Ein Schuss unter Brüdern

Es geschah in der Silvesternacht zwischen 2023 und 2024 in dem kleinen norditalienischen 99-Seelen-Dorf Rosazza. Rosazza liegt 70 Km nördlich von Turin in der Region Piemont, in der Nähe der Provinzhauptstadt Biella, und hat wie fast alle Dörfer in Italien ein gemeindeeigenes Büro zur Förderung des Tourismus, das „Pro loco“ genannt wird. Zumindest in Rosazza hat es zu bieten, was an Feiertagen begehrenswert ist: einen Raum, in dem man kleine Feiern veranstalten kann. Feiern wie z. B. den traditionellen „Cenone“, das Silvester-Essen, zu dem man sich gern mit Verwandten, Freunden und guten Bekannten zusammenfindet. Und mit Leuten, denen man verpflichtet ist oder die man sich verpflichten möchte.

Diesmal gab es dafür einen besonderen Anlass. Denn die Initiative zu diesem „Cenone“ ging von den Geschwistern Delmastro aus, beide Fratelli d’Italia: Zwar ist sie, Francesca, „nur“ Rosazzas Bürgermeisterin, aber ihr Bruder Andrea ist Staatssekretär im nationalen Justizministerium, der so wichtig ist, dass er sich nur mit Eskorte durch Italien bewegt. Und genau für die Eskorte und ihre Familien sollte die Gelegenheit genutzt werden, um ihnen etwas Gutes tun – was die Eskorte nötig hat, denn sie rekrutiert sich aus dem Wachpersonal des Gefängnisses von Biella, gegen das gerade ein Verfahren wegen der Folterung von Häftlingen läuft. Wie auch Delmastro selbst Erholung braucht, denn gegen ihn schwebt ein Verfahren wegen der Weitergabe von Dienstgeheimnissen, was für einen Staatssekretär im Justizministerium kein Pappenstil ist, wenn nicht Meloni ihre schützende Hand über ihn hielte.

Der „Cenone“ scheint harmonisch verlaufen zu sein, mit den obligatorischen Brindisi um Mitternacht, und so friedlich, wie es die Kinder erlauben, die an solchen Tagen bis nach Mitternacht aufbleiben können – wir sind in Italien. Bis im letzten Moment das Unglück geschah – als man um halb 2 aufzubrechen begann und der Staatssekretär das übrig gebliebene Essen angeblich schon in Tüten packte, um es im Auto mit nach Hause zu nehmen. Denn nun erschien für einen letzten Brindisi auch Emanuele Pozzolo, der Parlamentsabgeordnete von Biella, der sich dazu selbst eingeladen hatte, da er sich nicht nur politisch, sondern auch privat als „Freund“ von Delmastro betrachtet. Teilnehmer berichten, Pozzolo sei, als er kam, „sehr fröhlich“ gewesen.

Der „ehrenwerte“ Pozzolo

Er ist seit dem Herbst 2022 frischgebackenes Mitglied der Abgeordnetenkammer und mit 38 Jahren noch vergleichsweise jung. Während er im Parlament bisher nicht weiter auffiel, ist er ein Aktivist der sozialen Medien, der auf vielen Gebieten gerne definitive Urteile fällt: Mussolini war „kein Krimineller“, sondern einer der „besten Staatsmänner, die Europa je hatte“; Frauen „erraten alles, aber wenn sie nachdenken, geraten sie in die Irre“; das Impfen gegen Covid habe ja schon sehr viele Opfer gefordert; Berlusconi sei out, weil er die Schwulenehe toleriere; die vom anderen Ufer erkenne man an den Ohrringen, haha. In einem Punkt ist er liberal: Er war schon immer ein leidenschaftlicher Verteidiger der Freiheit, Waffen zu tragen, und ist zu Zwecken des Sports und neuerdings auch der Selbstverteidigung stolzer Besitzer von sechs Pistolen und Karabinern, die er zu Hause aufbewahrt. Mit Waffenschein und auch mit der Lizenz zur Selbstverteidigung.

