Füreinander bestimmt?

Es ist noch keine Verlobung, aber doch ein deutlich gestiegenes wechselseitiges Interesse, das die Auguren vermelden, auch wenn da noch Widerstände zu überwinden sind. Er heißt Manfred, ist 50, kommt aus Bayern und ist der mächtige Strippenzieher der EVP. Und sie heißt Giorgia, ist 46, lebt in Rom, ist italienische Ministerpräsidentin und nebenbei auch Präsidentin der „konservativen“ Europapartei EKR. Was ihnen nicht in die Wiege gelegt zu sein schien, entdecken sie jetzt: dass sie vielleicht füreinander bestimmt sind.

Webers neues Projekt

Manfred Weber begann seine politische Laufbahn in der bayrischen CSU, zu deren Präsidium er noch heute gehört. 2004 ließ er sich in das Europaparlament wählen, als Mitglied der Fraktion der mächtigen Europäischen Volkspartei (EVP), zu deren Programm die Verteidigung christlicher Werte gehört. Da sich dieses Bekenntnis bei Weber mit einer kräftigen Dosis von prinzipienlosem Pragmatismus verbindet – wer die christlichen Werte verteidigt, braucht Macht, und für dieses Ziel kann man auch fünfe gerade sein lassen -, machte er auf der Europa-Schiene schnell Karriere und hat es inzwischen bis zum Fraktionschef und Parteivorsitzenden gebracht. In der EVP profilierte er sich dadurch, dass er lange (auch gegen Widerstände in der eigenen Fraktion) die Mitgliedschaft Orbans verteidigte.

Jetzt allerdings nimmt er Anlauf zu einem machtpolitischen Kurswechsel, der auch für ihn selbst mit Risiken verbunden ist. Denn im nächsten Jahr sind Europawahlen, die zu einer Veränderung der parlamentarischen Kräfteverhältnisse und zu einem Machtverlust der EVP führen könnten. Um seinerzeit Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin zu wählen, ging die EVP mit der sozialdemokratischen S&D und der liberalen Renew ein Bündnis ein (das sog. „Ursula-Bündnis“). Aber die Partner des damaligen Bündnisses stecken in Schwierigkeiten: Die Sozialdemokraten wurden durch den Brüsseler Korruptionsskandal, Renew durch die Krise Macrons geschwächt. Die EVP ist mit ihren 176 Abgeordneten zwar noch die stärkste Fraktion im Parlament, aber gilt dort als „überrepräsentiert“. Denn die extreme Rechte hat sich inzwischen in vielen Teilen Europas etabliert, auch zu Lasten der EVP.

Wende in der Bündnispolitik

Auch diesmal wird unmittelbar nach der Europawahl über die Präsidentschaft der Kommission entschieden. Zwar liegt hier das Vorschlagsrecht beim europäischen Rat und gilt die Wiederwahl von Ursula von der Leyen als „gesetzt“, aber das Parlament muss zustimmen. Und hier ist keineswegs sicher, ob das „Ursula“-Bündnis dafür nach der Wahl noch genügend Stimmen zusammenbringt. Auch Weber scheint an seiner Wiederauflage nicht allzu interessiert sein. Denn es gilt als eher „links“, während sich Weber bisher in guter CSU-Tradition eher nach „rechts“ zu öffnen pflegte. Außerdem hatte er 2019 gehofft, selbst Kommissionspräsident zu werden, bis damals Macron plötzlich mit von der Leyen eine Kandidatin aus dem Hut zog, die auch Merkel nicht ablehnen konnte. Gegenüber Ursula von der Leyen hat Weber Vorbehalte, die er aber vorerst nur indirekt zum Ausdruck bringt.

