Disput der alten Männer

Der eine, Eugenio Scalfari, ist 90, der andere, Giorgio Napolitano, 91. Der eine ist in Italien eine Ikone des linksliberalen Journalismus, gründete die „Repubblica“ und schreibt jeden Sonntag seine „Messa cantata“ über Gott und die Welt. Der andere war ein knappes Jahrzehnt Staatspräsident, begleitete in dieser Funktion Berlusconis Ab- und Renzis Aufstieg und ist Senator auf Lebenszeit. Man muss die alte Schule genießen: Bevor sie sich in den Ring begeben, drei Verbeugungen, feierliche Reden über Ehre und Freundschaft. Und jeder zeigt sich von den diesbezüglichen Äußerungen des Anderen „tief bewegt“.

Ein erster Vorstoß Napolitanos

Dann kommen sie zur Sache, und nun rasseln die Säbel. Es geht um Renzis Senatsreform, die Anfang September verabschiedet werden soll und die Gemüter erhitzt. Hier sind die beiden Antipoden. Den Anfang macht Napolitano am 6. August mit einem offenen Brief an den „Corriere della Sera“, in dem er nochmals die Grundabsicht der Reform verteidigt (bei der er als Staatspräsident Geburtshilfe leistete). Der „paritätische (perfekte, HH) Bikameralismus“ sei eine „historische Anomalie“: zwei vom Volk auf unterschiedliche Weise gewählte Kammern, in denen es unterschiedliche politische Mehrheiten geben kann, die aber im Hinblick auf Gesetzgebung und Regierung identische Kompetenzen haben. Jede Regierung braucht demnach das Vertrauen, jedes Gesetz die Zustimmung beider Kammern. Dies sei zu überwinden und die Rolle des Senats darauf zurückzustutzen, dass er nur noch „die territorialen Institutionen repräsentiert“. Dann ergreift Napolitano in der Frage Partei, um die sich gegenwärtig alles dreht: ob die Mitglieder des neuen Senats weiterhin direkt vom Volk gewählt werden sollen. Renzis Reform ist dagegen, eine breite Front von links bis rechts ist dafür. Für Napolitano ist es „auszuschließen“. Die Anhörung der Experten durch die zuständige Senatskommission habe ergeben, dass es der angestrebten Senatsreform die Grundlage entziehen würde.

Scalfaris Gegen-Messe

Scalfari und Napolitano

Scalfari und Napolitano

In seiner „Messa cantata“ vom 9. August nimmt Scalfari den Fehdehandschuh auf: Zwar müsse dem Senat das Recht entzogen werden, der Regierung das Vertrauen (oder Misstrauen) auszusprechen. „Aber alle anderen gesetzgeberischen Kompetenzen müssen fortbestehen“. Zwar könne man sich ein monokamerales System vorstellen, indem diese Aufgabe, wie in anderen Ländern Europas auch, ein einziges Parlament übernehme. Dies setze jedoch voraus, „dass die Wahlen zu dieser Kammer ein getreues Abbild der Volkssouveränität sind“. Das von Renzi durchgesetzte Wahlgesetz (‚Italicum‘) führe zu einem Parlament, „das zum großen Teil aus von der amtierenden Regierung ‚Ernannten‘ besteht… Die gesetzgebende Gewalt wird deklassiert und der Exekutive untergeordnet; der Ministerpräsident ‚Alleinherrscher‘, im Widerspruch zur parlamentarischen Demokratie“. Ob Napolitano wirklich eine derartige „Autokratie“ wolle?

Damit hat Scalfari seinen Trumpf ausgespielt: Nicht die Abschaffung des Senats als solche ist der Sündenfall, aber sie wird es in Kombination mit dem neuen Wahlgesetz. Welches die verbleibende Kammer in ein Parlament verwandelt, das „zum großen Teil“ aus Nickemännern und –frauen besteht. Damit wird die Senatsreform zur Etappe eines finsteren Gesamtplans, dessen eigentlicher Zweck – hier beruft sich Scalfari auf den Politologen Angelo Panebianco – Renzis Absicht sei, aus der PD eine sozial nicht mehr verortbare und nur noch auf ihn selbst fixierte „Partito della Nazione“ zu machen. Panebianco: „Der ‚Partito della Nazione‘ muss seine fehlende soziale Verankerung durch den Machtzuwachs der Exekutive kompensieren. Deshalb ist die Senatsreform so wichtig, und deshalb will sie die Minderheit (der PD, HH) mit allen Mitteln verhindern, um das eigene Überleben zu sichern. Sie weiß, dass ein Renzi keine Gefangenen macht“.

