Der Fall Carlo Rovelli

Dass ein Regimewechsel stattfindet, erkennt man nicht immer nur daran. dass neue Machthaber auftreten, sondern manchmal auch an dem Eifer, mit dem die Opportunisten der zweiten Reihe ihre Fähnchen plötzlich andersherum in den Wind hängen.

Der Schuster, der nicht bei seinen Leisten blieb

Im Jahr 2024 wird Italien Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein, was unter anderem bedeutet, dass bei ihrer Eröffnung einige wichtige Persönlichkeiten dieses Landes Reden halten werden. Der italienische Professor Carlo Rovelli ist eine international bekannte Koryphäe für theoretische Physik, den noch die Regierung Draghi 2022 für einen solchen Auftritt ausersehen hatte. Da es aber inzwischen in Italien zu einem Regierungswechsel kam, könnte es in der neuen Regierungsmehrheit den Zweifel geben, ob er für diese Aufgabe der richtige Mann ist. Denn der berühmte Physiker hat eine Eigenschaft, mit der er nicht hinter dem Berg hält: Er ist auch politisch ein kritischer Geist. Am 1. Mai hatte er bei dem römischen „Concertone“ (einer traditionellen Musikveranstaltung der drei großen Gewerkschaftsverbände, die vor allem die Jugend anzieht und meist bis in die Nacht geht) einen Auftritt. Bei dem er, der überzeugte Pazifist, sich gegen jeden Waffeneinsatz aussprach, und in diesem Zusammenhang auch den „Interessenkonflikt“ kritisierte, in dem sich Guido Crosetto befinde, der neue Verteidigungsminister der Meloni-Regierung, der sich bisher auch als Lobbyist des italienischen Rüstungskonzerns Leonardo betätigte.

Der Brief

Das blieb nicht folgenlos, wie sich bald zeigte. Am 12. Mai postete Rovelli im Facebook:

„Italien hat mich gebeten, es bei der Eröffnungsveranstaltung der Frankfurter Buchmesse zu vertreten. Da ich es wagte, den Verteidigungsminister zu kritisieren, wurde mein Redebeitrag gestrichen“. Und er fügte dieser Mitteilung das Schreiben des italienischen Sonderbeauftragten für die Buchmesse (den gibt es!) bei, das ihn am gleichen Tag erreicht hatte:

„Lieber Herr Professor,

mit großem Bedauern schicke ich mich an, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Mit großem Bedauern, aber ohne Verstellung meinerseits.

Das Aufsehen, das Echo und die Reaktionen, die Ihr Redebeitrag zum 1. Mai-Konzert auslösten, geben mir Anlass zu einer Vermutung, die schon fast an Gewissheit grenzt: Ihr Vortrag bei der Eröffnungsfeier der Buchmesse, bei der Italien der Ehrengast sein wird, den ich mir so stark ausgemalt und gewünscht hatte, könnte wieder zum Anlass für Polemik und Anfeindungen werden, statt unter Ihrer Anleitung die Faszination der Forschung zu genießen und einen Blick auf die Grenzen des Wissens zu werfen.

Denn wozu ich mich vor allen Dingen verpflichtet fühle – und wofür ich auch persönlich die ganze Verantwortung übernehme -, ist zu vermeiden, das eine solche feierliche Gelegenheit und zu Recht auch des nationalen Stolzes für diejenigen, die an diesem Tag Italien vertreten, zur Ursache einer Verlegenheit („imbarazzo“) wird. Wobei ich Ihnen auch nicht meine Hoffnung verschweige, dass dabei unser Land auf höchster institutioneller Ebene vertreten sein könnte.

Ich neige zu der Annahme, dass Sie der erste sind, der sich die möglichen Szenarien vorstellen kann, zu denen es nach Ihren Worten kommen könnte. Freilich kann dies nicht, das weiß ich, die Härte dieses Briefes mildern. Ein Brief, den ich nie hätte schreiben wollen. Ich hoffe aber, dass er wenigstens dazu beitragen kann, mir Ihre Freundschaft zu erhalten.Verbunden mit dem Wunsch, möglichst bald ein neues Buch von Ihnen lesen zu dürfen und Ihnen vielleicht sogar persönlich zu begegnen, sende ich Ihnen, lieber Herr Professor, meine besten Grüße.