Aber Webers Pläne gehen weiter. Er strebt eine radikale Wende der Bündnispolitik der EVP an, bei der das alte Bündnis mit den Sozialdemokraten durch ein neues mit den Konservativen ersetzt wird. Wobei allerdings das Wort „konservativ“ in Anführungsstrichelchen zu setzen ist. Denn Weber meint damit die Fraktion der EKR („Europäische Konservative und Reformer“), die bisher mit 64 Abgeordneten im EU-Parlament vertreten sind und sich durch die Wahl erheblich vergrößern könnte. Dem Begriff „Konservativ“, den sie im Namen trägt, geben ihre Abgeordneten ihre eigene Prägung: Im Parteilogo der Fratelli d’Italia, deren Chefin die EKR-Präsidentin ist, brennt die Flamme von Mussolinis Faschisten, und zu ihren gehört auch die polnische PIS, die mit der klassischen rechtsstaatlichen Idee einer unabhängigen Justiz wenig im Sinn hat. Manfred Weber scheint über solche Kleinigkeiten hinwegzusehen – einigen Mitgliedern der EKR stellt er sogar die Aufnahme in die EVP in Aussicht. Wobei er vor allem die „Fratelli d’Italia“ im Auge hat, den neuen Kometen am Himmel der EU, der in einem europäischen Kernland zur größten Partei geworden ist.

Damit kommt Giorgia Meloni ins Spiel, die beides ist: italienische Regierungschefin und Präsidentin der EKR – für Weber als Demonstrationsobjekt, für andere ein Stolperstein. Webers geplante Wende stößt nicht nur bei den Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen auf Widerstand, sondern auch in der EVP selbst – sogar in Webers ursprünglicher politischer Heimat, der CSU.

Widerstände

Denn Weber durchbricht ein Tabu, das auch ein Markenzeichen der EVP war, solange sie sich als „Mitte“ oder höchstens „gemäßigt rechts“ präsentieren wollte. In diesem Sinn stellte Markus Söder, der im Herbst vor der bayrischen Landtagswahl steht, Weber Anfang Februar in einer CSU-Präsidiumssitzung zur Rede. Um hinterher (laut der Augsburger Allgemeinen vom 3. 2.) den Medien nach bayrischer Gutsherrenart eine „gute Klärung“ zu berichten: „Wir sind uns einig, dass eine Mitgliedschaft von anderen Parteien wie in Italien in der EVP ausgeschlossen ist. Das ist nicht vereinbar, das kann nicht sein, oder auch eine formelle Koalition kann auf keinen Fall gewollt sein“. Das sei auch Webers Meinung, basta. Bei Weber selbst klang das Ergebnis ein wenig anders: Es sei gut, „dass Söder anerkennt, dass Gespräche mit der italienischen Regierung jetzt wichtig sind und geführt werden müssen“, denn der Ukraine-Krieg und die Migrationskrise erforderten gemeinsames Handeln. Aus dem Umfeld von Weber kam die entscheidende Ergänzung: „Markus Söder spricht für die CSU, Manfred Weber für die gesamte EVP“. Das heißt: Weber macht seine eigene Politik.

Für seine Annäherung an Meloni lieferte Weber auch eine inhaltliche Rechtfertigung. Die EVP habe „drei fundamentale Prinzipien: pro Rechtsstaat, pro Europa, pro Ukraine“. Um dann anzuschließen: „Meloni ist bei Europa konstruktiv, steht an der Seite der Ukraine, und beim Rechtsstaat gibt es in Italien keine Probleme“. Das Interessante ist hier zunächst das Ungenannte: das Verhältnis zum Faschismus (das Meloni in der Schwebe lässt), zu den Menschenrechten (siehe die Migranten, welche die Meloni-Regierung zur Abschreckung im Mittelmeer ertrinken lässt), zu den Bürgerrechten (wenn sie nicht in Melonis Familienbild passen). Und bei den „drei Prinzipien“, auf die Weber alles reduziert, verhält er sich wie der Lehrer, der seinen Lieblingsschüler unbedingt durch die Prüfung bringen will: Wie „konstruktiv“ Melonis Verhältnis zu Europa ist, muss sich erst noch zeigen, das von ihrer Regierung erlassene Verbot der Registrierung von Kindern gleichgeschlechtlicher Ehepaare könnte sich als verfassungswidrig erweisen, und hinter dem Versuch, aus Italien eine Präsidialdemokratie zu machen, könnte die Hoffnung auf eine „Orbanisierung“ des Landes stehen. Dass Italien zu den wenigen europäischen Ländern gehört, die sich nicht an der Klage gegen Orbans systematische Diskriminierung von Menschen beteiligen, die er für „unnatürlich“ hält, scheint für Weber unerheblich zu sein.

