Versuch eines Comebacks

Am Donnerstag, den 30. Juli, beschloss der Senat mit knapper Mehrheit, Salvinis Immunität wegen eines Verfahrens aufzuheben, das die Justiz gegen ihn einleiten möchte. Es geht um ein Ereignis in seiner Zeit als Innenminister, als er mit allen Mitteln zu verhindern suchte, dass Flüchtlinge, die NGO-Schiffe aus dem Meer gerettet hatten, in Italien an Land gebracht wurden. In diesem Fall betraf es etwa hundert Migranten, die das spanische Rettungsschiff „Open Arms“ im August 2019 an Bord genommen hatte. Salvini ließ sie drei Wochen lang buchstäblich in der Sonne schmoren, indem er dem Schiff die Einfahrt in italienische Gewässer untersagte, obwohl es völlig überfüllt war und sich unter den Geretteten auch Frauen und Kinder befanden, die den libyschen Lagern entronnen waren. Was Salvinis Verhalten zusätzlich zur reinen Schikane machte, war die längst vorliegende Zusage einiger europäischer Regierungen, die Flüchtlinge aufzunehmen. Aber er wollte offenbar ein Exempel statuieren: Je brutaler ich vorgehe, desto populärer werde ich. Erst als die italienische Staatsanwaltschaft die Situation an Bord der „Open Arms“ inspiziert hatte, verfügte sie (gegen Salvinis Willen) die Anlandung der Flüchtlinge.

Wiederholungstäter

Flüchtlinge auf der „Open Arms“

Schon im August 2018, also zwei Monate nachdem er Innenminister geworden war, hatte Salvini zehn Tage lang verhindert, dass in Sizilien 200 Flüchtlinge an Land gehen konnten, obwohl es in diesem Fall die eigene italienische Küstenwache war (die „Diciotti“), die sie aus dem Meer gefischt hatte, und obwohl unter den Flüchtlingen, zu denen auch Minderjährige und vergewaltigte Frauen gehörten, Krankheiten wie Tuberkulose und Krätze grassierten. Hier begann die Staatsanwaltschaft erstmals gegen Salvini zu ermitteln, was aber damit endete, dass der Senat, in dem damals noch 5SB und Lega Verbündete waren, mehrheitlich die Aufhebung seiner Immunität ablehnte.

Damit schien für Salvini die Bahn frei zu sein, und er soll als Innenminister auf diese Weise in 25 ähnlich gelagerten Fällen die Anlandung verhindert oder zumindest verzögert haben. Auch wenn dies nicht immer glatt ging: Im Juni 2019 kommt ihm Carola Rackete (die „deutsche Zecke“) mit ihrer „Sea watch“ in die Quere, die dann auch noch von der italienischen Justiz unterstützt wird, als er sie exemplarisch bestrafen will. Aber Salvini macht weiter, und im Juli 2019 ist es das Küstenwachschiff „Gregoretti“, dem er sechs Tage lang die Anlandung von 130 geretteten Flüchtlinge verbietet, obwohl die hygienischen, medizinischen und psychischen Zustände an Bord unhaltbar geworden sind. Auch hier kommt es zu einem Ermittlungsverfahren, für das der Senat im Februar 2020 erstmals grünes Licht gibt, da die 5SB mit ihrem Bündnispartner (der jetzt die PD ist) auch ihre Gesinnung gewechselt hat, und diesmal mit Ja stimmt. Dieser Prozess beginnt im Oktober.

Die Anklage, die Salvini in beiden Fällen erwartet, könnte ihm im Fall seiner Verurteilung bis zu 15 Jahre Gefängnis einbringen. Denn das Festsetzen von Menschern, also auch von Flüchtlingen, ist laut Art. 13 der italienischen Verfassung nur in definierten Grenzen möglich (sie müssen innerhalb von 48 Stunden einem Richter zugeführt werden und ihre Festsetzung von ihm in maximal 48 Stunden bestätigt werden). Erschwerend sei, dass Salvini dabei als Innenminister handelte, die Festsetzung also als Hoheitakt geschah, und dass zu den Flüchtlingen Minderjährige gehörten. Eine Verurteilung könnte Salvini auch die politische Existenz kosten, denn dann droht ihm aufgrund des sog. „Severino-Gesetzes“ die Unwählbarkeit. Wie es 2013 Berlusconi geschah, nachdem er im Mediaset-Prozess zu vier Jahren Haft verurteilt worden war.

