Ein Widerspruch der Linken

Zusammen mit dem europäischen Sozialstaat ist die Linke in eine Klemme geraten, der sie teilweise ratlos gegenübersteht. Obwohl der italienische Sozialstaat nicht gerade mustergültig funktioniert, wird das Problem, über das ich sprechen möchte, hier besonders deutlich.

Die zwei Wurzeln des Problems

Die eine ist die „Krise des demokratischen Kapitalismus“, die z. B. Wolfgang Streeck als die schrittweise Emanzipation des Kapitals von den Fesseln beschreibt, die ihm nach dem zweiten Weltkrieg angelegt wurden. Die Seite, die sozial und politisch die Mittel- und Unterschichten vertritt, zwingt dies in einen Stellungskrieg, in dem sie immer mehr an Boden verliert und gewissermaßen Schützengraben um Schützengraben aufgeben muss: Abbau von Welfare und Beschäftigten-Rechten, Ausdünnung des sozialen Netzes, Agenda 2010 in Deutschland, Revision des Beschäftigten-Statuts in Italien, Marginalisierung und Entzauberung der Gewerkschaften, Demontage der Konzertierung. Die Linke ist in der Defensive und beschränkt sich meist auf Proteste („Hände weg“, „Non si tocca“), um zu retten, was zu retten ist. Ein guter Linker ist, wer den jeweiligen Schützengraben als letzter verlässt.

Die andere Wurzel ist der Druck, der von den globalen Flucht- und Migrationsbewegungen ausgeht, der immer mehr zum Dauerzustand wird. Die Migranten klopfen nicht nur im Crescendo an die Tore der westlichen Wohlstandsgesellschaften, sondern sickern auch in sie ein. Wer sie hier willkommen heißt, ist eine andere Fraktion der Linken, die eher humanitär-internationalistisch gesonnen ist und sich (wie die Flüchtlinge) wenig um den Abwehrkampf kümmert, in dem sich die zuerst genannte Fraktion befindet.

Das Schattenleben unter den Standards

Immigranten in der Landwirtschaft

Immigranten in der Landwirtschaft

Die Linke zögert, das hierin liegende Problem überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, obwohl sie es damit nicht aus der Welt schafft. Zu den Schutzrechten gehört der Anspruch, dass sie zumindest im eigenen Land universell gelten sollen: Krankenversorgung, Arbeitsschutz, Schutz vor willkürlicher Entlassung, Tarif- und Mindestlöhne usw. Auf der anderen Seite lassen sich die Migranten, die legal, halblegal oder illegal ins Land kommen, auf Verhältnisse ein, bei denen diese Schutzrechte außer Kraft gesetzt werden und die jedem aufrechten Linken (der ersten Fraktion) die Zornesröte ins Gesicht treiben müssen: Sie arbeiten oft ungeschützt und für einen Bruchteil des Tariflohns. Und zwar „freiwillig“, wenn man so einen Zustand nennen kann, in den einen vor allem der Wunsch nach dem nackten Überleben treibt. Aber für den die Migranten ihr Leben aufs Spiel setzen. Mit vielen ihrer inländischen Arbeitgeber gehen sie eine symbiotische Beziehung ein. Zum Beispiel in der Landwirtschaft befinden sich die meisten Klein- und Mittelbetriebe im ökonomischen Überlebenskampf. Sie können sich nur dann über die Runden retten, wenn sie ihre Arbeitskräfte in der Schattenwirtschaft rekrutieren – weil sie angesichts der Marktpreise nur so noch kostendeckend wirtschaften können, und weil kein Einheimischer mehr bereit ist, die mörderische Arbeit in den Gewächshäusern für einen Hungerlohn zu verrichten.

Die meisten dieser Migranten leben und arbeiten weit unter den Standards, welche die europäische Linke in Jahrzehnten sozialer Auseinandersetzungen erkämpfte, und setzen damit deren Universalität außer Kraft. Da ist auch die abstrakte Erwägung kein Trost, dass das Unterbieten von Standards erst einmal deren Existenz voraussetzt. Es ist ihr Startvorteil, dass sie zu Löhnen arbeiten, die unter den Tariflöhnen liegen. Natürlich bedroht dies auch die Standards selbst, weshalb jede Organisation, die den Sozialstaat erhalten will, damit ein Problem hat. Auch wer den Flüchtlingen eigentlich wohlgesonnen ist, muss bestrebt sein, die Abweichungen so schnell wie möglich durch „Angleichung nach oben“ aus der Welt zu schaffen. Und zwar nicht nur im Interesse der autochtonen Beschäftigten, die vom Sozialstaat „geschützt“sind, sondern auch der Migranten, die in im Schatten des Sozialstaats um ihr Überleben kämpfen – wir berichteten über die Zustände, die unter den Sikhs in Latiums Landwirtschaft herrschen.

Die problematische „Angleichung nach oben“

Das Problem ist, dass diese „Angleichung nach oben“, würde sie schnell und mit aller Konsequenz durchgesetzt werden, im heutigen Italien nicht nur einen großen Teil der gegenwärtigen Schattenwirtschaft zum Erliegen brächte – Gewächshäuser verrotten schnell, ihre Skelette gehören schon heute an den Küsten Italiens zum Landschaftsbild -, sondern auch die in ihr beschäftigten Immigranten wieder „freisetzen“ würde. Zumal „mit aller Konsequenz“ hieße, die Migranten auch mit den Mitteln staatlicher Gewalt daran zu hindern, sich sofort wieder neue Nischen in der Schattenwirtschaft zu suchen – sie am besten gar nicht erst ins Land zu lassen. Um den Wohlfahrtsstaat, die Insel der Seligen, nicht in Bedrängnis zu bringen.

Wenn man davon ausgeht, dass es der Linken in der heutigen Situation nicht nur um die Verteidigung des Wohlfahrtsstaats gehen kann, sondern auch um die Migranten (was der Gedanke vermitteln könnte, dass wir in vergreisenden Gesellschaften leben) -, dann muss sie sich eingestehen, dass sie zur Lösung dieses Widerspruchs bisher kein Konzept hat. Dass die Schattenwirtschaft einer Regelung bedarf, beginnend mit dem Recht auf Krankenversorgung, ist zumindest in Italien offensichtlich. Aber auch wenn es das Ziel bleiben muss, die „Angleichung nach oben“ nicht aus den Augen zu verlieren, kommt man wohl nicht um den Notbehelf herum, hier einen temporären Dualismus zuzulassen. Um den Preis, den Anspruch des Sozialstaats auf universelle Geltung seiner Regeln einzuschränken.

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