Kritik der Verfassungsrechtler am „Premierato“

Die gegenwärtige Rechtsregierung möchte durchsetzen, dass in Zukunft der Ministerpräsident direkt durch das Volk gewählt wird – das Projekt, kurz „Premierato“ genannt, ist für Giorgia Meloni die „Mutter aller Reformen“. Die Umfragen besagen, dass auch das italienische Wahlvolk die Idee gar nicht so schlecht findet, denn was gibt es einfacheres und demokratischeres, als dass es seinen Regierungschef oder seine Regierungschefin direkt wählen kann, ohne das Dazwischentreten von Instanzen, die dabei ja doch nur ihr eigenes Süppchen kochen? „Direkt“ verheißt Einfachheit, unmittelbare Einflussnahme, Stabilität, starke Hand und schnelle Entscheidung, also all das, woran es der italienischen Demokratie in der öffentlichen Wahrnehmung bisher oft mangelt.

Aber es ist nicht immer einfach, das Einfache auch durchzusetzen. Noch ist Italien eine repräsentative Demokratie mit einer Verfassung und einem ausgeklügelten System von Vermittlungen, Gewichten und Gegengewichten, das sich nicht so schnell aus den Angeln heben lässt. In den letzten Tagen musste sich der Senatsausschuss für institutionelle Angelegenheiten, der wie alle Ausschüsse von der Rechtskoalition beherrscht wird, anhören, was vierzig Verfassungsrechtler und eine Reihe früherer Kammerpräsidenten zu dem von der Regierung vorgelegten Reformentwurf zu sagen haben. Nach allem, was man hört, scheint es vernichtend gewesen zu sein: Es würde „dem parlamentarischen System den Gnadenschuss geben“. urteilte beispielsweise der 80-jährige Gustavo Zagrebelsky, einer der Angehörten. der früher einmal Vorsitzender des italienischen Verfassungsgerichts war und seine jetzige Stellungnahme gleich an die Presse weiterleitete.

Das Wahlgesetz

Der Einwand der Verfassungsrechtler beginnt beim Wahlgesetz. Obwohl es eigentlich nicht in die Verfassung gehört, ist es Melonis Autoren des Reformvorhabens wichtig genug, um schon hier seine Grundzüge zu fixieren. Und die sind in sich widersprüchlich: Nachdem zunächst erklärt wird, dass es den Prinzipien der Repräsentativität und der Regierungsfähigkeit gehorchen muss – die bekanntlich in Spannung zueinander stehen -, gibt es dem Sieger oder der Siegerin im Wettbewerb um das Amt des Premiers die „Garantie“, dass seine/ihre Partei in beiden Kammern über 55 % der Abgeordneten verfügt. Hier beginnt der Widerspruch: In einem Land wie Italien, das nicht – wie Großbritannien oder die USA – politisch „bipolar“ geworden ist, sondern vielleicht vier oder fünf Parteiungen mit jeweiligen Kandidaten antreten, würde das heißen, dass hier schon eine relative Mehrheit von beispielsweise 25 % der Wählerstimmen genügen könnte, um den Premier zu stellen und im Parlament über die absolute Mehrheit der Abgeordneten zu verfügen. Dabei hat Italiens Verfassungsgericht schon 2014 entschieden, dass zwar eine Mehrheitsprämie mit der Verfassung vereinbar sei, aber nur in Verbindung mit einer vorher festgelegten Mindestgrenze für den Stimmenanteil, den der Wahlsieger bei der Wahl erreichen muss, und deren Höhe auch unter dem Gesichtspunkt der Repräsentativität der parlamentarischen Kammern festzulegen sei. Eine solche Mindestgrenze fehlt in Melonis Reformentwurf – bzw. schließt sie mit der versprochenen „Garantie“ sogar aus, denn die kann ja nur gegeben werden, wenn ihr keine zu erreichende Mindestgrenze in die Quere kommen kann. Was dem relativen Wahlsieger die Sicherheit gibt, sich auch ohne jede Repräsentativität auf absolute Mehrheiten stützen zu können.

