Fälschung der Vergangenheit

Am 24. März 2023 erschien auf der offiziellen Internetseite der italienischen Regierung (www.governo.it) folgende Erklärung von Ministerpräsidentin Meloni:

„Heute ehrt Italien die Opfer des Massakers in den Ardeatinischen Höhlen. Vor 79 Jahren brachten die nazistischen Besatzungstruppen als Repressalie wegen des Partisanenangriffs in der Via Rasella auf barbarische Weise 335 Italiener um. Ein Blutbad, das unserer nationalen Gemeinschaft tiefe und schmerzhafte Wunden zufügte: 335 umgebrachte unschuldige Italiener, nur weil sie Italiener waren. Unsere Aufgabe ist es – die Aufgabe der Institutionen, der Zivilgesellschaft, der Schulen und Medien -, uns an jene Märtyrer zu erinnern und insbesondere der jungen Generation zu berichten, was sich an jenem schrecklichen 24. März 1944 zugetragen hat. Das Erinnern möge niemals nur eine rituelle Übung, sondern eine täglich zu erfüllende Bürgerpflicht sein“.

Wer die Erklärung flüchtig liest, könnte meinen: Dass die nazistischen Besatzer 1944 in Rom „auf barbarische Weise“ 335 Menschen umbrachten, ist historisch belegt – ein Verbrechen, an das sich nicht nur Italien, sondern auch Deutschland erinnern sollte, das dafür die Hauptverantwortung trägt.

Aber wer sich dann die Mühe macht, Melonis Erklärung nochmals nachzulesen, stolpert vielleicht über zwei Halbsätze: die „nationale Gemeinschaft“, die durch das römische Blutbad „tief“ verletzt worden sei, und dass die Opfer umgebracht wurden, „nur weil sie Italiener waren“.

Die nationale Gemeinschaft

Da ist zunächst der Rahmen, die „nationale Gemeinschaft“. Von ihr im Jahre 1944 nicht nur als einem frommen Wunsch zu reden, bedeutete viel Abstraktion von der Realität. Im Juli 1943 war zwar Mussolini nach zwei 2 Jahrzehnten Faschismus abgesetzt worden, aber noch nicht geschlagen. Nachdem die Alliierten im September 1943 in Süditalien gelandet waren und von dort das Land aufzurollen begannen, verwandelten sich die bisherigen deutschen Verbündeten in eine verbrecherische Besatzungsmacht, gegen die sich eine breit gefächerte Partisanenbewegung entwickelte und in der norditalienischen Industrie auch eine Streikwelle begann. Mussolini, den die Deutschen aus der Haft am Gran Sasso „befreit“ hatten, gründete am norditalienischen Gardasee mit deutscher Unterstützung seine letzte Bastion in Gestalt der Repubblica di Salò.

Das war also im Frühjahr 1944 die „nationale Gemeinschaft“: eine Bevölkerung, die in einem Landesteil unter alliierter und im anderen Landesteil unter deutscher Herrschaft lebte, und in der sich nicht nur deutsche Besatzer und italienische Partisanen, sondern auch italienische Faschisten und Antifaschisten bekämpften. Und die Form des künftigen Zusammenlebens völlig unklar war.

Das Massaker

In dem Punkt, dass die Ermordung der 335 am 24. März 1944 eine „Repressalie“ war, mit dem die deutschen Besatzer Roms auf ein Attentat italienischer Partisanen reagierten, hat Meloni recht. Der Hergang des Attentats ist bekannt: Am 23. März ließen Partisanen an einer römischen Kreuzung eine in einem Müllkarren versteckte Bombe und eine präparierte Mörsergranate explodieren, als eine Kompanie des der SS unterstellten Südtiroler Polizeiregiments „Bozen“ vorbeimarschierte. 33 Kompanieangehörige wurden getötet und etwa 60 verwundet, außerdem starben zwei italienische Zivilisten. Die marschierende Einheit war mit geladenen Gewehren, Handgranaten und einem Maschinengewehr ausgerüstet, weil die (deutschen) Offiziere mit einem Anschlag rechneten – der 23. März war der 25. Jahrestag der Gründung der faschistischen Kampfbünde „Fasci italiani di combattimento“.