Eigentlich ein Fall für eine rechte Bilderbuchkarriere, wenn diese nicht vor elf Jahren einen Knick bekommen hatte, den er erst jetzt bewältigen kann: Damals führte noch der Grandseigneur Gianfranco Fini die „Alleanza Nazionale“ (AN), die postfaschistische Vorgängerin der FdI, und Fini persönlich war es, der Pozzolo aus der Partei warf, da er ein „Balengo“ (so nennt man in Piemont einen Minderbemittelten) und „verbalradikaler Gewalttäter“ sei, der in der AN nichts zu suchen habe. Als dann Meloni und der Waffenlobbyist Crosetto (der heutige Verteidigungsminister) die FdI gegründet wurde, wurde Fini aufs Altenteil verbannt und Pozzolo rehabilitiert: Meloni und Crosetto nahmen ihn wieder mit offenen Armen auf. Seitdem ist er ein glühender Anhänger von Meloni und ihrer „fantastischen Triade Gott, Vaterland, Familie“. Und findet für den „Verräter Fini“ nur noch Worte der Verachtung.

Pozzolos Auftritt

Dieser neue Stern am Himmel der norditalienischen Rechten erschien eine gute Stunde nach dem Jahreswechsel im Pro loco von Rosazza, um seinem Freund Delmastro seine Aufwartung zu machen. Mit einem etwas ungewöhnlichen Mitbringsel, wenn man bedenkt, dass er zu einer privaten Feier mit Freunden ging, mit dem er aber offenbar hoffte, zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu werden: ein neu erworbener Mini-Revolver der Marke North American Arms, Kaliber 22, den man wegen seiner Kleinheit auch für einen Zigaretten-Anzünder halten könnte, aber 6 Patronen in der Trommel hat. Um es richtig spannend zu machen, hatte Pozzolo die Idee, ihn geladen mitzubringen.

Was dann geschah, liegt noch im Nebel widersprüchlicher Aussagen und noch nicht beendeter polizeilicher Ermittlungen. Klar ist bisher nur, dass ein Schuss fiel und am nächsten Morgen einem der Anwesenden – dem Schwiegersohn des Eskorten-Führers, den dieser als Verwandten mitgebracht hatte – eine Kugel aus dem Körper geholt wurde, die aus dem Revolver stammen musste. Über allem steht eine Gewissheit, die wegen ihrer politischen Wichtigkeit unisono von allen Anwesenden bezeugt wird: Der Staatssekretär sei nicht involviert gewesen, weil er im Moment des Schusses gerade damit beschäftigt war, die überzähligen Essensreste in seinem Auto zu verstauen. Er kam also weder als Täter noch als Zeuge in Frage. Worauf er offenbar Wert legt: Als er vom Gang zum Auto zurückkam, seien die noch Anwesenden in Panik gewesen. Auf seine Frage, was denn los sei, und ihm die Sache mit dem Pistolenschuss berichtet wurde, soll er nach kurzem Überlegen nur gesagt haben: „Davon will ich nichts wissen“.

Wer hat geschossen?

Der Nebel beginnt bei der Frage, wer geschossen hat. Das Opfer, das als Verwandter des Eskorte-Führers mitgekommen war und es eigentlich wissen müsste, sagt, dass der Abgeordnete die Pistole in der Hand hielt, als der Schuss losging, und hat Anzeige gegen Pozzolo erstattet. Der wiederum sagt, in dieser Nacht auf niemanden geschossen zu haben. Was juristisch versierte Journalisten zu dem Kommentar veranlasste, dass er dann an diesem Abend seine – geladene! – Pistole aus der Hand gegeben haben muss, was aber heißen würde, seine mit dem Waffenschein verbundene Aufsichtspflicht verletzt zu haben – ein noch größeres Vergehen als ein aus Versehen ausgelöster Schuss, weshalb ihm die Behörden auch gleich seinen Waffenschein entzogen. Woraufhin Pozzolo – nach ein paar Tagen Nachdenken – bekundete, dass er wisse, wer geschossen habe, aber dies nur der ermittelnden Staatsanwältin sagen werde. Gleichzeitig tauchte eine weitere Version des Tathergangs auf, deren Charme darin besteht, mehr oder minder alle zu entlasten: Pozzolo sei die Waffe aus der Tasche gefallen und von dem gerade in der Nähe befindlichen Schwiegersohn des Eskorten-Führers aufgehoben worden – der sich dabei aus Versehen ins eigene Bein geschossen habe. Das Opfer selbst war der Täter!

