Die europäische Tragödie, aufgeführt in Athen

Vorbemerkung der Redaktion: Wenn die „griechisches Krise“ etwas Gutes hat, dann ist es die nicht mehr aufzuschiebende Debatte darüber, wie es mit Europa weitergehen soll. Zwar gibt es in Deutschland immer noch Prediger des „Weiter so“. Wie z. B. Bernd Ulrich, der in der neuesten ZEIT fröhlich verkündet, Schuld an allem sei nur der „depressive Diskurs“, der alle erfasst habe. Eigentlich sei es doch schon in Spanien, Portugal, Irland und Italien „gut gelaufen“, da werde man mit Griechenland auch noch fertig werden. Die Union müsse nicht „tiefer“, sondern nur noch etwas „robuster“ werden. Wer (wie Habermas) eine engere Union wolle, sei ein „Finalitätsillusionist“. Etwas ernsthafter wird in Italien diskutiert. Wir bringen im Folgenden Auszüge aus einem Artikel, den Ezio Mauro am 7. Juli in der „Repubblica“ (deren Chefredakteur er ist) unter dem obigen Titel veröffentlichte. Bernd Ulrich hätte auch ihn dem „depressiven Diskurs“ zugeordnet.

Eine Krise der europäischen Konstruktion

Mauro beginnt seinen Artikel damit, dass Griechenland die „Krise der Konstruktion“ aufgedeckt habe, die sich Europa „in den sechs Nachkriegs-Jahrzehnten gab …, um sich vor den Versuchungen zu schützen, die hier entstanden sind und das vergangene Jahrhundert in Blut tauchten.“

Aber „dieses Modell einer Union funktioniert nicht mehr. Das Nottreffen, das sofort nach dem griechischen Plebiszit für das „Nein“ zwischen Merkel und Hollande anberaumt wurde, zeigt die europäische Impotenz. Welche souveräne Legitimität verkörpern beide Leader? Es ist eine Selbstinvestitur. Mit ihren beiden Ländern versuchen sie das Autoritätsvakuum zu füllen, in dem sich die Institutionen der EU befinden. Sie tun es ohne Mandat, außerhalb jeder Regel, nur von der alten Suggestion getragen, das französisch-deutsche Einverständnis sei der Motor Europas. Aber dieser Motor läuft nicht mehr.“

Das Ergebnis des Referendums war „voraussehbar … Auf der einen Seite stand eine neue Runde der Austerität; auf der anderen Seite die Möglichkeit, über den Grad dieser Austerität verhandeln zu können, in einem bereits erschöpften und dennoch reformunfähigen Land.“

Die Fehler von Tsipras

Scharfe Kritik an Tsipras. Mauro wirft ihm vor, mit Brüssel nicht bis zu dem Punkt verhandelt zu haben, an dem er für das Ergebnis eine Mitverantwortung übernehmen konnte – um es erst danach zum Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen. So sei er zwar im Sinne seiner Wahlversprechen „unschuldig“ geblieben, habe aber die Verantwortung auf seine Wähler abgeladen. Jetzt sei Athen „Konvergenzpunkt eines abenteuerlichen Haufens“: „alte und neue Rechte, wahre und falsche Linke, Nationalisten und Antikapitalisten, Lepenisten und Radikale, vereint von der schwarzen Legende der starken europäischen Mächte, welche die nationale Souveränität zerstören wollen… Was Tsipras heute Griechenland erzählt, ist identisch mit dem, was Berlusconi Italien erzählte, um seinen Sturz zu erklären: Die Schuld liegt immer woanders, bei einem äußeren Feind, der mit einer gigantischen Verschwörung auf der Lauer liegt. Um komplexe Situationen einfach zu erklären, so dass am Ende der Populismus die Krise heil übersteht“.

Die Fehler Brüssels

Aber auch die Brüsseler Fehler seien offensichtlich. „Zunächst die Methode: Man ließ das griechische Problem in Gipfeltreffen verrotten, die zu nichts führten, in einer unnützen Eurogruppe, in einer unproduktiven Telefondiplomatie. Kein Unternehmen, kein Land hätte es geschafft, ein Problem von so begrenzter Dimension zu einem Desaster für den ganzen Kontinent werden zu lassen. Noch schlimmer der Inhalt: Austerität kann funktionieren, wo es ein wiederherzustellendes produktives System, einen Staat, eine Ökonomie gibt. Und die Aussicht auf einen Wiederaufschwung, wenn die Finanzen wieder in Ordnung sind. Aber all das gibt es in Griechenland nicht. Die Austerität führte zu neuer Austerität, das Land erstickt unter einem Absturz des BIP um 25 %, die Arbeitslosigkeit ist (mit 26,5 %) die höchste Europas, die Jüngeren sind zu 50 % arbeitslos, die Renten fressen 14,4 % des BIP auf, die Geburtenrate sank von 10,6 im Jahr 2008 auf heute 8,6 Promille.
Europa wollte Athen Regeln geben, aber war unfähig, Griechenland eine Hoffnung zu geben. Es war kein Ziel in Sicht. Man zwang das Land unter das Diktat der Notwendigkeit, was keine Politik, sondern fast ein Aberglauben ist … So hat sich der eigentlich kleine griechische Fall – 2 % des BIP der ganzen Union, 3 % der Verschuldung – unverhältnismäßig aufgebläht und uns alle in die Sackgasse geführt: Von Europa spüren wir die Fesselung, ohne noch die Legitimität dieser Fesselung zu erkennen…

Der falsche Grexit

Aus verständlicher politischer Sorge und bürokratischem Selbsterhaltungstrieb könnte nun Brüssel die reale Krise des europäischen Statuts damit beantworten, dass es die Rechnung nur Athen bezahlen lässt. Mit einem kontrollierten Bankrott als warnendem Beispiel, um mögliche Rebellionen von morgen zu zähmen, Podemos in Spanien, Le Pen in Frankreich, Grillo und Salvini in Italien. Aber es wäre kurzsichtig, aus der Eurozone ein Land mit solchem politischen Symbolgehalt und solchen historischen Bezügen wegzuamputieren. Man würde geopolitische Schuld auf sich laden, wenn man Griechenland wieder in den Balkan zurückstößt und dem Appetit von Putin überlässt. Es wäre moralische Heuchelei, der Krise mit ‚humanitärer Hilfe‘ begegnen zu wollen und damit Griechenland in ein modernes Biafra im Herzen Europas zu verwandeln, als wenn es sich hier nur noch um ein karitatives und nicht um ein riesiges politisches Problem handelt.