Die Rolle des Staatspäsidenten

Eine solche „Verzerrung“ (distorsione) des Wählerwillens würde das gesamte System der repräsentativen Demokratie weitgehend außer Kraft setzen. Und zwar beginnend beim Amt des Staatspräsidenten, dem die Eltern der italienischen Verfassung eine eigene Rolle in diesem System zuweisen, indem sie ihn als „Schiedsrichter“ konzipieren, der über den Parteien steht, die Einheit des Landes repräsentiert und auf der Grundlage der Verfassung auf die Einhaltung der durch sie gesetzten Regeln achtet. Wenn nun künftig die Versammlung derer, die den nächsten Staatspräsidenten wählt, aufgrund der Mehrheitsprämie von einer Partei oder Parteienkoalition dominiert würde, bräuchte diese nur den vierten Wahlgang abzuwarten (ab dem zur Wahl die einfache absolute Mehrheit reicht, während vorher noch eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich ist), um „ihren“ Mann oder „ihre“ Frau durchzusetzen. Dass die regierende Rechtskoalition keine Hemmungen hätte, eine solche sich ihr bietende Möglichkeit auch tatsächlich zu nutzen, bewies sie schon, als ihr dazu noch die Macht fehlte: als sie bei der Präsidentschaftswahl im Januar 2022 den vorbestraften Silvio Berlusconi zu ihrem Kandidaten machte, dessen persönliches und politisches Profil das Gegenteil des überparteilichen Garanten war, den sich die Väter und Mütter der Verfassung als guten Staatspräsidenten vorstellten. Nach der Devise: Was scheren uns Qualifikation und Charakter, wenn es nur „einer von uns“ ist.

Nun versucht die Rechtskoalition ein Täuschungsmanöver: Sie behauptet, die Direktwahl des Premiers würde dem Staatspräsidenten kein Stückchen seiner bisherigen Kompetenzen nehmen. Eine schlichte Lüge: Nach gelungener Reform träte dem Staatspräsidenten, der sein Amt dann nur noch einer Partei verdanken würde, ein Premier gegenüber, der nicht nur zur gleichen Partei gehört, sondern auch „direkt vom Volk“ gewählt worden wäre – zum Beispiel würde das bisherige institutionelle Recht des Staatspräsidenten zum Ausrufen von Neuwahlen eingeschränkt, samt der Möglichkeit, den Premier durch moral suasion unter Druck zu setzen. Mattarella ist nicht der Grüß-Onkel, der sein Nachfolger werden soll.

Der Grund für den Täuschungsversuch ist leicht durchschaubar: Mattarella personifiziert nicht nur auf fast ideale Weise die Rolle, die ihm sein Amt zuweist, sondern ist auch höchst populär, und die Regierung möchte um jeden Preis vermeiden, dass es in dem Referendum, auf das ihre Reform wahrscheinlich zusteuert, auch um die Frage geht, wie man zu Mattarellas Amtsführung steht. Dies dürfte auch der Grund sein, warum die Rechtskoalition ihre ursprüngliche Absicht, nicht den Ministerpräsidenten, sondern den Staatspräsidenten „direkt“ wählen zu lassen, wieder aufgegeben hat – weil sie befürchtet, dass es auch hier beim Referendum zur Auseinandersetzung um die Person Mattarellas gegangen wäre.

