Der Eremit im Quirinal

Am Dienstag vor einer Woche hielt Sergio Mattarella seine Einführungsrede als neuer Staatspräsident. Sie wurde mit Spannung erwartet, denn bisher hielt sich Mattarella mit öffentlichen Äußerungen zurück. Man weiß, dass er, der eigentlich die wissenschaftliche Laufbahn ergreifen wollte, nach der Ermordung seines Bruders durch die Mafia in die Politik ging, wo er sich zunächst (als gläubiger Katholik) in der Democrazia Cristiana und später in der PD betätigte. 2008, als er 68 Jahre alt war, schied er aus der aktiven Politik aus, 2011 wurde er Verfassungsrichter. Nach dem Tod seiner Frau 2012 wurde das Verfassungsgericht auch sein räumlicher Lebensmittelpunkt – zuletzt wohnte er „wie ein Eremit“ in einer Dependance eben dieses Gerichts.

Zum politischen Establishment gehört er nicht mehr. So war seine Rede auch nicht die Ansprache eines Politprofis an die vor ihm versammelten Parteienvertreter, sondern eher die Rede eines Jura-Professors an das italienische Volk, um ihm die verfassungsmäßige Aufgabe der Politik und die eigene institutionelle Rolle zu erklären.

Es war eine leise Rede, ungewöhnlich in dem Parlament, in dem meist gelärmt und gebrüllt wird. Aber schon wenige Minuten nach Beginn stellten die Wahlmänner und –frauen ihre üblichen Nebenbeschäftigungen ein: Gespräche, Geraschel mit Papieren, Wühlen in den Taschen, Herumhämmern auf Tastaturen. Die Rede dauerte eine halbe Stunde, den Beifall mitgerechnet, der sie 42mal unterbrach. Sie wurde zu einer Lehrstunde über den nicht nur liberalen, sondern auch sozialen Geist der Verfassung, angewandt auf heute. Und in diesem Sinn auch zu einer politischen Rede.

Grenzziehungen

Mattarella in den Ardeatinischen Höhlen

Mattarella in den Ardeatinischen Höhlen

Schon vorher hatte er durch eine Geste klargemacht, dass er einen hinter der Verfassung stehenden Grundkonsens bewahren will: den Geist der „Resistenza“. Indem er unmittelbar nach seiner Wahl die Ardeatinischen Höhlen besuchte, in denen die Nazis 1944 über 300 Geiseln aus der römischen Zivilbevölkerung umgebracht hatten. In seiner Rede erneuerte er diesen Bezug, angesichts einer Rechten, die schon lange versucht, den Faschismus wieder hoffähig zu machen. Außerdem zitierte er zu Beginn seiner Rede noch einmal seinen Verfassungsauftrag, die Einheit Italiens zu repräsentieren. Dass er die Einheit zwischen Nord und Süd „unauflöslich“ nannte, richtete sich an die anwesende Lega Nord.

Ich erspare mir die Auflistung aller von ihm angesprochenen Themen, obwohl zu ihren stärksten und glaubhaftesten Passagen auch wieder die Aufforderung gehörte, dem Kampf gegen Mafia und Korruption höchste Priorität einzuräumen (zu den Eingeladenen gehörte der einschlägig vorbestrafte Berlusconi). Zu oft schon wurde dies beschworen, ohne dass sich etwas änderte. Stattdessen konzentriere ich mich auf Punkte, in denen Mattarella korrigierend – oder unterstützend – auf Renzi einwirken könnte.

