„Wir werden deportiert!“

Renzis Schulreform „La buona scuola“ (wir berichteten) wurde vor der Sommerpause vom Parlament beschlossen und geht jetzt in die Umsetzungsphase. Dazu gehört die Einstellung von ca. 100.000 Lehrern, die bisher prekär beschäftigt waren oder noch auf Wartelisten standen. Das sind weniger als ursprünglich vorgesehen, aber ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Doch auch dieser gestaltet sich schwierig, denn ca. 20.000 der vorgesehenen Lehrerstellen werden nicht besetzt werden können. Das liegt einerseits daran, dass Bedarf und Qualifikation der Bewerber nicht zusammenpassen: vor allem fehlen Lehrer für Mathematik und Förderlehrer für die Inklusion behinderter Schüler. Aber es gibt auch ein weiteres Problem: Eine beträchtliche Zahl der Bewerber lehnt die angebotene Stelle ab. Grund: Sie müssten dafür in eine andere Stadt bzw. Region ziehen.

Da die Betroffenen meist keine Berufsanfänger sind, sondern 40- bis 50jährige, die sich oft jahrelang mit Vertretungen und Springerstellen über Wasser hielten, ist es durchaus verständlich, dass ihnen ein solcher Umzug Probleme bereitet. Vor allem Frauen, die Familie, Kinder oder auch Eltern haben, um die sie sich kümmern müssen. Oder wenn sie selbst gesundheitlich nicht mehr fit oder nicht mehr so flexibel und mobil wie junge Lehrer sind, die frisch von der Uni kommen. Dass sich manche von ihnen aus solchen persönlichen Gründen schweren Herzens für eine Ablehnung der Stelle entscheiden, kann ich sehr wohl verstehen.

Viktimismus und Partikularinteressen

Sie lieben es dramatisch

Sie lieben es dramatisch

Ganz und gar nicht nachvollziehen kann ich aber, wenn in empörten öffentlichen Protesten von „Deportation“, „Zwangsmigration“ und „Erpressung“ geredet wird, die ihnen eine grausame Regierung oktroyieren wolle. Und damit die Ablehnung begründen. Es als „Deportation“ zu bezeichnen, wenn man von Reggio Calabria oder Neapel nach Turin oder Mailand ziehen muss, um dort zu unterrichten, ist so grotesk, dass man darüber lachen könnte, wenn damit nicht die wirklichen Opfer von Deportation und Zwangsarbeit verhöhnt würden. Und wenn es nicht ein weiteres bitteres Symptom für die verbreitete Einstellung wäre, dass Partikularinteressen selbstverständlich Vorrang haben. Eine Einstellung, die Italien schon lange lähmt.

Dass es sich bei den Protestierenden nicht um einzelne Hysteriker handelt, zeigt sich u. a. daran, dass es inzwischen eigene Facebook-Seiten gibt, auf denen die Stellenverweigerer ihr Schicksal beklagen. Eine davon heißt tatsächlich: „Schluss mit dem Präkariat – Nein zur Deportation!“. Ein Teil der Gewerkschaften – in erster Linie die korporatistische „Cobas“ – klatscht auch noch Beifall.

Lehrerbedarf regional unausgewogen

Fakt ist, dass das Verhältnis zwischen Stellenbedarf und Bewerbungen regional sehr unausgewogen ist, was mit dem Nord-Süd-Gefälle zusammenhängt: 70,7 % der zu besetzenden Lehrerstellen befinden sich in norditalienischen Regionen (Mittelitalien 20 %, Süditalien nur 9,3 %); umgekehrt kommen aber 55,2 % der Bewerber aus dem Süden, während es aus Mittelitalien nur 19,1 und aus dem Norden 25,7 % sind. Während im Norden die Schülerzahlen zunehmen, nehmen sie im Süden – leider – ab. „Was hätten wir denn tun sollen“ fragt der Staatssekretär im Kultusministerium, Davide Faraone, „vielleicht die Schüler und ihre Familien von Norden nach Süden karren?“.

Um den Lehrerbedarf zu decken, muss also ein Teil der Bewerber, die aus dem Süden kommen, in Norditalien unterrichten. Das kann – wie gesagt – für die betroffenen Lehrer manchmal eine große Härte bedeuten, Niemand sollte über jemanden richten, der eine solche Versetzung ablehnt. Aber bitte ohne sich lauthals zum Märtyrer eines Folterregimes hochzustilisieren.

Kein Wunder, dass dieses Verhalten bei anderen auf wenig Verständnis stößt. Manche Langzeitarbeitslose aus Süditalien kommentieren, sie wären heilfroh, wenn sie irgendwo in Piemont, der Lombardei oder dem Veneto eine Stelle bekommen könnten. Auch einige der zahlreichen Binnenmigranten aus dem Mezzogiorno, die in Norditalien schon lange ihren Lebensunterhalt verdienen, reagieren empört. Von denjenigen ganz zu schweigen, die nach Deutschland, Belgien oder Frankreich emigrierten: nicht nur „alte Gastarbeiter“, sondern auch die vielen neuen, jungen und gut ausgebildeten Auswanderer, denen Italien keine berufliche Perspektive bieten konnte.

Halbwahrheiten

Ärgerlich ist auch, wenn die Verweigerung auch sonst mit Argumenten begründet wird, die nicht der Wahrheit entsprechen. So die Behauptung, es gehe ohnehin nur um Stellen, die auf drei Jahre befristet sind. Richtig ist, dass es sich um unbefristete Stellen handelt, für die aber eine dreijährige Bewährungszeit vorgesehen ist, die man erfolgreich bestehen muss und die damit begründet wird, dass die Lehrkräfte teilweise für den Einsatz in neu eingeführte bzw. „fremde“ Fächer berufsbegleitend weiterqualifiziert werden müssen. Eine solche lange „Bewährungszeit“ kann man kritisieren. Aber sie als Stellenbefristung darzustellen, ist schlicht falsch.

Übrigens besteht das Mobilitätsproblem bei Lehrern nicht nur in Italien, sondern natürlich auch in anderen Ländern, u. a. Deutschland. In Niedersachsen war es zum Beispiel schon immer schwierig, Lehrer zu finden, die bereit sind, in Ostfriesland zu unterrichten. Eher versuchen sie, in einem anderen Bundesland als in Aurich oder Emden eine Stelle zu bekommen, was mitunter zu erheblichen Problemen bei der Unterrichtsversorgung in den nördlichen Regionen führt. Darüber ist die niedersächsische Schulverwaltung gewiss nicht glücklich. Allerdings ist mir nicht bekannt, dass sie von Lehrern und deren Gewerkschaften je mit dem Vorwurf konfrontiert wurde, sie wolle Lehrer nach Ostfriesland deportieren.