Renzi – eine erste Bilanz

Matteo Renzi ist seit dem 22. Februar 2014 im Amt, eine erste Bilanz ist fällig. Zum Jahresende sollte sie abgewogen sein, aber da fängt schon das Problem an, zumindest mit meinen italienischen Freunden. Damit sie mir überhaupt zuhören, muss ich erst einmal versichern, dass mir der Mann von Herzen unsympathisch, ja widerwärtig ist.

Aversion

Unangenehme Pflichten erledigt man am besten sofort. Also gestehe ich, dass ich die Aversion nicht in allen, aber doch in einigen Punkten teile. Aus drei Gründen:

Erstens beruht sie auf Gegenseitigkeit. In den großen Topf seiner Feinde rührt Renzi auch die „Professoren“ hinein. Ich bin zwar keiner, aber dass er sie als kopfwackelnde „Gufis“ verhöhnt, weckt bei mir Reste von Solidarität. Der zweite Punkt ist seine Nähe zu Berlusconi. Seit Renzi 2010 dessen Einladung in die Villa Arcore annahm, gibt es da zu wenig Berührungsangste, auch für meinen Geschmack. Ähnlichkeiten sind vorhanden: Beide sind autoritär, populistisch, „Rampensäue“. Aber für die völlige Gleichsetzung fehlen Renzi doch noch einige Qualitäten: Berlusconis Vulgarität, Korruptheit, Vernichtungswillen gegenüber der Justiz. Der dritte Punkt ist Renzis nassforscher Umgang mit innerparteilichen Gegnern. Nicht nur, weil er seinen Aufstieg zum PD-Generalsekretär mit der „Verschrottung“ der gesamten alten Führung verband. Sondern vor allem wegen der Brutalität, mit der er seinen Vorgänger Letta ohne jede weitere Erklärung aus dem Amt drängte.

Aber obwohl ich weiß, dass man gerade bei Politikern nicht den „Stil“ vom „Inhalt“ trennen kann, möchte ich Renzi nicht nur daran messen. Sein Anspruch ist es, Italien zu reformieren.

Erschwerte Bedingungen, erstes Lehrgeld

Zunächst ist einzuräumen, dass er es unter erschwerten Bedingungen tut. Die letzte Wahl hinterließ drei etwa gleichgroße Lager, von denen das eine vor allem dem persönlichen Interesse eines Mannes dient und das andere sich jeder Koalition verweigert. Dank eines (von Berlusconi geerbten, inzwischen für verfassungswidrig erklärten) Wahlgesetzes verfügt Renzis PD in der Abgeordnetenkammer über die absolute Mehrheit, ist aber im Senat auf das Bündnis mit einer rechten Splitterpartei angewiesen. Trotzdem hat es Renzi bisher geschafft, das Heft des Handelns in der Hand zu behalten.

Aber auch er musste Lehrgeld bezahlen. Anfangs machte er jedem Arbeitnehmer ein Steuergeschenk von monatlich 80 €, unter anderem um die Wirtschaft anzukurbeln. Die Europawahlen gewann er damit, aber der Konsumeffekt blieb aus. Denn die „Beschenkten“ waren Spielverderber und steckten das Geld sofort in den Sparstrumpf. Auch der große Kommunikator Renzi ist kein Wunderheiler. Anfangs versprach er die monatliche Lieferung einer Großreform. Alle waren beeindruckt, aber inzwischen ist er vorsichtiger geworden. Nach 10 Monaten kann man resümieren: Einiges wurde begonnen, wenig beendet.

Der „Jobs Act“

Ihn kann man zum „Beendeten“ zählen, weil er bereits Gesetzeskraft erlangte. Er verspricht eine Reform des Arbeitsmarkts und ist sein Vorzeige-Projekt gegenüber Brüssel, auch weil er ihn nur gegen den härtesten Widerstand der Gewerkschaften und des linken PD-Flügels durchsetzte. Für die Arbeitgeber rollt er den roten Teppich aus: Zu Neueinstellungen werden sie mit radikalen Steuererleichterungen ermuntert, und mit Arbeitsverträgen, die mit dem Status jederzeitiger Kündbarkeit beginnen und dem Arbeitnehmer erst mit jedem weiteren Beschäftigungsjahr stufenweise mehr Schutz bieten. Insgesamt wird der Kündigungsschutz unter deutsche Standards gesenkt. Zum Ausgleich erhalten Gekündigte Anspruch auf Arbeitslosengeld und wird der Arbeitsplatz werdender Mütter sicherer.

