die Verschiebung der Neuwahlen auf das Frühjahr 2016. Aber früher oder später wird es sie trotzdem geben müssen. Dafür müsste ein Kandidat (oder eine Kandidatin) gefunden werden, der die Quadratur des Kreises gelingt: ein Kandidat der PD zu sein und trotzdem nichts mit ihr zu tun zu haben. Denn in Rom ist die PD hoffnungslos desavouiert. Für wie desolat sie ihre Situation hält, zeigt eine Erwägung, die in den letzten Wochen offenbar ernsthaft in der PD-Führung diskutiert wurde: ein Bündnis mit Berlusconi, um als letzten Trumpf gegen die 5-Sterne-Bewegung einen Kandidaten namens Alfio Marchini zu unterstützen, der sich öffentlich rühmt, weder links noch rechts zu sein, aber schön und populär ist und einmal Kapitän der Polo-Nationalmannschaft war. Es wäre die endgültige Selbstabdankung der römischen PD.

... Ist das der Neue?

… Ist das der Neue?

Dann wäre noch eine zweite Frage zu beantworten: Soll es bei der Kandidaten-Kür wieder „Primarie“, d.h. Vorwahlen geben? Sie halfen der PD schon aus mancher Verlegenheit, wie z. B. in Mailand, wo schließlich Pisapia das Rennen machte, ein Außenseiter, der sich jedoch als Glücksfall erwies. Aber auch Marino wurde über „Primarie“ zum PD-Kandidaten – auch er ein Außenseiter, der dann völlig aus dem Ruder lief. Es gab Zeiten, da waren die „Primarie“ das demokratische Aushängeschild der PD. Renzi selbst hat dazu beigetragen, sie in Verruf zu bringen, obwohl er ihnen seinen eigenen Aufstieg verdankt. Die Kollateralschäden seiner Unfähigkeit, die eigene Partei zu führen, werden immer deutlicher.