Noch am Tag des Attentats beschlossen der Oberbefehlshaber der 14. Armee, von Mackensen, der Stadtkommandant von Rom, Generalleutnant Mälzer, und SS-Obersturmbannführer Kappler die Antwort: Für jeden getöteten deutschen Besatzungssoldaten sollen am Folgetag 10 italienische Staatsbürger exekutiert werden, also insgesamt 330 Männer. Kappler erbot sich, die Opfer in den Gefängnissen des SD (Sicherheitsdienst der SS) und der Wehrmacht aufzutreiben, ergänzte dann aber seine Todesliste noch durch 75 Juden, die auf ihre Deportation nach Deutschland warteten (zwei von ihnen waren gebürtige Berliner, die vor den Nazis nach Italien geflüchtet waren).

Die „Ardeatinischen Höhlen“ sind zwei im Süden Roms ineinander übergehende Sandsteinhöhlen in der Nähe der alten Via Appia. Zu ihnen wurden am Folgetag die Todeskandidaten auf Lastern gefahren und von 14 bis 19 Uhr jeweils in Fünfergruppen von der SS erschossen. Der SS-Offizier Priebke führte Buch, er zählte 335 Tote, fünf „mehr als nötig“. Am Eingang stapelten sich die Toten. Eine Kontrolle, ob alle tot waren, gab es nicht, stattdessen wurden abschließend die Eingänge zu den Höhlen gesprengt. Zwei Müllwagen kippten ihre Last vor den Eingängen aus, um auch dadurch Spuren zu verwischen. Die SS wusste, dass sie ein Kriegsverbrechen beging.

Nur weil sie Italiener waren?

Melonis Behauptung, dass die Opfer „nur“ deshalb umgebracht wurden, „weil sie Italiener waren“, wird durch die Details eines immer wieder durchleuchteten Hergangs widerlegt. Die meisten Opfer kamen aus den römischen Gefängnissen des SD und der Wehrmacht und waren Gegner des faschistischen Regimes und der deutschen Besatzung. Hinzu kamen 75 Juden, die auf ihre Deportation in die deutschen Todes-KZs warteten. Die italienischen Faschisten halfen mit: Da Kappler von sich aus nicht auf die erwünschte Zahl von 330 kam, bat er zwei Vertreter des Faschismus um Amtshilfe: Pietro Caruso. der zu diesem Zeitpunkt noch Chef der Polizei von Rom war, und Pietro Koch, der Chef der berüchtigten „Koch-Bande“. Sie setzten 50 Regimegegner aus ihrem Zugriffsbereich auf die Todesliste. Da Caruso nicht die alleinige Verantwortung übernehmen wollte, suchte er noch am Morgen des 24. März den Innenminister der Repubblica di Salò auf, Guido Buffarini Giuli, der sich zu dieser Zeit zufällig in einem römischen Hotel aufhielt. Auch er gab „grünes Licht“.

In Melonis Erklärung zum 24. März steckt also eine dreifache Geschichtsfälschung: Erstens suggeriert sie, dass es vor dem Massaker in den Ardeatinischen Höhlen in Italien eine eigentlich intakte „nationale Gemeinschaft“ gab, die nur eine Intervention von außen zerstören konnte. Es ist ein Reflex aller autoritären Regimes, die Ursachen innerer Konflikte zum Werk ausländischer Akteure zu erklären, um von sich selbst abzulenken. Zweitens lässt sie beim Benennen der Täter eine Lücke: Die nazistischen Besatzer fanden ihre Zuträger und Helfer auch in Rom, bei damals noch amtierenden Repräsentanten des Faschismus. Und drittens ist ihre Behauptung falsch, dass die Opfer des Massakers „nur“ unter dem Gesichtspunkt selektiert wurden, dass es „Italiener“ waren – das tat die deutsche Besatzungsmacht bei anderen Geiselerschießungen. In diesem Fall waren es vor allem Partisanen und Juden.

Meloni versucht die Geschichte so neu zu schreiben, dass es in ihr möglichst wenig gibt, wofür man eine eigene Schuld eingestehen oder sogar Verantwortung übernehmen müsste. Aus ihrer Sicht war man ja fast nie Täter, sondern fast immer nur Opfer. Den „Faschismus“ als oppressives System gab es für sie nicht (nur die Übernahme der nazistischen Rassengesetze war „von Übel“). Die neofaschistische Flamme brennt weiter im Logo ihrer Partei, der FdI.