Angesichts des gespaltenen Arbeitsmarkts und der desolaten Wirtschaftslage kann man den „Jobs Act“ für notwendig halten, auch wenn er Arbeitnehmerrechte opfert. Er entspricht dem neoliberalen Lehrbuch und bringt Renzi Streicheleinheiten von der EU, aber ob er Italien aus der Stagnation herausholt, bleibt ungewiss – sie hat ihre Ursache sicherlich nicht nur im Kündigungsschutz. Der „Jobs Act“ hat einen weiteren Schönheitsfehler: Was bisher verabschiedet wurde, war nur ein „Ermächtigungsgesetz“, das Handlungsfelder benennt und ihre Ausfüllung (durch Dekrete) der Regierung überlässt. Hier wurde das Parlament in einem sozialpolitisch zentralen Punkt zugunsten der Exekutive entmündigt. Für demokratische Spielregeln hat Renzi wenig Sensorium. Ihm geht es vor allem um „Regierbarkeit“.

Die institutionellen Reformen

Dies zeigen auch die noch nicht verabschiedeten institutionellen Reformen, die Renzi bisher auf den Weg brachte: Senatsreform und Wahlgesetz. Eine Senatsreform, die den „perfekten Bikameralismus“ überwindet, wäre in der Tat ein Segen. Allzu absurd ist die parallele Existenz zweier Kammern mit identischen Kompetenzen, in denen es unterschiedliche politische Mehrheiten geben kann – eine Quelle sich unendlich hinziehender Gesetzgebung, eine Einladung zu institutioneller Selbstblockade.

Renzi in offizieller Pose

Renzi in offizieller Pose

Zum Problem wird die Senatsreform im Kontext des neuen Wahlgesetzes – zumindest in dessen bisher von Renzi und Berlusconi verabredeter Fassung. Denn mit seiner Mehrheitsprämie und seinen hohen Hürden für kleinere Parteien dient es allzu einseitig der „Regierbarkeit“, zu Lasten des Prinzips, dass das Parlament auch die im Land gegebenen politischen Kräfteverhältnisse zu repräsentieren hat. Wenn ein Parlament mit derart verzerrter Repräsentanz auch noch sein einziges Gegengewicht, den Senat, verliert, wird die gesamte institutionelle Architektur auf „Durchregieren“ umgepolt. Noch ist hier keine endgültige Entscheidung gefallen – und ich kann den Verfassungsrechtlern der PD (den „Gufi“) nur wünschen, dass ihr beharrlicher Kampf für ein demokratischeres Wahlgesetz Erfolg hat.

Bis zu diesem Punkt also Licht und Schatten. Zwar ist es schon ein Fortschritt. dass überhaupt Strukturreformen angepackt werden, die bisherige Untätigkeit war erstickend. Aber ihr Erfolg ist noch ungewiss. Im Moment überbieten sich die Brüsseler Kommission, die gestrenge Angela Merkel und die Rating-Agenturen darin, dass dies alles „in die richtige Richtung“ gehe, aber „noch nicht ausreicht“.

Die übersehene Gefahr

Es gibt eine Lücke in Renzis bisheriger Bilanz, die sich auf ein sicherlich noch viel größeres Investitionshindernis als den „Artikel 18“ bezieht und für die demokratische Ordnung Italiens zur tödlichen Gefahr werden kann. Der Skandal, der in diesen Wochen Rom erschüttert, ist nur ein weiteres Glied in einer nicht endenden Kette ähnlicher Korruptionsskandale. Dieses Krebsgeschwür hat die gesamte italienische Politik kontaminiert, PD inbegriffen. Mit seinem bisherigen Durchregieren riskierte Renzi die Spaltung der eigenen Partei, aber was er dabei bisher „vergaß“, war ihre Erneuerung. Da genügt es auch nicht, dass er jetzt für die römische PD einen „Sonderkommissar“ einsetzt und bei Korruptionsdelikten schärfere Strafen und längere Verjährungsfristen plant. Als Generalsekretär ist er es, der für den Zustand seiner Partei die Verantwortung trägt. Dass sich an der letzten Regionalwahl in der Emilia Romagna, einer PD-Hochburg, nur noch 37 % der Wahlberechtigten beteiligten, ist ein Alarmsignal. Dort kam es in der letzten Zeit zu ähnlichen Korruptionsfällen. Was hierzu auf den ungültigen Wahlzetteln stand, sei unmissverständlich gewesen, berichten Beobachter.

Renzi steht nicht im Verdacht, korrupt zu sein. Aber gegen die Korruption tat er bisher zu wenig. Dabei muss jeder zuerst vor der eigenen Tür kehren. Dass Renzi hier bisher die Zügel schleifen ließ, könnte sich schon bald rächen. Wo nur noch ein Drittel zur Wahl geht, kann man sich auf keiner Mehrheit ausruhen.