Gewerkschaften in der Defensive

Als Präsident des italienischen Arbeitgeberverbandes Confindustria kann sich Giorgio Squinzi einiges erlauben. Dazu gehört die Breitseite, die er Ende Juli ausgerechnet beim Mailänder Unità-Fest gegen die Gewerkschaften losließ: „In Italien ist die Gewerkschaft … ein Faktor des Rückschritts, der die Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit des Landes behindert“. Squinzi bezog sich auf einen Konflikt bei Elektrolux, wo das Unternehmen die Belegschaft zu einer Sonderschicht am 15. August aufgefordert hatte, also an dem Feiertag („Ferragosto“), der für einen Italiener fast genauso heilig ist wie Weihnachten. Die Gewerkschaft war dagegen. Aber da ihr darin die betroffene Belegschaft nicht folgte, fand die Sonderschicht statt. Für die Gewerkschaft war es eine Schlappe, für Squinzi die Gelegenheit zum Generalangriff. Ohne ein Wort über die Verantwortung zu verlieren, welche die italienische Unternehmerklasse für den Produktivitätsrückstand ihrer Industrie trägt.

Auch Renzi will den Einfluss der Gewerkschaften zurückdrängen. Sein politisches Vorbild ist Tony Blair. Alle Überreste einer Konzertierten Aktion, die es einmal auch in Italien gab und bei der die Regierung vor sozialpolitischen Entscheidungen die Sozialpartner hörte, hat er mit großem Geschepper zum Alteisen geworfen. Seinen „Jobs Act“, der den Unternehmern unter anderem das Kündigen leichter macht, setzte er gegen die Gewerkschaften durch. Sein Dauerkonflikt mit der eigenen Linken hat auch hierin seinen Grund.

Aber es liegt nicht nur an der Politik Renzis und der Arbeitgeberverbände, dass den italienischen Gewerkschaften der Wind ins Gesicht weht.

Exodus der Intellektuellen

Was sich Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre in Deutschland linke Studenten unter der „Arbeiterbewegung“ vorstellten, war oft das Produkt ihrer Phantasie. Ihre real existierende Form, die deutsche Gewerkschaft, beflügelte sie nicht. Im Unterschied dazu entwickelte sich in Italien eine soziale Bewegung, die nicht nur die politische Spaltung der Gewerkschaften zu überwinden, sondern auf eine Transformation des Kapitalismus in eine gerechtere Gesellschaft hinzusteuern schien (dass sich beides später als Illusion erwies, ist eine andere Geschichte). Und dies alles eingebettet in den Charme einer noch intakten musikalischen Volkskultur, die zwischen Arbeitern und Intellektuellen eine emotionale Brücke schlug. Zwar gerieten auch in Italien viele politisierte Intellektuelle in Konflikt mit ihrer „linken“ Partei (in Italien also mit der KPI). Aber zumindest in den Gewerkschaften schienen sich noch Möglichkeitsräume zu öffnen, die das eigene Engagement lohnten.

Das ist Schnee von vor 40 Jahren. Der rebellische Jugendliche, der heute sozial etwas bewegen will, engagiert sich nicht in den Gewerkschaften – weder in Deutschland noch in Italien. Er engagiert sich für die Umwelt, den Tierschutz, Gemeingüter wie das Wasser, für Flüchtlinge oder Menschenrechte. Aber nicht für Arbeiterrechte.

Zur wirtschaftlichen und programmatischen Krise …

bandieresindacatiDass die Gewerkschaften ihre Anziehungskraft verloren, ist nicht nur eine Frage der intellektuellen Mode. Es liegt auch an der Wirtschaftskrise, die Italien seit Jahren heimsucht. Man sollte meinen, dass gerade jetzt die Gewerkschaften eine wichtige Schutzfunktion haben. Aber ihren größten Aufschwung erlebten sie in den 60er und 70er Jahren, in Zeiten der Hochkonjunktur. Heute, wo in der Privatwirtschaft trotz der verzweifelten Gegenwehr der Belegschaften ein Betrieb nach dem anderen geschlossen wird und jeder Angst um seinen Arbeitsplatz hat, oder wo es im Öffentlichen Dienst schon seit Jahren nur noch Nullrunden gibt, stellt sich für die Gewerkschaften die Sinnfrage. 60 % der arbeitenden Bevölkerung betrachten laut Umfrage den eigenen Arbeitsplatz als „prekär, temporär, flexibel“. Für das gewerkschaftliche Engagement ist es ein schlechter Nährboden. Besonders bei jüngeren Lohnabhängigen, von denen über 40 % arbeitslos sind und der Rest oft nur prekäre Jobs hat.