Melonis Regierung im Fokus der EVP

In einer Zeit, in der die Rechte in ganz Europa an Macht gewinnt, hegt Weber offenbar die Hoffnung, mit der Öffnung der EVP Richtung Meloni auch die eigene Machtbasis konsolidieren zu können. Das Verhältnis zu Putin ist das Feigenblatt: Melonis Entscheidung, sich gegen den Widerstand ihrer beiden italienischen Koalitionspartner auf die Seite der angegriffenen Ukraine zu schlagen, bringt ihr nun auf europäischer Ebene die angestrebte politische Rendite: In der EVP ist es der Haupttrumpf derer, welche die Öffnung nach rechts wollen. Womit Meloni die Chance gegeben wird, ein paar Handicaps zu überspielen, mit denen sie die europäische Bühne betritt: das Kainsmal des „Postfaschismus“, die Bindung an Orban und an die polnische PIS, ebenso wie das immer offener zutage tretende Problem, den PNRR-Plan umzusetzen.

Webers Initiative hat Auswirkungen auf die italienische Regierungskoalition. Zunächst nimmt es dem Bündnis einer zur EVP gehörenden Partei (Belusconis FI) mit einer bisher als „ultrarechts“ geltenden Partei (Melonis FdI) den Charakter einer Anomalie (eine ähnliche Verbindung gibt es bisher nur in Schweden und Tschechien) und macht es zum Prototyp dessen, was in ganz Europa anzustreben ist. Dass Berlusconis FI in diesem Bündnis der „kleine Partner“ ist, legitimiert die geringere Zuwendung, welche ihm dabei die EVP zukommen lässt – die Eskapaden, die sich Berlusconi gegenüber Putin leistet, führten für die EVP-Spitze zur Absage einer in Neapel geplanten Tagung. Aber nicht zum Bruch – dafür ist Berlusconi zu irrelevant geworden, zumal er für Melonis Regierungsbündnis noch gebraucht wird.

Der eigentliche Verlierer des Zusammenspiels von Weber und Meloni ist Salvini. Denn als Kompensation für die Öffnung der EVP nach rechts scheint Weber nun umso stärker ihm gegenüber die „rote Linie“ zu ziehen. Es ist noch nicht lange her, dass Salvini seine Lega noch als natürliches Auffangbecken für Berlusconis zerfallende Forza Italia und als ernsthaften Kandidaten für eine Mitgliedschaft in der EVP sah. Ihm gegenüber wird nun das Putin-Kriterium zum politischen Fallbeil; Weber soll vor einigen Monaten sogar nach Rom gereist sein, um Meloni nahezulegen, anstelle von Salvinis Lega doch Calendas Terzo Polo in ihr Regierungsbündnis aufzunehmen. Meloni musste ablehnen – das Bündnis mit Berlusconi und Salvini war fest verabredet, der Terzo Polo zerlegt sich gerade wieder in seine Bestandteile. Aber hinter der Härte, die Meloni neuerdings gegenüber Salvini an den Tag legt, könnte auch die Rückendeckung der EVP stehen.

Von dem Paso doble, der gegenwärtig zwischen Straßburg und Rom aufgeführt wird, erhofft sich Weber einen Wiedergewinn verlorener Macht, wobei er in Kauf nimmt, dabei auch im eigenen Lager auf Widerstand zu stoßen. Und hilft damit Meloni aus ihrer europäischen Isolierung heraus.

Letzte Meldung: Am Montag veröffentlichte der Corriere della Sera ein Interview, in dem Weber „Solidarität“ mit Melonis Flüchtlingspolitik fordert, die er in den höchsten Tönen lobt. Nun müsse eine von der EU finanzierte Mauer um ganz Europa gebaut werden. Kein Wort über die Lager in Libyen, das Sterbenlassen im Mittelmeer, die Vertreibung der NGOs. Die EVP brachte am gleichen Tag eine Resolution ins EU-Parlament ein, die diesem Tenor entsprach. Noch fand sie dort keine Mehrheit.