Sozialdarwinismus und Barmherzigkeit

Matteo Renzi

Matteo Renzi

Es geschieht nicht oft, dass sich politische Leader theoretisch äußern, und es ist auch keine Qualitätsgarantie – weder für die Leader, noch für die Theorie. Unerwartet ist eine solche Äußerung bei Renzi, der sich als Löser und nicht als Analytiker von Problemen darstellt. Wer es zu seinem Markenzeichen macht, jeden Monat eine neue Reform zu backen, darf kaum Nachdenklichkeit zeigen. Da aber bei Renzi immer noch ziemlich unklar ist, was sich Italien mit ihm eingefangen hat, ist eine solche Äußerung kostbar. Denn sie hilft zu verstehen, wie der Mann „tickt“, der jetzt Italien führt.

Dass es eine solche theoretische Äußerung gibt, verdanken wir dem Umstand, dass ein italienischer Verlag dem vor 10 Jahren gestorbenen Rechts- und Politikphilosophen Norberto Bobbio ein Denkmal setzte, mit der Neuauflage von dessen Bestseller „Rechts und Links“ und Daniel Cohn-Bendit und Matteo Renzi als Kommentatoren. Auszüge aus diesem Renzi-Beitrag finden sich in unserer Dokumentation. Hier kommentiere ich seine wichtigsten Gedanken, wobei ich auch Überlegungen der Politikwissenschaftlerin Nadia Urbinati berücksichtige, die sich in der „Repubblica“ zu Renzis Beitrag äußerte.

Renzi bekennt zu Beginn seines Kommentars, dass er ein überzeugter Anhänger des „Bipolarismus“ ist, d. h. des Modells der zwei Parteien, die sich wie in den USA in der Machtsausübung abwechseln. Er ist auch nicht dagegen, beide Pole weiterhin immer noch mit den Etiketten „Links“ und „Rechts“ zu versehen. Aber nur unter der Bedingung, dass diese Etiketten neu definiert werden. Dazu dient Renzi die Auseinandersetzung mit Bobbio, der mit dem Begriffspaar Ungleichheit/Gleichheit eine bleibende Grenzlinie zwischen Rechts und Links ziehen wollte. Für Renzi ist das überholt. Er bevorzugt andere Begriffspaare – Konservierung/Innovation, Offen/Geschlossen, Bewegung/Stagnation.

Renzis Gründe für den Abschied von der Gleichheit

  1. Die Gleichheit als unterscheidendes Kriterium für Rechts/Links sei obsolet, weil (a) die Sozialdemokratien im 20. Jahrhundert mit der Erfindung des Welfare „ihre Partie gewannen“ und die antagonistischen sozialen Blöcke überwanden, (b) die Gleichheit als „Polarstern der Linken“ ein schädliches „Misstrauen“ gegenüber Ideen wie „Leistung“ oder „Ehrgeiz“ erzeugt habe, (c) heute die Gesellschaft, z.B. durch die social networks, individualisiert und atomisiert sei, und sich (d) der heutige Aufstieg populistisch/fremdenfeindlicher Bewegungen nicht auf den Widerspruch zwischen Gleichen und Ungleichen zurückführen lasse.
  2. Obwohl die früheren sozialen Blöcke überwunden sind, gibt es auf der sozialen Stufenleiter immer noch „Oben“ und „Unten“, „Erste“ und „Letzte“. In diesem Kontext bleibe Gleichheit eine Frontlinie für die Demokraten, da es immer noch „Unterschiede in den Rechten, im Einkommen, in der Staatsbürgerschaft“ gebe. Aber diese Unterschiede betreffen atomisierte Individuen und nicht soziale Formationen. Genau an dieser Stelle findet Renzi jedoch den Wert, der an die Stelle der überholten Gleichheitsidee tritt und seine (neue) Linke „ideell definiert“: die „Solidarität mit den Letzten“. Sein Bezugspunkt ist Papst Franziskus, der zu diesen Letzten „mit Wärme in der Sprache der Solidarität spricht“.
  3. An die Stelle der sozialen Blöcke tritt für Renzi die „permanente Bewegung neuer sozialer Dynamiken…mit völlig neuen Akteuren auf völlig neuen Plätzen“. Statt sich auf überwundene „soziale Blöcke“ zu berufen, müsse die heutige Linke diesen neuen Dynamiken folgen, um nicht den „Kontakt zu den Letzten zu verlieren“. Was Renzi damit meint, lichtet sich ein wenig, wenn er sich gegenwärtig fast provozierend weigert, mit den Gewerkschaften über sein soziales Programm zu reden. Die „neuen Letzten“ repräsentieren sie für ihn offenbar nicht.

