Mehr als fahrlässiges Töten

Es ist also wieder geschehen. Am vergangenen Montag haben vor der Küste Lampedusas nach bisherigen Schätzungen über 300 Flüchtlinge ihr Leben verloren . Nach Berichten der UNHCR-Vertreterin Carlotta Sami und der italienischen Küstenwache, waren es drei – möglicherweise auch vier – überfüllte Gummiboote, die von Libyen aus Richtung Europa in die stürmische, eisige See stachen. Aus einem Boot rettete die Küstenwache 76 Menschen, 29 starben an Unterkühlung noch auf dem Rettungsschiff. Aus zwei anderen Booten konnte die Küstenwache lediglich neun Flüchtlinge retten, die berichteten, über 200 von ihnen seien ertrunken. Sie erzählten auch von einem vierten Boot mit über 100 Menschen an Bord, von dem bisher jede Spur fehlt. Es ist also zu befürchten, dass die Zahl der Opfer noch weiter steigt.

„Europa schützt die Grenzen, nicht die Menschen“

Giusi Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa

Giusi Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa

„Europa hat sich dafür entschieden, Grenzen statt Menschen zu schützen“, so Lampedusas Bürgermeisterin Giusi Nicolini. Sie meinte damit die Entscheidung der EU, sich nicht an der italienischen Seenotrettungsaktion „Mare Nostrum“ zu beteiligen und stattdessen die Aktion „Triton“ zu starten. Nicolini setzte hinzu: „Alles, was wir in den vergangenen Monaten getan haben, war umsonst. Wir sind wieder da angelangt, wo wir vor ‚Mare Nostrum‘ waren, wir sind wieder vor dem 3. Oktober 2013 angelangt, dem Tag, an dem 366 Flüchtlinge vor Lampedusa ihr Leben verloren“. Auf die Frage eines Journalisten, ob das Geschehen ein Beweis für das Scheitern von „Triton“ sei: „Ich bin es so leid, noch irgendwelche Beweise zu bringen, die brauchen wir nicht mehr. Was wir brauchen, ist eine radikale Wende in der europäischen Einwanderungspolitik. Wir sind es, die die Flüchtlinge in Afrika abholen müssen, denn wenn wir es nicht tun, tun es kriminelle Banden, die bei jedem Wetter und bei jeder See starten, weil die Flüchtlinge sowieso im Voraus zahlen – ob sie tot oder lebendig ankommen, interessiert die Schlepper einen Dreck“.

Die zynische Wahrheit ist, dass „Triton“ mit dem neuen Massensterben vor Lampedusa keineswegs gescheitert ist. Denn der eigentliche Zweck von „Triton“ ist es ja nicht, Menschenleben zu retten, sondern Europa noch besser abzuschotten. Folgerichtig war „Triton“ nicht einmal an der Rettungsaktion vom vergangenen Montag beteiligt, zu der es dann noch – viel zu spät – kam . Es waren die Männer und Frauen der italienischen Küstenwache, die zwischen meterhohen Wellen ihr Leben riskierten, um die letzten Überlebenden zu retten.

Massensterben, billigend in Kauf genommen

Und es ist auch verfehlt, hier von „Unglück“ und „Katastrophe“ zu reden. Über 150.000 Menschen haben die Schiffe von „Mare Nostrum“ innerhalb eines Jahres aus Seenot gerettet. Die europäischen Regierungschefs und die EU-Kommission wussten, was sie taten, als sie sich dem Anliegen Italiens verweigerten, „Mare Nostrum“ mit europäischer Unterstützung fortzusetzen. Sie wissen, dass es für viele Flüchtlinge das Todesurteil bedeutet – die Juristen nennen es „Töten als Eventualvorsatz“. Das Europa der Menschenrechte wurde gleich mitbeerdigt. Zum Abschrecken braucht man Tote. Krokodilstränen über unerwartete „Katastrophen“ mögen uns bitte erspart bleiben.