Grandseigneurs sind sie beide, aber das hindert Scalfari nicht an einem kleinen Tiefschlag, indem er Napolitano nahelegt, sich als Ex-Staatspräsident mit seinen Meinungsäußerungen mehr zurückzuhalten. Was wäre, so fragt er, wenn Dein Nachfolger Mattarella in der Reform etwas Verfassungswidriges entdeckt und sie nicht unterschreibt, sondern an die Kammern zur Neubehandlung zurücküberweist? Ist das öffentliche Votum seines Vorgängers, also von Dir, pro Reform nicht „heikel“? Dann ein kühner Vergleich: „Als wenn der emeritierte Papst Benedikt XVI theologische Erklärungen abgibt, die sich von denen von Papst Franziskus unterscheiden“. Das muss Napolitano treffen, meint Scalfari, weil er in Fragen der institutionellen Korrektheit ziemlich ehrpusselig ist.

Napolitano schreibt der „Repubblica“

Aber auch Napolitano lässt sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Am 11. August schickt er der „Repubblica“ einen Leserbrief. Nachdem er wieder ihre Freundschaft beschworen hat, pariert er Scalfaris letzten Ausfall mit Eleganz: Der Unterschied zwischen ihm und jenem „anderen Emeritus von höchster spiritueller Autorität“ bestehe nun einmal darin, dass ihn, den Ex-Präsidenten, die Verfassung (die bei Napolitano den lieben Gott ersetzt) nun einmal zum Senator auf Lebenszeit machte, damit er dort „mit seiner Erfahrung einen unabhängigen Beitrag leistet“, was ihn „zu aktivem Engagement verpflichtet“. Im Unterschied zu Benedikt XVI, ist gemeint.

Auf Scalfaris zentrale Frage, wie das Wahlgesetz die verbleibende Abgeordnetenkammer deformiert, geht Napolitano erstaunlicherweise nicht ein. Ist sie zu unwesentlich? Oder zu unbequem? Stattdessen erweitert er seine Polemik gegen einen Senat, dem nur das Recht entzogen wird, der Regierung das Misstrauen auszusprechen, aber die anderen Kompetenzen behält: „De fakto würde der Bikameralismus nicht überwunden. Die Fragilität und geschwächte Handlungsfähigkeit der Exekutive blieben erhalten, und das Land verbliebe in jener absoluten Unsicherheit und Gewundenheit der gesetzgeberischen Verfahren, die als Alibi für die Deformation des Verhältnisses von Regierung und Parlament dient“. Eine Deformation, die sich z. B. darin äußert, dass Gesetze nur noch in Dekretform erlassen oder ständig mit der Vertrauensfrage verbunden werden usw. Hier gehe es nicht um abstrakte Haarspaltereien, „sondern gerade in der heutigen historischen Situation um das effektive Funktionieren des demokratischen Systems“. Scalfari sorgt sich um eine künftige Autokratie, Napolitano um die heutige Regierbarkeit.

Punktsieg für Napolitano

Scalfari antwortet am 12. August (ein Zeitungsmacher behält das letzte Wort). Einleitend wieder das Lied von der unverbrüchlichen Freundschaft. Der Artikel ist lang, aber nebenbei räumt er ein, dass man dem Senat vielleicht das Recht auf das Misstrauensvotum nicht absprechen kann, wenn man ihm alle sonstigen Kompetenzen belässt. „Also meinetwegen weg mit dem Senat“. Die Bastion, die er trotzdem weiter verteidigt, ist seine Kritik am Wahlgesetz, das die Demokratie auch dadurch gefährde, dass es dem „Premier“ (den Scalfari ganz bewusst nicht mehr „Ministerpräsident“ nennt, Renzis offizielle Amtsbezeichnung) durch die Mehrheitsprämie zu viel Macht gebe.
Ende der Diskussion. Niemand hat ganz Recht, niemand ganz Unrecht. Im Hinblick auf die Senatsreform ist wohl Napolitano der Gewinner. Der „Bikameralismus“ in seiner bisherigen („perfekten“) Form ist irrational, auch Scalfari verteidigt ihn am Ende nicht mehr. Das eigentliche Problem, damit hat er Recht, liegt woanders: Es ist das neue Wahlgesetz, welches das Recht der Wähler auf angemessene parlamentarische Repräsentanz übermäßig beeinträchtigt. Ebenso wie das Recht, sich nicht nur zwischen Parteien, sondern auch zwischen Personen entscheiden zu können. Aber soll ein schlechtes Zweikammersystem deshalb konserviert werden, weil das Wahlgesetz schlecht ist? Wäre es da nicht besser, bald das Wahlgesetz zu ändern?