Streitfall TAV

Die Planung für das Projekt, eine Hochgeschwindigkeitstrasse für den Schienenverkehr zwischen Turin und Lyon zu bauen, welche die mehr als anderthalb Jahrhunderte alte Strecke über Fréjus ersetzt, begann vor Jahrzehnten. Die EU nahm es 1994 in die Liste der 14 prioritären europäischen Transportprojekte auf, als Teilstück des „Korridors 5“ für eine Schienenverbindung von Lissabon bis Kiew. Sein Kernstück ist ein 57 Km langer Alpentunnel, der auch mit EU-Geldern finanziert werden soll. Da das Projekt in Italien von Anfang an auf Widerstand stieß, der sich – wie in Deutschland bei „Stuttgart 21“ – zu einer starken Bewegung auswuchs, ist es bis heute nur mühsam vorangekommen. Die Motive ähneln sich: Misstrauen gegen teure „von oben“ beschlossene Großprojekte und deren Profiteure, Vorbehalte gegen spektakuläre Eingriffe in eine noch intakt erscheinende Natur, Ängste vor gesundheitlichen Schäden (hier v. a. Lärm und Asbest). Ihren bisher größten Erfolg verbuchte die No-TAV-Bewegung (TAV = „Treno ad Alta Velocità“, Hochgeschwindigkeitszug), als im Dezember 2005 die Berlusconi-Regierung in der Nähe des Alpendorfs Venaus die Einrichtung einer neuen Baustelle für den TAV mit Polizeigewalt durchsetzen wollte, was 30.000 Demonstranten auf den Plan rief, die es verhinderten.

Zerreißprobe für die Koalition

Aufgrund der Vereinbarungen mit Frankreich und mit der EU steht die Frage des Weiterbaus jetzt erneut an, in dieser Woche wurden weitere Teilarbeiten ausgeschrieben. Woran sogar das Bündnis zwischen 5SB und Lega zerbrechen könnte. Der bisherige Koalitionsfrieden beruhte vor allem darauf, dass man sich beim Durchsetzen seiner jeweiligen Steckenpferde nicht in die Quere kam: Die 5SB verfolgte ihren „Reddito di Cittadinanza“, die Lega ihre Rentenreform, das einigende Band war die Front gegen die Migranten. Dieser Frieden hat nun ein Ende gefunden, denn es gibt ein Thema, das sich als zu wichtig erweist, um es beiseite zu schieben: Die Lega ist für den Weiterbau des TAV, die 5SB dagegen. Für beide Seiten steht dabei einiges auf dem Spiel.

Schon als die Lega noch zur Berlusconi-Koalition gehörte (und „Lega Nord“ hieß), förderte sie das TAV-Projekt. Sie legt Wert auf gute Beziehungen zur norditalienischen Geschäftswelt, und die ist nun einmal für das Projekt. Zumal die Lega auch etwas beweisen muss: Sie ist nationalistisch, souveränistisch und identitär, aber (wie z. B. die Saudis) in Fragen des Geschäfts durchaus „modern“, d. h. will den italienischen Norden nicht gegen den Rest Europas einmauern. Als Mitte Januar in Turin eine Pro-TAV-Kundgebung mit ebenfalls 30.000 Menschen stattfand, war die Lega dabei.

Für die 5SB geht es bei ihrer Gegnerschaft sogar, wie sie selbst sagt, um die Identität. Denn sie, die sich bisher eher als „Bewegung“ denn als Partei sah, ist mit den No-TAV-Protesten groß geworden. Grillo rühmt sich noch heute, 2010 bei einem Besuch eines Besetzer-Camps vor laufenden Kameras das Amtssiegel einer beschlagnahmten Besetzer-Hütte aufgebrochen zu haben, was ihm eine Gefängnisstrafe von 4 Monaten einbrachte (die er wie einen Orden vor sich herträgt, obwohl sie ihm, was er gern unterschlägt, zweitinstanzlich wegen Verjährung wieder erlassen wurde). Umso lautere „Verrat“-Rufe sind zu erwarten, wenn die Grillini jetzt für die Fortsetzung des Projekts auch nur den kleinen Finger reichen. Zumal sie in ihrem Bündnis mit der Lega sowieso das Problem haben, immer mehr an Profil zu verlieren. Schon dass sie Salvini in der „Diciotti“-Affäre vor dem eigentlich fälligen Gerichtsverfahren schützen, bedeutet für viele Anhänger die moralische Selbstaufgabe. Umso mehr muss Di Maio zeigen, wenigstens in der No-TAV-Frage nicht zurückzuweichen. Was alle Welt vermuten ließ, dass es hier zu einer Art Kuhhandel kam: Wir, die 5SB, helfen dir, Salvini, gegen die Strafverfolgung, dafür tolerierst du unseren Stopp des TAV-Projekts. Das Problem ist nur, dass sich Salvini nicht an diesen Handel hält. Was sich Salvini leisten kann, denn bei einem Bruch der Regierungskoalition hätte die 5SB mehr zu verlieren als die Lega.

