Der Grillo-Effekt

Vor einigen Monaten hatten wir in unserem italienischen Dorf G. zu Gast, von dem wir bis wussten, dass er eigentlich Vendolas SEL („Sinistra, Ecologia, Libertà“) nahe steht. Aber an jenem Abend äußerte er Kritik an Vendola, der sich für seinen Geschmack zu wenig um die „Bewegungen“ und zuviel um die große Politik kümmere. Da solle er sich doch von Grillos „5-Sterne-Bewegung“ eine Scheibe abschneiden (die eben bei den Kommunalwahlen vielerorts zur dritten politischen Kraft geworden war).

Kein ganz untypischer Fall. G. ist einer der vielen jungen Leute, die der politische Aufbruch der letzten anderthalb Jahren in Italien geprägt hat. Wobei sie die Erfahrung machten, durch persönlichen Einsatz für eine gerechte Sache – z. B. gegen die Privatisierung des Wassers – Dinge in Bewegung setzen zu können, die bisher unverrückbar schienen. Dadurch wuchs ihr Selbstbewusstsein, aber gleichzeitig sank ihr Vertrauen in die Parteien, denn bei ihnen sahen sie vor allem Kompromisslertum, Kungelei und Korruption. Nur die SEL schien immun, allein schon deshalb, weil sie unverbraucht und innovativ ist und auf „Bewegungen“ setzt (ihr bleibt nicht viel anderes übrig, bei der letzten Wahl erreichte sie in beiden Kammern nicht die Sperrminorität). Allerdings: Ihr Vorsitzender ist nicht ganz so „außerparlamentarisch“: Er ist auch Präsident der Region Apulien und möchte bei der nächsten Wahl mit der PD ein Bündnis eingehen. Das erfordert Kompromisse, erst recht, wenn auch Casinis UDC in diese Koalition aufgenommen wird. Obwohl dies vielen in der SEL Magenschmerzen verursacht (auch G.), deutete Vendola kürzlich an, er könne sich nach der nächsten Wahl auch eine solche erweiterte Koalition vorstellen. Aufgrund der Proteste aus der eigenen Partei-Basis musste er es schnell wieder dementieren.

Aktivisten wie G. scheint Grillos 5-Sterne-Bewegung auf den ersten Blick eine Alternative zu zeigen: keine Zusammenarbeit mit anderen Parteien, keine Kompromisse, „Bewegung von unten“ und trotzdem Erfolg: 20 Prozent soll mittlerweile das Wählerpotenzial der 5-Sterne-Bewegung sein. In Parma stellt sie sogar den Bürgermeister, vor allem aufgrund der Stimmen ehemaliger PdL- und Lega-Wähler, was nicht ganz zum Image der „Reinheit“ passt. Aber zeugt es nicht von Stärke, wenn man auch rechte Protestwähler anzieht? Dass auch Berlusconi Grillo bewundert, ist für G. marginal. Für ihn hat Gewicht, dass er im Kampf gegen die Privatisierung des Wassers mit den Leuten der 5-Sterne-Bewegung Seite an Seite stand. Warum denn nicht bei der nächsten Wahl eine große Bürgerliste, mit all denen, die sich nicht durch die Unterstützung der Regierung Monti die Finger schmutzig machten? Mit Vendolas SEL, Di Pietros IdV, Grillos 5-Sterne-Bewegung und vielen neuen und unverbrauchten Gesichtern, ohne die PD?

Das ist die Versuchung, die Mittelinks spalten könnte, und genau diesen Vorschlag brachte der Parteichef der IdV, Di Pietro, nun in die Diskussion. Mangelnde Konsequenz kann man ihm dabei nicht nachsagen: Seine Polemik gegen Monti, gegen UDC und PD und vor allem auch Staatspräsident Napolitano ist inzwischen so schrill geworden, dass sie sich von Grillos Auftritten auf den italienischen Marktplätzen kaum noch unterscheidet.

Grillo verweigert ihm bisher dieses Bündnis, für das Di Pietro schon einen symbolischen Preis bezahlt hat. Auf Di Pietros Homepage erschien ein Video, das Alfano, Casini und Bersani als Untote (Zombies) mit schwarzblütigen Larven statt Gesichtern präsentierte. In vorauseilender Hörigkeit gegenüber den Auftritten Grillos, der unter dem Jubel seiner Anhänger am Ende langer Keifkanonaden gegen die Politiker-Kaste zu schreien pflegt: „Das sind Tote! Das sind alles Tote!“. Mit Toten lohnt bekanntlich keine Auseinandersetzung mehr. Der Abstand zum entmenschenden Vokabular deutscher Rechtsradikaler („Zecken klatschen“) ist nur noch gering. Der Gedanke schmerzt, dass Freund G., der den Anstand in der Politik sucht, nun vielleicht hinter Grillo herläuft.

In Italien gab es in den letzten Jahren wunderschöne Bewegungen, die Hoffnung machten, weil sie den verbreiteten Hunger nach Partizipation und Wiederaneignung zeigten. Was fehlt, ist ihre Verklammerung mit der institutionellen Politik, obwohl es dafür viele Ansatzpunkte gibt, von den „Primarie“ bis zu den Referenden. In einer funktionierenden Demokratie ergänzen sich institutionelle Politik und Bewegungen. In Italien gleichen sie immer noch Planetensystemen, die um verschiedene Sonnen rotieren, Lichtjahre voneinander entfernt.

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