Das Verfassungsgericht

Das italienische Verfassungsgericht hat 15 Mitglieder: 5 werden vom Staatspräsidenten, 5 vom Parlament und 5 von den obersten Gerichten benannt. Die Rechnung ist einfach: Sind nach der Reform die parlamentarische Mehrheit und der Staatspräsident „einfarbig“ geworden, wird sich auch im Verfassungsgericht eine entsprechende Mehrheit herstellen lassen – selbst wenn dies bei den vom Parlament zu benennenden Kandidaten etwas Mühe kostet, weil hier die Kandidaten zu ihrer Wahl einer Zweidrittel- bzw. Dreifünftel-Mehrheit bedürfen. Aber dies dürfte keine große Hürde mehr sein, wenn man schon über 55% der Abgeordneten verfügt.

Fasst man die Auswirkungen des neuen von der Rechten gewünschten Wahlgesetzes auf Parlament, Staatspräsidenten und Verfassungsgericht zusammen, erscheinen die Umrisse einer politischen Neuordnung, die in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts „Allineamento“ genannt wurde, ein Wort, das Gustavo Zagrebelsky mit dem deutschen aus der NS-Zeit bekannten Wort „Gleichschaltung“ übersetzt.

Aber noch ist das Verfassungsgericht nicht so zugerichtet, wie es sich die Rechte wünscht, zumal es vor wenigen Tagen sein verbrieftes Recht wahrgenommen hat, sich aus seiner Mitte jährlich einen neuen Vorsitzenden zu wählen. Diesmal fiel die Wahl auf Augusto Barbera, der genau den Anspruch verkörpert, welcher dieser Rechten schon immer zuwider war: dass es in einer Demokratie neben der Macht, die sich mit dem Volkswillen legitimiert, auch noch das Recht gibt. Berlusconi nannte die Repräsentanten dieses Rechts „rote Togen“, und im Fall von Barbera hätte er sie sogar zu Recht „Kommunisten“ genannt, denn der heute 85-Jährige war jahrzehntelang Abgeordneter der („eurokommunistischen“) KPI und ihrer Nachfolgepartei Pds. Heute sind es oft Nachfahren dieser KPI, die sich am entschiedensten gegen alle Versuche zur „Orbanisierung“ Europas wehren.

So hat sich denn auch Barbera gleich nach seiner Wahl zu Wort gemeldet, um eine erste verfassungsrechtliche Stellungnahme zu Melonis Reformvorhaben abzugeben: Erstens habe das Gericht die Aufgabe und das Recht, geplante Verfassungsänderungen daraufhin zu überprüfen, ob sie mit ihren „obersten Prinzipien“ vereinbar sind – es gibt Verfassungsänderungen, die schon deshalb verfassungswidrig sind, weil sie ihren Kernbestand verletzen. Und zweitens gebe das Urteil des Verfassungsgerichts von 2014, das – dem Prinzip der Repräsentativität für die Organe der Demokratie folgend – die Mehrheitsprämie an eine Mindestgrenze bindet. Noch hat das republikanische System Zähne, mit denen es sich verteidigen kann. Und die es nun zeigt.

Verführerische „Direktheit“

Aber die Auseinandersetzung ist damit noch längst nicht entschieden. Nach den Umfragen kann Meloni darauf zählen, dass derzeit 55% des gesamten italienischen Wahlvolks eine Direktwahl befürworten. Und dass die politische Opposition gegen die Reform fragiler ist, als es ihr gegenwärtiges „Nein“ erscheinen lässt: 60 Prozent der Anhängerschaft von Contes 5-Sterne-Bewegung, die man gerne noch der Linken zurechnet, sind ebenfalls für die Direktwahl des Premiers. Hier schlägt ihr populistisches Erbe durch: Sie wurde mit dem Versprechen groß, alle Vermittlungen der repräsentativen Demokratie per Mausklick überspringen zu können.

Es ist das alte Problem der repräsentativen Demokratie: dass sie auch dort, wo sie funktioniert, immer wieder die Sehnsucht nach einer Unvermitteltheit („Direktheit“) erzeugt, welche die repräsentative Demokratie nicht zu bieten vermag, und damit auch den Vertretern der autoritären („illiberalen“) Demokratie ihre Chance gibt.

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