Taktische Manöver

Damit hat die Koalition ihre Sollbruchstelle, und man kann die taktischen Windungen besichtigen, mit denen sie sich vor dem Showdown zu retten versucht. Das Taktieren begann schon vor einem Jahr beim Abfassen des Koalitionsvertrags, der die Grundlage der Regierungsarbeit bilden soll. Nachdem dort im ersten Entwurf noch zu lesen war, dass man alle Arbeiten am TAV-Projekt „suspendieren“ wolle, bekräftigte die Endfassung nur noch die Absicht, das Projekt „bei der Anwendung des italienisch-französischen Abkommens noch einmal insgesamt neu zu diskutieren“. Eine unklare Formulierung, die den Dissens notdürftig verdeckt: Einerseits soll das italienisch-französische Abkommen nicht aufgekündigt, sondern höchstens anders „angewandt“ werden (was die Lega zufrieden stellte), andererseits soll das Projekt doch „noch einmal neu diskutiert“ werden, und sogar „insgesamt“, was der No-TAV-Bewegung die Hoffnung lässt. Die Schlüsselfrage, ob nun die Arbeiten am Projekt wieder aufzunehmen seien oder nicht, wurde nicht einmal mehr gestellt.

Ein Stück schon gebauter Tunnel

Ein Stück schon gebauter Tunnel

Heute ist klar, dass sich die beiden Koalitionäre damit einen Sprengsatz ins Nest legten, von dem sie vielleicht anfangs nur dachten, es könnte ein Knallfrosch sein. Je mehr sich jetzt die Anzeichen mehren, dass er auch zur Bombe werden könnte, desto hektischer werden die Versuche, ihn noch im letzten Moment zu entschärfen. Zunächst versuchte Di Maio, der erhofften Beerdigung des TAV-Projekts einen „wissenschaftlichen“ Anstrich zu geben. Also berief er eine Kommission von „Experten“ ein, um eine „objektive“ Kosten-Nutzen-Abwägung vorzunehmen. Sie kam zum gewünschten Ergebnis – der Nutzen des TAV-Projekts werde ein paar Milliarden Euro unter seinen Kosten liegen –, aber es hatte ein paar Schönheitsfehler: Das Ergebnis war nicht einstimmig, obwohl Di Maio vor allem Leute in die Kommission berufen hatte, die sich schon vorher als TAV-Gegner geoutet hatten. Hinzu kam die Grundsatzfrage, inwieweit sich eine politische Entscheidung auf ein ökonomisches Kalkül herunterbrechen lässt: Die Abwägung berücksichtigt zwar zu erwartende Rückzahlungen, aber wie bewertet man z. B. den Wunsch vieler Piemonteser, schnell ins Nachbarland zu kommen, oder den politischen Schaden, der angerichtet wird, wenn ein Abkommen mit einem Land einseitig aufgekündigt wird, das mit seinem Teil der Arbeiten schon begonnen hat?).

Seitdem klar ist, dass sich Salvini mehr für die 30.000 Turiner Demonstranten als für Di Maios Kommission interessiert, befindet sich die italienische Regierung im Krisenmodus. Wieder einmal sollte Conte die Lösung finden, der jedoch nur verkündete, dass er mehr Zeit brauche, weil sich die Koalition in der TAV-Frage „in einer Pattsituation“ befinde. Die zu gewinnende Zeit reicht am besten bis zu den Europawahlen, denn bis dahin darf aus dem langsamen Wegbröckeln der 5SB-Anhänger kein Erdrutsch werden. Angesichts der leider nicht mehr zu verschiebenden Termine für die neuen Ausschreibungen hatte Di Maio noch vor ein paar Tagen die Idee, dass man ja mit diesen Ausschreibungen beginnen könne, aber in die Formulare nur hineinschreiben müsse, dass die Vereinbarungen noch ein halbes Jahr wieder kündbar seien. Um bis zu den Europawahlen der eigenen Anhängerschaft verkünden zu können, dass Italien für den TAV „definitiv“ noch keinen einzigen Euro ausgegeben habe.

Die letzte Bastion: der „Mini-TAV“

Das ist jetzt der letzte Rettungsanker: Für die Trasse, die auf der italienischen Seite zum Tunnel führt, könne es eine Streckenführung geben, die ein paar Milliarden weniger kostet. Und die man deshalb auch gleich, wenn auch beschönigend, „Mini-TAV“ nennt. Für Di Maio wäre es eine Planänderung, die ihn vielleicht das Gesicht wahren lässt – sein bisheriges Nein war nicht ganz umsonst gewesen. Für die No-TAV-Bewegung wäre es trotzdem eine Niederlage, die ihr auch das „Mini“ nicht versüßt. Denn ihr Schlachtruf war, dass das ganze Projekt verhindert werden müsse. Dessen Kernstück, der Tunnel durch die Alpen, würde auch beim „Mini-TAV“ gebohrt.

Die Deutschen werden sich an einen ähnlichen Konflikt erinnern, der kaum weniger lösbar erschien: „Stuttgart 21“. Die grünrote Landesregierung von Baden-Württemberg besaß damals die Weisheit, dazu eine Volksabstimmung durchzuführen. Ähnliches wird nun auch zur Lösung des TAV-Konflikts vorgeschlagen – aber die 5-Sterne-Führung scheint sich dafür nicht erwärmen zu können. Spätestens seit der Turiner Pro-TAV-Demonstration ist klar, dass das Ergebnis auch anders ausfallen könnte, als es sich die No-TAV-Bewegung erhofft. Dann lieber keine Volksabstimmung, ist deshalb die Devise. Womit sich ganz nebenbei weiter klärt, was die 5SB-Führung unter „direkter Demokratie“ versteht: Demokratie für die eigenen Mitglieder, fürs eigene Volk. Und das auch nur, wenn es die Führung für opportun hält.

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