Europa und die Emilia Romagna

Joschka Fischer hat vor ein paar Tagen in der „Süddeutschen“ Alarm geschlagen: Mit der Sparpolitik, die Angela Merkel den südeuropäischen Ländern aufzwingt, lösche sie den Brand Europas „mit Kerosin“. Eine reine Sparpolitik ohne Wachstum lasse den Menschen keine Alternative und treibe die nationalen Ökonomien nur noch tiefer in den Ruin, die Menschen zur Revolte und die Länder ins Chaos. Und werde letzten Endes eine Lawine auslösen, die ganz Europa – und damit auch Deutschland – unter sich begraben könnte.
 
Ich fürchte, er hat Recht, was auch die Drastik seiner Vergleiche rechtfertigt – die gegenwärtige deutsche Politik könnte Europa zugrunde richten. In Italien ist es noch nicht so weit. Aber auch hier könnte uns nun vorgeführt werden, wohin eine reine Sparpolitik führt.
 
Die Serie von Erdbeben, die gegenwärtig die Emilia Romagna heimsuchen, kostet nicht nur Menschenleben. Sie vernichtet oder beschädigt die materiellen und sozialen Netze, welche sich die Menschen in Jahrhunderten schufen. Nicht nur Häuser, Versorgungsleitungen, soziale Gemeinschaften, kulturelle Einrichtungen, Kirchen und Kunstwerke. Sondern auch Tausende von kleinen und mittleren Betrieben, von denen viele hoch spezialisiert sind und direkt für den Weltmarkt produzieren. Sie sind es, die den Wohlstand dieser Region begründen. Ein großer Teil der Menschen, die das Erdbeben in den vergangenen Wochen tötete, waren Arbeiter aus solchen Betrieben. Die z. B. zur Nachtschicht gingen, obwohl sie wussten, dass es gefährlich war – die Erdstöße, welche die (oft schlecht gebauten) Decken zum Einsturz brachten, kamen nicht ohne Vorwarnung. Aber die Arbeiter gingen trotzdem hin, weil sie ihre Arbeitsplätze behalten und ihre Betriebe schützen wollten.
 
Das Erdbeben erwies sich als übermächtig, die Menschen der Region zogen – vorerst – den Kürzeren. Der EU-Kommissar für Regionalpolitik, Johannes Hahn, der vom Hubschrauber aus die Schäden in Augenschein nahm, schätzt ihre Höhe auf etwas 5 Mrd. €.
 
Was müsste jetzt normalerweise geschehen? Noch steckt den Menschen die Angst in den Knochen, kampieren Hunderttausende im Freien, erinnern die täglichen Nachbeben daran, dass es keine Sicherheit gibt. Aber die Menschen weigern sich, ihre Gegend zu verlassen, auch wenn es woanders sicherer ist. Sie hängen an ihren Häusern und Dörfern, an den sozialen Netzen. Und an ihrem Arbeitsplatz, der ihre ökonomische Existenz sichert und der wiederum auf ihr Know-How angewiesen ist. Würde man ihnen die Gelegenheit geben, dies alles wieder aufzubauen, man könnte sicher sein: Sie würden sofort beginnen und dafür unerwartete Energien mobilisieren. Was fehlt, ist ein großzügiges Wiederaufbauprogramm, mit staatlicher Hilfe geplant und durch eine intelligente Mischung von langfristigen billigen Darlehen und verlorenen staatlichen Zuschüssen finanziert. Die Menschen könnten ihre Lähmung überwinden und ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände nehmen.
 
Aber wenn nun die Regierung aufgrund des Diktats aus Brüssel und Berlin nur sagen kann: Tut uns leid, wir haben kein Geld, Schuldenabbau geht vor? Dann nimmt man den Menschen das Letzte, was man ihnen nach dem Erdbeben noch nehmen kann: die Hoffnung. Dann wird aus Verstörtheit Resignation, dann werden bald viele Betriebe, deren Dach jetzt eingestürzt ist, vom Unkraut überwuchert sein, und werden aus beschädigten menschlichen Behausungen Orte der Verlassenheit. Wie heute das alte Zentrum von Aquila, das schon vor Jahren von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht wurde.
 
So ist unversehens die vom Erdbeben betroffene Emilia Romagna zum Beispiel für das geworden, worum es in Europa insgesamt geht: Nicht um die Rückkehr zu altem Schlendrian – dass jetzt auch Berlusconi in den Chor der Merkel-Kritiker einfällt, beweist nichts, nicht einmal, dass sie Recht hat (B. hat die gegenwärtige Krise durch Untätigkeit, Verharmlosung und populistische Steuerentlastungen mit herbeigeführt). Sondern um das richtige Gleichgewicht von haushälterischer Disziplin und Anreiz zum eigenen Handeln. Aufgabe der Politik ist es, dieses Gleichgewicht zu finden.
 
Angela Merkel hat jahrelang ungerührt dabei zugeschaut, wie Berlusconi die Axt an die demokratischen Wurzeln Europas legte und in Italien ein autoritäres und korruptes Regime zu errichten suchte. Ihre – zumindest bisherige – Haushaltspolitik könnte für Europa noch zerstörerischer sein. Die Emilia Romagna ist der Prüfstein: Wer hier jetzt allein auf Sparen setzt, zerstört sie nach dem Erdbeben zum zweiten Mal.