Verteidigung und Angriff

Salvinis Prozessstrategie besteht in dem Versuch, sich nicht nur juristisch zu verteidigen, sondern dabei auch politisch in die Offensive zu kommen. Juristisch habe er mit seinen Verboten der  Anlandung doch nur „das Vaterland verteidigt“, was laut Art. 52 der italienischen Verfassung „heilige Pflicht“ sei. Ob allerdings das Anlanden von ein paar hundert aus dem Mittelmeer gefischten Flüchtlingen „das Vaterland bedroht“ und sich damit das von der Verfassung geschützte Recht auch der Flüchtlinge auf persönliche Freiheit aushebeln lässt, ist auch juristisch mehr als fragwürdig. Es charakterisiert die Rechtspopulisten, die von der Verfassung garantierten Persönlichkeitsrechte nur den eigenen Staatsbürgern zugestehen wollen. Das zweite Argument, das Salvini vortragen wird, ist schon substanzieller: Für einen Schuldspruch muss ihm nachgewiesen werden, dass er für die Schiffsblockaden die entscheidende Verantwortung trug, wogegen er behauptet, dass seine Migrationspolitik von der gesamten Conte I-Regierung getragen wurde. Es wird nicht ganz einfach sein, dies zu widerlegen, denn zwischen den Regierungspartnern 5SB und Lega gab es hier im Grunde Einverständnis. Allerdings hatte sich Salvini mit den Sicherheitsgesetzen ein Instrument geschaffen, das dem Innenminister hier eine Art Machtmonopol sicherte.

Noch wichtiger als die juristische Selbstverteidigung wird allerdings der politische Dreh sein, den Salvini den bevorstehenden Prozessen zu geben versucht. Wobei er sich wie der angeschlagene Boxer verhält, der von nun an alles auf eine Karte setzen will. Denn seit den Brüsseler Beschlüssen stößt sein Antieuropäismus ins Leere, laut Umfragen ist der Konsens mit ihm zurückgegangen. Er schwankt derzeit zwischen 24 und 26%, also 8 bis10% weniger als bei den Europawahlen 2019 (über 34%). Ein Verlust, von dem vor allem die postfaschistischen Fratelli d‘ Italia (FdI) von Giorgia Meloni profitieren. Wie in Deutschland hat auch in Italien die Corona-Pandemie die Regierung – besonders den Regierungschef – gestärkt. Ministerpräsident Conte führt mit Abstand (63%) die Liste der beliebtesten Politiker. Salvini folgt, nach Meloni und Gesundheitsminister Speranza, erst an vierter Stelle mit 31%. – in der Opposition fällt es ihm schwer, die gleiche mediale Präsenz wie als Innenminister zu erreichen. Bei einem Teil der traditionellen Lega-Anhänger in Norditalien erregt seine Hinwendung von der autonomistischen zur nationalistischen Ein-Mann-Politik (was bisher „Lega Nord“ hieß, heißt jetzt „Lega für Salvini Premier“) auch Unzufriedenheit.

Selbstinszenierung als Opfer

Da stellen die anstehenden Prozesse für Salvini nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Art letzte Chance dar. Denn sein Erfolgsrezept war schon immer die Migrantenpolitik, und die Prozesse bieten Gelegenheit, zu diesem Thema zurückzukehren – insofern soll er die Prozesse sogar ein „Geschenk“ genannt haben. Zumal die reale Entwicklung die Flüchtlingsfrage wieder „heiß“ macht: Die Zahl der Boote, die wie in jedem Sommer bei günstigem Wetter kommen, steigt, diesmal kommen sie auch aus Tunesien, wo die wirtschaftliche Krise, die die Menschen in die Flucht treibt, jetzt auch noch durch die Pandemie verstärkt wird,. Apropos Pandemie: Lässt sie sich nicht wunderbar mit der „Invasion“ zu einem neuen Horror-Szenario verbinden? Die Migranten aus Afrika verstärken nicht nur das Heer der „Illegalen“, sondern importieren auch noch das Virus, die Regierung tut nichts, und ihn, der als Einziger etwas dagegen getan hat, wollen sie deshalb auch noch ins Gefängnis stecken.

Aber Salvini wäre kein Populist, wenn er die Auseinandersetzung nicht um eine Gewindedrehung weiter ins ganz Grundsätzliche treiben würde. Am 29. Juli erklärte er im Senat, für ihn sei das „einzig zählende Tribunal das Volk“. Bei Licht betrachtet ist dies eine Absage an die Gewaltenteilung und an die Unabhängigkeit der Gerichte. Und damit auch an die repräsentative Demokratie, in der die demokratischen Organe und damit auch das Volk im Rahmen der Verfassung und des Recbts handeln müssen. Worin auch Salvinis Selbsternennung zum Duce, zum Caudillo steckt, denn nur wer sich in dieser Weise zur absoluten Herrschaft eines „fiktiven“ Volkes bekennt, ist auch berufen, sein Ausdruck zu sein.

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