Kritik am grillinischen Verjährungsgesetz
Am 1. Januar trat ein Gesetz in Kraft, das die geltenden Regelungen über die Verjährung ändert. Das Gesetz, das auch „Spazzacorrotti“ (sinngemäß „Korrupte wegfegen“) genannt wird, wurde noch von der Vorgängerregierung von Lega und 5SB im Dezember 2018 auf Initiative des alten und neuen Justizministers Bonafede (5SB) beschlossen. Es sieht vor, dass es nach dem erstinstanzlichen Urteil sowohl bei Verurteilungen als auch bei Freisprüchen keine Verjährung mehr gibt.
Salvinis Lega, in der mehrere Mandatsträger selbst in Korruptionsverfahren verwickelt sind, stimmte damals der Neuregelung aus koalitionstaktischen Gründen zähneknirschend zu.
Für die 5SB ist die Änderung der Bestimmungen über die Verjährung ein altes Steckenpferd, sie sieht darin ein entscheidendes Instrument zur Bekämpfung der Korruption in der Privatwirtschaft, Verwaltung und Politik.Tausendfache Verjährungen schon vor Prozessbeginn
Tatsächlich „erledigen“ sich in Italien viele Straftaten immer noch einfach durch Verjährung. Im Jahr 2017 betraf es 126.000 Fälle. Davon waren 67.000 (ca. 60%) schon verjährt, bevor es überhaupt zum erstinstanzlichen Verfahren kam. Weitere 27.000 verjährten während der Verhandlungen in der ersten und weitere 28.000 in der zweiten Instanz.
Der Grund dafür sind – neben der extrem langen Dauer der Strafverfahren – in der Tat die zu knappen Verjährungsfristen. Es kann niemanden überraschen, dass es gerade Berlusconi war, der 2005 während einer seiner Amtszeiten die im europäischen Vergleich ohnehin kurzen Verjährungsfristen durch eine Gesetzesänderung „ad personam“ weiter reduzieren ließ. Bei mehreren gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren (u. a. Bestechung, Steuerhinterziehung, Förderung der Prostitution Minderjähriger, Abgeordnetenkauf) konnte er sich damit der drohenden Verurteilung entziehen.
Schon die Regierung Gentiloni (PD) hatte mit dem „Orlando-Gesetz“ (so hieß ihr damaliger Justizminister) die Bestimmungen geändert, indem sie Verjährungsfristen bis auf ca. 3 Jahre verlängerte (jeweils anderthalb Jahre nach der ersten und der zweiten Instanz) – allerdings nur bei Verurteilungen, nicht bei Freisprüchen.
Die 5SB jedoch, der das nicht reichte, beseitigte nach ihrem Regierungsantritt mit dem jetzt in Kraft getretenen „Spazzacorrotti“-Gesetz die 2017 eingeführte Reform und ersetzte sie durch einen generellen Verjährungsstopp schon nach dem erstinstanzlichen Urteil.
PD sucht nach Kompromisslösung
Die PD begegnet dem von der Vorgängerregierung „geerbten“ Gesetz mit Kritik. Es bestehe die Gefahr, dass sich durch das Entfallen der Verjährung schon nach der ersten Instanz die ohnehin lange Prozessdauer „ad infinitum“ ausdehnen könne. Und verweist darauf, dass die 5SB angesichts der veränderten Regierungskonstellation auch die Einwände der PD als neuem Koalitionspartner berücksichtigen müsse, die auf eine Revision des Bonafede-Gesetzes zielen.
Die PD hatte daher schon im Dezember einen eigenen Gesetzesentwurf auf den Tisch gelegt, der eine Art „Kompromiss“ zwischen dem davor geltenden Orlando- und dem grillinischen „Spazzacorrotti“-Gesetz sein sollte: Aussetzung der Verjährung für zwei Jahre zwischen erster und zweiter und für ein Jahr zwischen zweiter und dritter Instanz (allerdings nur bei Verurteilungen, nicht bei Freisprüchen). Gleichzeitig Maßnahmen, um zu einer allgemeinen Verkürzung der Prozessdauer zu kommen (ohne jedoch zu sagen, welche diese konkret sein sollen).
Renzis Gruppierung „Italia Viva“ ist bei der Ablehnung der Neuregelung noch rigoroser. Sie signalisierte bereits, sich auch dem Vorschlag von Forza Italia anschließen zu können, das neue Gesetz wieder abzuschaffen, denn „zwei Drittel des Parlaments“ seien dagegen. „Entweder kapiert Justizminister Bonafede, dass er die Regelung ändern muss, oder wir werden dem Gegenvorschlag von FI zustimmen. Denn die jetzige Regelung ist eine juristische Missgeburt“. Berlusconis FI hat angekündigt, im Falle des Beibehaltung des Bonafede-Gesetzes ein Referendum zu dessen Annullierung anzustreben.