Aber die Sache ist noch nicht abgeschlossen, die Polizei ermittelt noch. Nun schwant dem Abgeordneten Pozzolo, dem von Amts wegen die verpflichtende Anrede „ehrenwert“ zukommt, dass es in dieser Angelegenheit noch ein zweites Opfer geben könnte, nämlich ihn selbst. Es begann damit, dass ihm die Behörden den Waffenschein entzogen, was für ihn schon schlimm genug war. Dann „suspendierte“ ihn Giorgia Meloni wenigen Tage nach Silvester von seiner Mitgliedschaft in der FdI-Fraktion der Abgeordnetenkammer. Was Pozollo zunächst tapfer hinzunehmen schien – er verstehe, dass dies im höheren Interesse der Partei geschehen sei, sagte er den Reportern, wohl auch im Vertrauen darauf, dass eine solche Suspendierung ja bald wieder rückgängig zu machen ist. Aber inzwischen, verriet er vor wenigen Tagen der Zeitung „Il Foglio“, fühlt er sich in die Enge getrieben und beginne, die Dinge anders zu sehen: „In den Fratelli d’Italia geschieht Merkwürdiges: Man versucht mich umzubringen, um andere zu retten“. Denn nicht nur die Medien würden versuchen, ihn als „Pistolero“ fertig zu machen, sondern auch der Partei-Koordinator Donzelli habe nun schon von seiner verletzten Fürsorgepflicht geredet, und seit Silvester habe auch sein einstiger Freund Delmastro, der für ihn wie „ein Bruder“ gewesen sei, nicht mehr von sich hören lassen.

Pozzolo stellt sich quer

Und legt dann mit einer Bemerkung nach, von der er wissen dürfte, dass er damit in der FdI-Führung die Puppen zum Tanzen bringt: Wenn jetzt Delmastro behaupte, vom eigentlichen Geschehen nichts mitbekommen zu haben, weil er bei seinem 300 Meter entfernten Auto gewesen war, sei das eine „Übertreibung“. Und deutet gleich eine vierte Version des Tathergangs an: Der Eskorten-Führer sei der Mann, der – vielleicht aus Versehen – den eigenen Schwiegersohn angeschossen habe (was bei einem Mann, der sich mit Waffen auskent, eher unwahrscheinlich ist). Und den jetzt Delmastro mit aller Macht zu retten versuche. Womit er den Verdacht in Richtung auf einen „Unantastbaren“ lenkt, denn von Delmastro ist bekannt, dass er ein Favorit Melonis ist.

Ein anderes Verhältnis zur Gewalt

Warum diese detaillierte Schilderung dessen, was Silvester in Rosazza geschah? Weil sie am kleinen Beispiel des Umgangs mit Waffen den Humus zeigt, aus dem die rechtsautoritäre Regierung ihre Blüten treibt. Eine Mischung von unbedingtem Machtwillen, Nepotismus und Bereitschaft zur Rechtsbeugung. Latent ist die Neigung zum gelockerten Schusswaffengebrauch in Italien schon länger vorhanden: Es gab rechte Bürgermeister von Treviso und Padua, die in ihren lokalen Wahlkämpfen mit Waffen posierten, um zu zeigen, was unerwünschte Migranten von ihnen zu erwarten haben. Salvini, der sich nicht nur im Putin-Hemd, sondern auch schon mit einer Bazooka ablichten ließ, lockerte als Innenminister der Conte1-Regierung die Lizenz zur „legitimen Verteidigung“, sprich zum Töten zum Beispiel bei vermuteten Hauseinbrüchen. Und Abgeordnete der FdI versuchen gerade, das Alter für den Zugang zu Jagdwaffen auf 16 Jahre abzusenken.

Meloni besucht Biden, aber man hat den Eindruck, dass sie auch sehr gut mit dem ganz anderen Präsidenten zurechtkäme, der ihn vielleicht im kommenden Herbst ersetzen könnte.

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