Die auf Arbeit gegründete Republik

„Italien ist eine demokratische Republik, die sich auf die Arbeit gründet“, so Art. 1 der italienischen Verfassung. In diesem Geist sprach Mattarella die wachsende Armut und soziale Ungerechtigkeit an, die Arbeitslosigkeit vor allem der Jugend und im Süden, die Exklusion, Marginalisierung und Einsamkeit, an deren Überwindung – eine Mahnung an die Regierung – heute jede politische Agenda gemessen werden müsse. Während Renzi auf seine Fahne die „Leistungsgerechtigkeit“ schrieb (barmherzig ergänzt durch die „Solidarität mit den Letzten“), fordert Mattarella im Einklang mit der Verfassung mehr: die „gleiche soziale Würde“ aller Bürger. Dass in dieser Differenz Konfliktpotenzial steckt, zeigte sich bereits bei Renzis Jobs Act, dessen Kritiker ihm vorwerfen, mit dem aufgeweichten Kündigungsschutz die „soziale Würde“ der Beschäftigten in Frage zu stellen.

Mattarella argumentierte ebenfalls von diesem Verfassungskern her, wenn er Renzi in seinem Dauerkonflikt mit Brüssel (bzw. Berlin) unterstützt. Die finanzielle Konsolidierung müsse „auf europäischer Ebene von einer robusten Wachstumsinitiative begleitet werden“. Er sagte wohlbedacht „begleitet“, im Widerspruch zur Merkelschen Forderung, dass vor der Förderung des Wachstums erst einmal die „Hausaufgaben erledigt“ werden müssten.

Strukturreformen und Demokratie

Mattarella wird in einem Moment zum obersten Garanten der Verfassung, in dem Teile von ihr für Strukturreformen umgeschrieben werden sollen. In seiner Rede geht er hier nicht in die Details, aber bindet die Reformen an das Ziel, „den demokratischen Prozess zu stärken“. Das ist ein anderer Zungenschlag als der von Renzi, der vor allem die „Regierbarkeit“ Italiens im Auge hat. Womit der Flügel der PD, der beim geplanten Wahlgesetz verfassungsrechtliche Bedenken hat, einen vielleicht noch kritischeren Bündnispartner als Napolitano bekommt. Schon als Verfassungsrichter hatte Mattarella Berlusconis altes Wahlgesetz „Porcellum“ (Schweinegesetz) für verfassungswidrig erklärt, weil es der Regierbarkeit zu viel Demokratie opfert. Der erste Entwurf für ein neues Wahlgesetz, den Renzi mit Berlusconi verabredete, drohte diesen Fehler zu wiederholen – und wurde schon dementsprechend modifiziert

In einem Punkt meldet Mattarella offene Kritik an allen Regierungen an, auch an der von Renzi: an der Unsitte, dass die Regierungen die normale parlamentarische Gesetzgebung durch „Dekrete“ bzw. Ermächtigungsgesetze unterlaufen. „Das Erfordernis des Regierens muss mit dem Respekt gegenüber den prozeduralen Garantien für eine korrekte parlamentarische Dialektik ins Gleichgewicht gebracht werden“. Dies war schon Napolitanos Kritik. Bei Mattarella ist sie professoraler verpackt, jedoch kaum nachsichtiger.

Er zeigt sich nicht nur als Bewahrer. Es gebe eine „Krise der Repräsentanz“, bei der neue Formen der Partizipation an die Stelle ihrer traditionellen Formen treten. Hier macht er einen deutlichen Schritt auf die „Grillini“ zu, mit denen eine neue Generation ins Parlament eingezogen sei. „Mit ihrer Fähigkeit zur Kritik, manchmal auch Empörung, repräsentiert sie den Wunsch nach Veränderung. Gerade sie fordere ich auf, einen positiven Beitrag zu unserer nationalen Gemeinschaft zu leisten“.

Schließlich das schon oft missbrauchte Bekenntnis, das im Munde von Mattarella wieder etwas glaubhafter werden könnte: Die Entfernung der Italiener von den Institutionen könne nur überwunden werden, wenn die Politik sich wieder in den „Dienst am Gemeinwohl“ und nicht von Partikularinteressen stelle. Der Wunsch mag allzu erscheinen. Aber ein bequemer Staatspräsident wird Mattarella nicht. Auch nicht für Renzi, der seine Wahl durchsetzte.

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