Italien, launische Geliebte

Was ist Italien? Ist es das kleine Dorf Casapesenna nahe Neapel, in dem alte Frauen Trauerkleider anlegten, als die Polizei Anfang Dezember den Camorra-Boss Michele Zagaria abtransportierte? Und wo ein Dorfbewohner aussprach, was viele dachten:

„Heute ist ein Trauertag. Für uns war Zagaria immer da. Er war da, wenn wir Geld oder Arbeit brauchten. Jetzt sind wir allein. Der Staat behauptet, einen Sieg errungen zu haben. Aber so ist es nicht. Der Staat hat diese Gegend schon vor über 50 Jahren verlassen, hat hier die Camorra allzu lange siegen lassen“.

Und wo der Dorfpfarrer hinzufügte:

„In Casapesenna kamen wir ohne Gesetz auf die Welt. Für mich als Priester ist Zagaria ein Gemeindemitglied, dem ich wie allen anderen das Evangelium bringe“.

Der heute 54-jährige Zagaria war 16 Jahre flüchtig, man vermutete ihn zeitweise im Ausland, bis ihn die Polizei schließlich mitten in seinem Heimatdorf aufspürte, in einem Bunker fünf Meter unter der Erde. Im Casalese-Clan, den Saviano in „Gomorra“ beschreibt, diente er sich hoch, zunächst als Mann fürs Handgreifliche, später als Unternehmer, der in Abfall und im Baumaterialien machte und inzwischen alle öffentlichen Aufträge seiner Region kontrolliert, mit Geschäftsbeziehungen bis in die Emilia Romagna und Lombardei. Seine „Bodenständigkeit“ und Macht über Gut und Böse, über Arbeit und Nichtarbeit sicherten ihm in „seiner“ Gegend das Vertrauen und die Freundschaft vieler.

Oder ist Italien kaum 50 Km weiter Herkulaneum, eine Kleinstadt mit 60 000 Einwohnern, ebenfalls Neapel-nah, die zwischen dem Vesuv und dem Meer liegt und welche die Touristen vor allem als Ort römischer Ausgrabungen kennen? Wo sich alles ganz anders entwickelte, weil sich die örtlichen Camorra-Clans so gegenüber den eigenen Mitmenschen aufführten, dass sich die Menschen endlich zu einem Befreiungsschlag aufrafften? Drei Generationen lang entrichteten die Geschäftsleute hier ihren Pizzo von 150 bis 1500 € monatlich, von der kleinen Bar bis zum Supermarkt, an die Clans der Birra und Ascione, die die ganze Stadt in Geiselhaft genommen hatten. In weniger als einem Jahrzehnt gab es 60 Tote, die auf das Konto der Clans gingen. Welche sich schließlich so sicher fühlten, dass sie 10-jährige Kinder vorbeischickten, um den monatlichen Tribut einzusammeln.

Hier bildete sich langsam ein anderer Vertrauensfundus, nämlich derjenige, der nötig ist, um sich gegen die Erpressung zusammenzutun. Ein Bürgermeister, der öffentliche „Anti-Mafia-Spaziergänge“ organisierte und sich nicht nur symbolisch an die Seite seiner Geschäftsleute stellte, sondern auch denjenigen von ihnen, die den Pizzo verweigerten, Steuererleichterungen gewährte. Eine Polizeiführung, die professionell arbeitete und gemeinsam mit dem örtlichen Staatsanwalt Druck erzeugte. Und vor allem der geballte Zorn der Geschäftsleute, die sich endlich von den blutsaugerischen Erpressern befreien wollten und dies dann auch in diesem Jahr taten, Geschäft für Geschäft, Straße für Straße. Wir haben es noch nicht nachgeprüft, aber es wurde selbstbewusst angekündigt: An der Ortsgrenze sollen Schilder aufgestellt werden mit dem Hinweis „Herkulaneum, mafiafreies Gebiet“ (Ercolano, territorio derackettizzato, Anspielung auf „derattizzato“, rattenfrei). Auch der deutsche Konsul von Neapel, Christian Much, leistete seinen Beitrag, indem er an die deutschen Touristen einen Stadtplan mit den Pizzo-freien Geschäften verteilen ließ. Inzwischen hat Studiosus neben den Ausgrabungen auch eine Anti-Mafia-Strecke in sein Besichtigungsprogramm für Herkulaneum aufgenommen.

Was also ist Italien? Das Dorf Casapesenna, in dem die Menschen Trauer tragen, wenn die Polizei den örtlichen Camorra-Boss aus seinem Bunker holt? Oder Herkulaneum, wo sich eine ganze Stadt von den Clans befreit? Ist es Berlusconi oder Napolitano? Mal unerträglich, mal bezaubernd, das ist Italien. Wie eine Geliebte, von der man sich einmal täglich trennen möchte, und es dann doch nicht schafft.

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