Ricardo Franco Levi

Sonderbeauftragter für die Frankfurter Buchmesse 2024″

Kultur und Macht

Wir haben versucht, bei der Übersetzung dieses Briefs ein wenig von dem geschwollenen Stil zu erhalten, in dem er geschrieben ist. Denn dieser passt zu dem paradoxen Inhalt: einerseits ein schlichter Rausschmiss, andererseits Betteln um weitere Freundschaft. Mit der „Verlegenheit“ („imbarazzo“) als Begründung, welche ein Physiker, der ein Regierungsmitglied kritisierte, bei einer möglicherweise anwesenden „institutionellen“ Spitze – sei es ein Präsident, eine Regierungschefin oder ein Minister – auslösen könnte. Bei einer Buchmesse, die sich als Ort der geistigen Freiheit feiert, wird einem Wissenschaftler ein Maulkorb verpasst, der zuvor einmal sein staatsbürgerliches Recht wahrnahm, ein Regierungsmitglied zu kritisieren. Kultur ist gut, aber die Macht steht höher, ist die Botschaft, und ihr darf man nicht in die Quere kommen, auch nicht bei einer Buchmesse in einem anderen Land. Dass es ein autoritäres Regime ist, welches die neue Regierung in Italien zu etablieren sucht, dafür ist dieser Fall ein weiteres Indiz. (Über weitere Indizien werden wir noch berichten müssen, z. B. über die gerade begonnene „Säuberung“ des Fernsehens).

Rückzug

Das aber ist im Fall Carlo Rovelli erst die halbe Geschichte. Sie hat eine Fortsetzung, in deren Mittelpunkt die Person des „Sonderbeauftragten“ Ricardo Franco Levi steht, der sich mit dem von uns übersetzten Brief zum Sprachrohr einer Regierung macht, die Kritik nicht ertragen kann. Und der diesen Brief, wie sich inzwischen herausgestellt hat, ohne Auftrag, d. h. aus eigener Initiative in vorauseilendem Gehorsam schrieb: Als die Entscheidung über den Rausschmiss bekannt wurde und Rovelli den Brief im Facebook veröffentlichte, gab es viel öffentliche Empörung. Woraufhin sich die Ministerien mit Versicherungen überboten, dass von ihnen niemand eine derartige Empfehlung ausgesprochen hätte. Nun war es plötzlich Levi, der im Regen stand und einen ihn selbst demütigenden Rückzug antreten musste, indem er einen einen weiteren Brief schrieb, der den Rausschmiss wieder rückgängig machte, garniert mit vielen Versicherungen, dass das nun zurückgenommene Auftrittsverbot doch gar keine versuchte „Zensur“ gewesen sei, sondern nur „aus Respekt vor Rovellis intellektueller Statur“ geschah, „um ihn vor möglichen Missverständnissen zu beschützen“ – eine Besorgnis, die sich jetzt zum Glück erledigt habe.

Der Mann mit der linken Vergangenheit

Wer ist dieser Ricardo Franco Levi, dessen Übereifer, der neuen Regierung einen Dienst zu erweisen, mit einer solchen Demütigung endet? Er ist seit 2017 Präsident des „Italienischen Verleger-Verbandes“ („Associazione italiana editori“, AIE), den im Frühjahr 2022 der damals noch amtierende Mario Draghi zum Sonderbeauftragten für die Frankfurter Buchmesse ernannte. Levi ist ein Mann mit politischer Vergangenheit: Er war lange ein enger Mitarbeiter von Romano Prodi, der ihn zeitweise zum Pressesprecher seiner Regierung machte, und er war sieben Jahre lang (von 2006 bis 2013) PD-Abgeordneter. Könnte dies gerade der Grund für seinen vorauseilenden Gehorsam gegenüber der neuen Rechtsregierung sein? Mit einem weiteren banalen Motiv: Levis Auftrag als Sonderbeauftragter endet vertraglich im Dezember 2023, während die Frankfurter Buchmesse erst im Oktober 2024 stattfindet. Da wäre eine Verlängerung von Levis Auftrag eigentlich natürlich. Und um dieses „eigentlich“, so die naheliegende Vermutung, kämpft er.

Es ist unwahrscheinlich, dass Levis Demutsbekundungen ein Einzelfall sind, siehe die veränderte Berichterstattung im italienischen Fernsehen. Der Opportunismus war schon immer eine Ressource der Macht. Historische Beispiele gibt es zur Genüge.

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