Der stillgelegte Staatsbürger

Was bedeutet es, wenn der Regierungschef eines Landes sagt: „In meinem Land wird zuviel abgehört und gibt es zuviel Pressefreiheit“, und ankündigt, dem „Schutz der Privatsphäre“ wieder mehr Geltung zu verschaffen? Man müsste wohl antworten: Es kommt darauf an. Würde es sich um ein Land handeln, in dem die Medien gerne Hexenjagden mit wahren oder erfundenen Geschichten gegen Leute veranstalten, die sich nicht wehren können, müsste man antworten: Hier ist die Balance zwischen Pressefreiheit und Schutzrechten des Einzelnen gestört. Und lägen dem Regierungschef die Bürgerrechte am Herzen, müsste man hinzusetzen: Der Mann hat recht, hier muss etwas geändert werden.

Wie aber, wenn es sich so verhält: Der Regierungschef, der die Pressefreiheit einschränken will, ist ein steinreicher Mann, der sein Milliarden-Imperium mit Mitteln erwarb, welche die Justiz auf den Plan riefen? Der das Land regiert mit Menschen, für die Korruption ein Kavaliersdelikt ist und die ihre Geschäfte gern im Schatten der Macht betreiben? Der seine politische Macht nutzt, um einerseits die Justiz daran zu hindern, ihn und seine Umgebung zur Rechenschaft zu ziehen, und andererseits der noch vorhandenen Presse zu verbieten, diese Machenschaften öffentlich zu machen? Und außerdem über das Fernsehmonopol verfügt und längst in allen Wohnzimmern seines Volkes präsent ist?

Vor wenigen Tagen drückte es der Autor von „Gomorrha“, Saviano, so aus: Die Privatsphäre, die hier geschützt werden soll, ist nicht die der Bürger, sondern derer, die die Macht haben. Aber in einer Hinsicht will er tatsächlich die „Privacy“ aller Italiener schützen: vor den Interventionen der anderen, die in sie eindringen könnten. Er selbst schenkt ihnen doch die Welt, die sie sich wünschen, auf allen Kanälen: Sport, Unterhaltung, Musik, schöne Frauen, die ganze Leichtigkeit des Seins. Und während sie vor den Fernsehsendern sitzen, arbeiten er und seine Mitarbeiter für das Wohl des Landes. Zahlen die Menschen ihre Gebühren etwa dafür, so fragt der Leader, dass ihnen von Hass zerfressene Journalisten (wie Michele Santoro usw.) Geschichten vorsetzen über angebliche Missetaten derer, die sich im Dienste am Volk aufreiben? Und dazu auch noch Wortprotokolle von mitgehörten Telefongesprächen vorlegen, wozu sie überhaupt kein Recht haben? Wenn der Leader sich vor den Lauschangriffen der Justiz wehrt, schützt er auch sein Volk gegen die Missgünstigen und Bösen, deren Geschäft nur Verunglimpfung, Spaltung und Zerstörung ist.

Es passt zusammen: B., der direkt mit dem Volk kommuniziert, mit dem er seinen „Pakt“ schließt, ohne Vermittlung durch Parteien. Er ist es, der diesen Pakt exekutiert. Der seinem Volk über das Fernsehen eine eigene schöne Welt schenkt. Und es davor schützt, mehr zu sein als ein Volk der vielen Individuen, die unterhalten werden wollen. Der sie bewahren will vor Informationen über die Ermittlungen einer parteiischen Justiz, die ihren Frieden stören könnten. Der sie beschützt vor der Zumutung einer Staatsbürgerlichkeit, die sich informiert und kritisch in ihre eigenen Angelegenheiten einmischt.

Man glaube nicht, dass B. mit dieser Botschaft in seinem Volk auf taube Ohren stößt. Untersuchungen aus früheren Zeiten zeigen, dass es ursprünglich das Publikum seiner Privatsender war, das ihn wählte. Jetzt macht er damit Ernst, auch alle staatlichen Fernsehkanäle unter seine Kontrolle zu bringen. Und zwar mit Methoden, die den Namen „Säuberung“ durchaus verdienen. Das „Regime“ bekommt Konturen.

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