Drei Stolpersteine

Ein Manifest mit Stolpersteinen. Zunächst überrascht die Absolutheit, mit der Renzi konstatiert, die europäischen Sozialdemokratien hätten mit dem Welfare die „Partie gewonnen“, weshalb es hier auch keine definierten sozialen Blöcke mehr gebe. Wenn in Renzis eigenem Land über 40 % der Jugendlichen arbeitslos sind und Millionen von Haushalten unter die Armutsgrenze sinken, und wenn sich in fast ganz Europa, inklusive Deutschland, die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, ist das eine erstaunliche Behauptung. Oder definieren sich für Renzi soziale „Blöcke“ nur durch ihre Organisation? Der Organisationsgrad der abhängig Beschäftigten sinkt tatsächlich europaweit. Dies gilt jedoch nicht für die Kapitalseite, die sich nicht nur in Gestalt der „Märkte“ als immer schlagkräftiger erweist und den Wohlfahrtsstaat zum Rückzug zwingt.

Der zweite Stolperstein ist Renzis Versuch, die Gleichheit aus dem Katalog linker Werte herauszuoperieren. Seit der französischen Revolution zielt die Rede von der Gleichheit in erster Linie auf die Gleichberechtigung aller Bürger, auf ihre Chancengleichheit, um aus dem eigenen Leben etwas zu machen. Wenn Renzi stattdessen – dieses „stattdessen“ ist wichtig – wieder „Ideen wie ‚Leistung’ oder ‚Ehrgeiz’ aufwerten“ will, ersetzt er beim „Ehrgeiz“ einen institutionellen Rechtsanspruch durch ein psychisches Vermögen. Wer sich nicht durchbeißt, bleibt auf der Strecke. Wozu Urbinati bemerkt: „Wird die Leistung von der Chancengleichheit getrennt, die der Markt nicht spontan hervorbringt, wird sie zum Freibrief für diejenigen, die sich im Vorteil befinden“.

Im Dienst der neuen Letzten

Doch halt, da gibt es ja noch Renzis „Solidarität mit den Letzten“, die über die Demontage der Gleichheit hinwegtrösten könnte. An die Stelle des langwierigen Kampfs um Gleichberechtigung und Chancengleichheit tritt der Kurzschluss Barmherzigkeit. Deshalb dürfe seine Linke nicht mehr schimärischen sozialen Blöcken nachlaufen, sondern müsse sich den „unruhigen sozialen Dynamiken“ von heute gewachsen zeigen, um die jeweils „neuen Letzten und neuen Ausgeschlossenen (Hervorhebungen von mir, H.H.) zu erkennen und sich sofort in ihren Dienst zu stellen“.

Das ist offenbar das Programm, und für mich der dritte Stolperstein: eine sozialdarwinistisch durchgeknetete Gesellschaft, kombiniert mit Barmherzigkeit. Welche praktische Politik daraus folgt, wird sich zeigen. Renzis erstaunliche Unvoreingenommenheit gegenüber einer Figur wie Berlusconi ist vielleicht ein erstes Indiz. Sein Bobbio-Kommentar ist keine Theorie der Linken, aber Ausdruck ihrer Krise. Denn er ist nicht nur italienischer Ministerpräsident, sondern auch der kürzlich mit großer Mehrheit gewählte neue Generalsekretär der PD.

3 Kommentare

  • manella schlitter

    ist das alles nicht ein gewirr?