Die Einwände gegen eine völlige Streichung der Verjährung nach der ersten Instanz sind berechtigt. Obwohl es zweifellos auch richtig ist, wenn die 5SB verhindern will, dass Straftäter sich dank schneller Verjährung einer Verurteilung entziehen,. Dies muss aber in eine Balance mit dem rechtsstaatlichen Prinzip gebracht werden, dass jeder Bürger Anspruch auf ein faires Verfahren innerhalb eines vertretbaren zeitlichen Rahmens hat. Wenn bereits nach dem erstinstanzlichen Urteil die Verjährung gänzlich gestoppt wird und ein Strafverfahren möglicherweise ohne jegliche zeitliche Begrenzung fortgeführt werden kann, würde das nicht zu mehr, sondern zu weniger Rechtssicherheit führen.
Das Prinzip von Gewichten und Gegengewichten
Die Unschuldsvermutung ist ein Prinzip, das nicht nur in der italienischen Verfassung (Art. 27: „Der Angeklagte gilt bis zu einer endgültigen Verurteilung als nicht schuldig“), sondern auch in verschiedenen internationalen Abkommen und im Art. 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist: „Jeder Mensch, der wegen einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist“.
Mir ist klar, dass in einem Land wie Italien, in dem Betrug, Korruption und organisierte Kriminalität massenhaft verbreitet sind und auch Teile der staatlichen Institutionen erfasst haben, eine „robuste Gegenwehr“ notwendig ist. Aber diese muss trotzdem – oder gerade deswegen – auf die konsequente Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze und Garantien setzen. Nicht auf deren Einschränkung. „Korrupte wegfegen“ klingt gut und ist sicherlich populär – auch bei denen, die selbst nichts dabei finden, zum eigenen Vorteil am Gesetz vorbei zu handeln: Steuern zu hinterziehen, schwarz zu beschäftigen, sich durch Beziehungen Privilegien zu sichern etc. Aber dies läuft Gefahr, das Vertrauen in demokratische und rechtsstaatliche Strukturen und Institutionen zu untergraben, statt es zu stärken.
In einem demokratischen Rechtsstaat kommt es – wie Staatspräsident Mattarella immer wieder beteuert – „auf ein System von Gewichten und Gegenwichten“ an. Klingt nüchtern und wenig begeisternd. Und ist zudem noch kompliziert. Aber es ist notwendig.
Eine Partei wie die 5SB, die aus der Verbreitung einfacher populistischer Botschaften entstand und ihre Probleme mit ihrer neuen Rolle als regierende Kraft hat, tut sich mit diesem Grundprinzip schwer. Gerade jetzt, wo sie sieht, wie ihr politischer Einfluss zurückgeht. Es wird sich bald zeigen – auch bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung um eine neu geregelte Verjährung – , ob sie überhaupt in der Lage ist, sich zu einer Kraft weiterzuentwickeln, die radikale Veränderungen mit rechtsstaatlichen Garantien und auch politischen Kompromisslösungen verbindet.
Aus Contes „anno bellissimo“ wird auch 2020 nichts
Am 7. Januar soll ein „Gipfeltreffen“ zwischen den Regierungsfraktionen stattfinden, um zu versuchen, in dieser Frage doch noch zu einer Einigung zu kommen. Dort wird sich zeigen, ob die 5SB zu einer Modifizierung des Bonafede-Gesetzes bereit ist, dessen Verabschiedung sie vor einem Jahr in gewohnter triumphalistischer Manier feierte. Tut sie das, wird es allerdings kaum aus gewonnener politischer Einsicht sein. Sondern aus Angst vor einer Regierungskrise und vor Neuwahlen in einer Phase, in der ihre innenparteilichen Turbulenzen immer heftiger werden: Mehrere ihrer Abgeordneten sind inzwischen zu anderen Fraktionen (Lega, Renzis Italia Viva, Gruppo misto, sogar zur postfaschistischen FdI) abgewandert, andere wurden wegen „nicht eingehaltener interner Verhaltensregelungen“ aus der Partei ausgeschlossen.
Die Perspektiven für die Regierung “Conte bis“ sehen zum Neujahrsbeginn weiterhin düster aus. Noch vor einem Jahr frohlockte der alte und neue Ministerpräsident „2019 sarà un anno bellissimo!“: Aber schon im August platzte die Koalition von Lega und den 5-Sternen. Unwahrscheinlich, dass er für 2020 noch einmal eine ähnliche Verheißung wagt.