Die Distanz wird noch größer, wenn sich die Gewerkschaften auch noch programmatisch eher auf die Interessenvertretung der „Garantiti“, d.h. der älteren Arbeitnehmer mit unbefristetem Arbeitsvertrag konzentrieren. Ihre Mitgliedschaften befinden sich im Zustand der Vergreisung. Den Mitgliedsausweis des größten Gewerkschaftsverbandes CGIL haben nur noch 2,2 Mio. „aktive“ Mitglieder in der Tasche, aber 2,64 Mio. Rentner. In den etwas kleineren Verbänden CISL und UIL, die einmal die christlichen und sozialdemokratischen Gegengründungen zur „kommunistischen“ CGIL waren, sind die Verhältnisse kaum besser.

… kommt die moralische Krise

Es scheint fast ein Gesetz zu sein: In Organisationen in der Krise wächst die Neigung zur persönlichen Bereicherung. So auch im Gewerkschaftsapparat. Obwohl sich die CISL als Sprachrohr kleiner Rentenbezieher versteht, wurde kürzlich bekannt, dass sie ihrem früheren Generalsekretär Bonanni in seinen letzten Amtsjahren noch schnell das Jahresgehalt von 118.000 auf 336.000 Euro erhöhte. Um seinen Rentenanspruch hochzutreiben, der in Italien vor allem an das Endgehalt gebunden ist. Er liegt jetzt bei monatlich über 8.000 Euro brutto, zahlbar aus einer Kasse, die an 64 % aller italienischen Rentenempfänger monatlich weniger als 750 Euro auszahlt. Als die Sache aufflog, zeigte der hauptamtliche Apparat schnell, wo bei ihr der Hammer hängt. Der einzige, der in dieser Affäre zu Schaden kam, war der CISL-Funktionär, der sie aufdeckte. Er wurde wegen Rufschädigung ausgeschlossen. Was wiederum das öffentliche Ansehen der Gewerkschaften noch weiter beschädigte.

Der Politologe Diamanti berichtet, dass sein Meinungsforschungsinstitut Demos immer wieder die Menschen fragt, wer oder was ihnen vor allem Schutz bietet. 2004 nannten 30 % die „Gewerkschaft“. Heute seien es noch 16 %. Der Anteil derer, die stattdessen die „Familie“ nennen, sei im gleichen Zeitraum von 10 auf 36 % gestiegen.

Wachsende Atomisierung

Ein Grund zur Freude ist dieser Vertrauensverlust der Gewerkschaften nicht. Es tröstet auch nicht, dass die Unternehmer und ihre Verbände in den letzten Jahren einen ähnlichen Vertrauensverlust verzeichnen. Eine sozialstaatlich organisierte Gesellschaft bedarf nun einmal der Gewerkschaften, gerade auch dann, wenn sie in diesem Punkt große Defizite hat und sich die Schere zwischen Arm und Reich wieder öffnet.

In der repräsentativen Demokratie sollten eigentlich die Parteien und großen Verbände den Kitt für Partizipation und sozialen Zusammenhalt bilden. Aber wo die Parteien, wie gegenwärtig in Italien, immer mehr zu Wahlmaschinen für den einen großen Leader werden, der alles richtet, und wo die gewerkschaftlichen Bürokratien nur noch um ihrer selbst willen da zu sein scheinen, steigt das Gefühl der sozialen Atomisierung. Wo die „Familie“ die letzte noch Schutz bietende Bastion ist, steht es schlecht um die res publica.

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