Spinelli kämpfte für eine europäische Föderation

Spinelli kämpfte für eine europäische Föderation

Es wäre vor allem falsch, in Athen Heilmittel zu suchen, die nur aus Brüssel kommen können. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass mit dem griechischen Referendum die erste Phase der politischen und institutionellen Konstruktion Europas zu Ende ging. Eine durchaus rühmliche Phase, die den Frieden garantierte und auch Länder demokratisch inkludieren konnte, die aus Diktaturen stammten, welche den Weltkrieg überlebt hatten. Und sogar eine gemeinsame Währung. Heute entdecken wir, dass diese gemeinsame Währung nicht ausreicht, um Einheit, Zusammenhalt, nicht einmal Souveränität zu garantieren, weil eine Währung … keine Politik generiert. Es bedarf eines demokratischen Souveräns, der die Münze schlägt und sie politisch in den großen globalen Krisen repräsentiert, verteidigt und ausgibt, und dabei auch die europäische Stimme vernehmbar macht. Es bedarf eines Sprungs nach vorn in Richtung auf die Vereinigten Staaten von Europa … Mehr Europa und mehr Demokratie ist die einzige Antwort auf die griechische Krise, eine Antwort, die von einer Vision und nicht von der Angst geprägt ist, von politischem Sentiment und nicht von antipolitischem Ressentiment oder kalt-bürokratischen Rachefeldzügen aus Brüssel.“

Dazu könne auch Italien etwas beizutragen, wenn es sich z. B. an Altiero Spinelli erinnert (der sein Leben lang vergeblich für eine europäische Föderation kämpfte, die Red.). „Das wäre das Gegengift zu den wieder erwachenden roten und schwarzen Nationalismen.“ Und für die „Ambitionen Deutschlands“ wäre es die „Nagelprobe“.

Ein Kommentar

  • Wolf Rosenbaum

    Ein bemerkenswerter, ein sehr guter Beitrag.

    Dennoch ein paar kritische Anmerkungen.
    Zunächst wäre auf zwei falsche Zungenschläge hinzuweisen. Wollen da – wie in dem Beitrag unterstellt – einige Hardliner-Regierungen „Griechenland wieder in den Balkan zurückstoßen“? Steckt hinter dieser Formulierung nicht zu viel Verständnis für den griechischen Anspruch, als altes EU- und Euroland den erworbenen besseren Standard als die „Balkan“-Staaten im Südosten und Nordosten der Union abgesichert zu bekommen?
    Sodann: Dominierten in Brüssel „kalt-bürokratische Rachefeldzüge“ gegen Griechenland? Das ist eine unüberlegte Psychologiesierung der politischen Probleme der meisten Regierungen: Sie müssen in ihren Parlamenten Mehrheiten für eingegangene finanzielle Risiken und weitere teure Programme finden; ihre Bürger und Wähler dürfen sie vorsichtshalber schon garnicht um Zustimmung fragen.

    Sicher käme es innerhalb eines gemeinsamen Staates nicht zu einem „derartigen Desaster“, wenn man es mit einem vergleichbaren Problme in einer Region zu tun hätte. Aber wir leben in einer Union, in der weitgehend souveräne Staaten die Möglichkeit haben (und haben wollen), gewaltige Kredite aufzunehmen und diese weitgehend nicht nachhaltig zu verwenden; in dem äußerer Druck zum Sparen und Rückzahlungen aufgenommener Kredite als Verletzung der Souveränität gebrandmarkt werden, desgleichen alle Aufforderungen zur Reform der letztlich für die Krise verantwortlichen politischen und und sozioökonomischen Strukturen in ihrem Land.

    Die hier – wieder einmal – angebotene Lösung, derartigen Krisen vorzubeugen durch einen „Sprung nach vorn in Richtung auf die Vereinigten Staaten von Europa“ ist nicht nur derzeit unrealistisch. Er wäre auch keinesfalls „das Gegengewicht zu den wieder erwachenden roten und schwarzen Nationalismen“- ganz im Gegenteil. Ein vereinigter Bundesstaat Europa würde angesichts der tief verankerten nationalgesellschaftlichen Kulturen und soziopolitischen Systeme bei den Bevölkerungen zu einer noch größeren Entfremdung von den politischen Institutionen führen als die, die wir schon in den einzelnen Gesellschaften feststellen können. Der Versuch, die (noch vorhandene) Bindung der Bürger an ihren Staat auf die EU unzuleiten ist zumindest auf mittlere Sicht kein sinnvoller Weg. Im besten Fall führte er zu einer rein formalen, aber nicht zu einer materialen Demokratisierung.
    Das (bescheidenere) Ziel europäischen Reformpolitik sollte sein, eine besser funktionierende Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen. Wenn diese sich bewährt, indem sie für die Mitgliedsländer ökonomische und soziale Fortschritte zu schafft, bekäme die Europäische Union mehr Legitimität.

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