Die neue EU-Außenbeauftragte, die Italienerin Federica Mogherini, erklärte jetzt, „in den nächsten Tagen eine außerordentliche Sitzung einzuberufen, um die europäische Flüchtlings- und Einwanderungspolitik zu überprüfen“, denn „man dürfe keine weiteren Tragödien im Mittelmeer zulassen“, etc. etc. Gleiches hörte man auch schon nach dem Massensterben am 3. Oktober 2013. Der Einzige, der den Reden damals Taten folgen ließ, war der (von Renzi später gestürzte) italienische Ministerpräsident Letta: er startete die wirklich lebensrettende Aktion „Mare Nostrum“, die von der aktuellen italienischen Regierung vor gut drei Monaten infolge der europäischen Verweigerung gestoppt wurde. Nach Bekanntwerden des erneuten Massensterbens twitterte Letta am vorigen Montag : „#MareNostrum wieder einführen. Ob die anderen europäischen Länder es wollen oder nicht. Ob es Wählerstimmen kostet oder nicht“. Renzi hat dies als „ideologisch“ motivierten Angriff auf seine Regierung abgelehnt. Was bei ihm auch immer „ideologisch“ heißen mag: Er ist auf Linie.

Europäische Seenotrettungsaktion sofort!

Doch so ehrenwert Lettas Einstellung auch sein mag: Es ist nicht allein Italiens Aufgabe, eine solche Seenotrettungsaktion durchzuführen. Die Flüchtlinge wollen nicht Lampedusa, sie wollen Europa erreichen. Und auch das bisherige „Triton“ ist eine europäische Antwort. Vor ein paar Monaten sagte jemand: „In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten sind vermutlich rund 23.000 Menschen beim Fluchtversuch verdurstet, ertrunken oder gelten als vermisst. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass von neuen Flüchtlingsbooten berichtet wird. Ich kann mich daran nicht gewöhnen. Niemand in Europa sollte sich daran gewöhnen.“ Das war nicht die deutsche Bundesregierung, sondern nur ein Sonntagsredner namens Gauck.

Leider haben sich alle europäischen Länder nicht nur „daran gewöhnt“, sondern sind strikt dagegen, an diesem unerträglichen Zustand etwas zu ändern. Womit sie sich, womit sie uns alle zu Komplizen des Massensterbens machen. Auch die deutsche Regierung, die in der Ablehnungsfront gegen eine Fortsetzung von „Mare Nostrum“ unter europäischer Beteiligung an vorderster Stelle stand. Pro Asyl fordert : „Europäische Seenotrettungsaktion sofort!“. Wir sollten uns der Komplizität mit dem fortgesetzten Massensterben verweigern und dies unterstützen.

Schlussbemerkung
Gad Lerner schrieb am 12. 3. in der „Repubblica“: „Ein Flugticket von Tunis nach Rom kostet 100 €. Gäbe es Fähren, würden sie noch weniger kosten. Für die Todesfahrten, die zum Gemetzel ausarten, zahlten die Passagiere der Schlauchboote pro Kopf 650 € an Verbrecher. Die unsinnige Abschottungspolitik der internationalen Gemeinschaft führt letztlich dazu, Hunderte von Millionen in die Taschen von Mafia und Jihadisten zu lenken.
Wir dulden den Tod hunderter von jungen Leuten, deren Alter laut Unicef zwischen 18 und 25 Jahren liegt. Und lassen es zu, dass sie einen Feind finanzieren, der von Tag zu Tag gefährlicher wird. Wenn es schon nicht die Scham ist, so müsste uns doch wenigstens der Selbsterhaltungstrieb zum Handeln bringen. In der Tragödie, deren Zuschauer wir sind, spielen die Regierung und die gesamte europäische Führungsklasse die Rolle von gelangweilten, verängstigten und mittelmäßigen Komparsen.“

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