  • Carl Wilhelm Macke

    Nur eine Anmerkung zu einem Kommentar, dessen kritische Anfragen an die Programmatik der ‚Renzianismus‘ ich teile. Es ist problematisch – bei Renzi, nicht beim Kommentator – sich als Politiker immer wieder auf theologische Positionen von Papst Franziskus zu berufen. Bergoglio/ Franziskus versucht hartnäckig – und mit Grundaussagen der Bibel im Rücken – die Aufmerksamkeit der Kirche, ihrer ‚Hirten und Schafe‘ auf die „Peripherien der Gesellschaft“ zu lenken. Das ist nichts anderes als Teil der ’neuen Evangelisation‘, von der auch schon sein Vorgänger Ratzinger immer wieder gesprochen hat, aber nicht in die Tat umsetzen konnte – oder wollte. Operettenkatholizismus und die raue Realität von Flüchtlingsunterkünften, die Welt der neuen ‚Wanderarbeiter“, die in München etwa versteckt in Wäldern rund um den ‚Speckgürtel‘ der steinreichen Vorstädte in Zelten (!) hausen, passen einfach nicht zusammen. Da ist ein Papst, der die Slums in Rio und Buenos Aires kennt, viel glaubhafter. Wie sich aber ein Renzi mit seiner Entourage, vorallem mit einem Berlusconi als unverzichtbaren Stützen seines Projekts der Erneuerung Italiens überzeugend den ‚Peripherien der Gesellschaft‘ nähern will, ist mir schleierhaft. In einem Jahr hat Franziskus/ Bergoglio einige bemerkenswerte Reformen der Kirche eingeleitet, der er nun mal als ‚Bischof von Rom‘ vorsteht. Der Agnostiker Norberto Bobbio hätte dem Papst da vermutlich viel Sympathie entgegengebracht. Ob der nüchterne und skeptische Professor Bobbio jedoch die Interpretation seines Werkes durch den intellektuellen Trampolinakrobaten Renzi akzeptiert hätte, wage ich zu bezweifeln. Hartwig Heine und Nadia Urbinati haben da einige richtige Fragen zur richtigen Zeit formuliert.
    Carl Wilhelm Macke ( München/ Ferrara )

  • Giuseppe

    Renzis Rhetorik erinnert doch sehr stark an den Kampagnenstil moderner „Medienpolitiker“ der „Neuen Mitte“ oder der New Labour-Fraktion, die mit ihren Begriffserfindungen immer neue Verpackungen für einen alt eingebrachten und zumindest doch eher an den an die letzte zwei Dekaden orientierten üblichen Policy-Mix aus dem Hut zauberten. Allerdings weist Ihr Artikel schön auf die tatsächliche politische Couleur des Herrn Matteo Renzi hin, wenn er darauf hinweist, das für Renzi Gewerkschaften angeblich Relikte und bürokratische Monster aus der politischen Steinzeit seien. Das zeigt wiederum, das Renzi einer der politischen Figuren ist, die, wie es Peter von Oertzen einmal hinsichtlich Gehard Schröders Mentalität formulierte, glauben, dass sie die Klassenkampf überwunden hätten, wenn sie die Hände der großen Konzernkapitäne schütteln durfte. Die Essenz aus Bobbios wichtigem kleinen Bändchen von 1994 hat Renzi überhaupt nicht begriffen, wenn er mit in den alltäglichen politischen Debatten zu Floskeln mutierten Begriffen wie Innovation, Offenheit, Bewegung versus Konservierung, Abschottung und Stagantion hantiert, welche man wohl auch in jeder Unternehmensbroschüre zu Werbezwecken wiederfinden könnte. Es bleibt nun abzuwarten, wie Renzis Programmen en détail aussieht und wie es umgesetzt wird. Wenn aber die einzige strukturelle Erneuerung die sein sollte, die mit der Flexibilsierung des Arbeitsmarktes über den Kündigungsschutz einhergeht, ohne dabei eine eine dem 21. Jahrhundert entsprechende wirksame Arbeitslosenversicherung zu implentieren, dann ist die gleiche Mogelpackung mit der unsere beundesrepublikanische Sozialreformen verkauft wurden.

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