La Russas Nachspiel

Dass Melonis Erklärung zum 24. März kein persönlicher Ausrutscher der Ministerpräsidentin war, sondern Teil einer gemeinschaftlich versuchten Geschichtsrevision, legt ein Interview nahe, das ihr Parteifreund Ignazio La Russa eine Woche später (am 31. März) gab. La Russa ist immerhin Senatspräsident, das heißt nach Mattarella institutionell die neue Nummer 2 im Staat. Auch er nutzt, wie Meloni, das Massaker in den Adreatinischen Höhlen als Aufhänger. Aber im Unterschied zu ihr behauptet er nicht, dass die 335 Opfer nur deshalb aus gesucht wurden, „weil sie Italiener waren“, sondern versucht, dem Anschlag der römischen Partisanen die moralische Legitimation abzusprechen: Erstens habe das Bozener Polizeiregiment, von dem bei dem Attentat 35 Mitglieder getötet wurden, nicht aus „finsteren SS-Nazis“ bestanden, sondern sei ja nur eine „Musikkapelle von Halbrentnern“ gewesen. Und zweitens hätten die Attentäter „sehr wohl gewusst, welcher Gefahr sie damit der römischen Bevölkerung aussetzten, ob sie nun antifaschistisch oder nicht war“.

Ein „musizierender Halbrentner“?

Lutz Klinkhammer, der deutsche Historiker, der am Deutschen Historischen Institut in Rom arbeitet und sich besonders auch mit der deutschen Besatzung Italiens beschäftigt hat, stellte in einem Interview mit der „Repubblica“ (vom 1. April) richtig: Abgesehen von den deutschen Offizieren habe Himmler diese Regimenter aus Südtirolern rekrutiert, die sich 1939 als Deutsche bekannt hatten, und sie der SS unterstellt, um sie als Mittel der Repression gegen Partisanen einzusetzen. Das Regiment sei am 24. März schwer bewaffnet gewesen, und das Durchschnittsalter der angeblichen „Halbrentner“ habe bei 35 gelegen.

Dass es La Russa vor allem um die Entlegitimierung der Partisanen geht, insbesondere der „roten“, zeigt der Zusatz, dass die „roten Partisanen bekanntlich kein freies und demokratisches, sondern ein kommunistisches Italien wollten, weil sie den Mythos des kommunistischen Russlands hatten“. Hier unterschlägt La Russa, dass der Militärausschuss des Komitees der Nationalen Befreiung (CLN), das alle relevanten antifaschistischen Kräfte umfasste, das Attentat vom 23. 3. 44 gebilligt hatte, und dass sich die KPI in den Folgejahren immer mehr vom „Mythos Russland“ zu entfernen begann.

Inzwischen hat sich La Russa für diese Einlassung entschuldigt, angeblich unter dem Druck von Giorgia Meloni. Zu einer ähnlichen Geste wegen ihrer eigenen Erklärung vom 24. März hat sie sich aber bisher nicht aufgerafft. Auf die Kritik an der Passage „nur weil sie Italiener waren“ antwortete sie: „Wieso, waren das nicht alles Italiener?“ Bei Bedarf stellt sie sich dumm.

Am 25. April hat Meloni eine Prüfung vor sich. Italien feiert an diesem Tag das „Fest der Befreiung“, und zwar die doppelte Befreiung von der deutschen Besatzung und vom Faschismus. Neben Staatspräsident Mattarella wird sie ihren Auftritt auf der Piazza Venezia am „Altar des Vaterlands“ haben. Und die ganze Nation wird zuschauen.

PS vom 3. April: In der heutigen Ausgabe der „Repubblica“ hat Ezio Mauro noch einmal die nachgereichte Entschuldigung des neuen Senatspräsidenten La Russa für seine Äußerungen zum Jahrestag des Massakers in den Ardeatinischen Höhlen kommentiert: Die Methode, erst einen provozierenden Schritt nach vorne zu gehen, um dann mit einer „Entschuldigung“ wieder einen halben Rückzug vorzutäuschen, sei ein bereits bekanntes Verfahren der extremen Rechten und ziele immer auf das Gleiche: „die Neutralisierung des historischen Faschismus, die Entlegitimisierung des Antifaschismus als grundlegende Erfahrung der Republik und des nationalen Wiedergewinns von Freiheit und Demokratie“. Hinter der „beharrlichen Weigerung, über die Natur des Faschismus ein historisches, moralisches und politisches Urteil abzugeben“, stehe die bewusste Absicht, „den Antifaschismus durch den Agnostizismus zu ersetzen, … als ob es am Faschismus noch etwas gebe, was bewahrenswert ist“. Zur Charakterisierung dieser Rechten könne man vielleicht auf den Namen zurückgreifen, den kürzlich Biden den entfesselten Trumpisten gab: „Halbfaschisten“.

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