„Moralischer Putsch“

Ein Ministerpräsident, den junge und teils minderjährige Prostituierte mit Kontakten ins Drogenmilieu erpressen. Der bei der Polizei anruft, um die Verhaftung eines dieser Mädchen wegen Diebstahls abzuwenden. Der seinen Harem in von ihm finanzierten Wohnungen unterbringt und dessen „Dienste“ nicht nur mit Geld und Juwelen, sondern auch mit Fernsehrollen und öffentlichen Ämtern belohnt. Der unverfroren die Unwahrheit sagt, wie die Abhörprotokolle beweisen. Der wegen Amtsmissbrauchs und Förderung der Prostitution Minderjähriger angeklagt ist, worauf bis zu 15 Jahren Gefängnis stehen.

All das in einem „demokratischen“ Land. Immer mehr Menschen wollen das nicht mehr hinnehmen. Aufrufe, Demonstrationen, Protestversammlungen mehren sich (wir berichteten).

Zunächst versuchte es B. mit Unschuldsbeteuerungen. Angesichts der Beweislage hat er die Strategie geändert, nun geht er „in die Offensive“. In einem Interview mit der Zeitung „Il Foglio“ ruft er zum „Freiheitskampf“ auf: „Wer eine Republik der Tugenden predigt, mit puritanischen und jakobinischen Tönen, der strebt eine autoritäre Demokratie an, das Gegenteil eines Systems der Freiheit… Ich bin vielleicht, wie alle, manchmal ein Sünder (bisher behauptete er, bei den Zusammenkünften in der Villa Arcore habe es sich stets um „feine, elegante Abendessen“ gehandelt), aber die moralisierende Justiz, die sich gegen mich richtet, will nicht nur mich… Sie will dem Missbrauch des Rechts und der Legalität zur Macht verhelfen…“.

Das ist kein emotionaler Ausrutscher, sondern der Beginn einer Medienkampagne, deren Erfinder und Spiritus rector der „Foglio“-Journalist Giuliano Ferrara ist, B.s. „Mann fürs Grobe“. Vor einigen Tagen hat Ferrara in einem langen Fernsehmonolog die neue Strategie auf den Punkt gebracht: „Es ist doch nicht möglich, Sünden in Straftaten zu verwandeln! Sollte der Premier übertrieben haben, so darf man ihn doch nicht unter Anklage stellen wegen Amtsmissbrauchs und Förderung der Prostitution, das ist doch surreal, unglaublich!“ Und als weiteres Crescendo: „Dieser bigotte Moralismus, dieser gewalttätige und brutale Puritanismus setzt die Macht des Parlaments außer Kraft und enthauptet den König“. Das sei ein „moralischer Putsch“.

Die Zeitung „Il Giornale“, die nominell B.s Bruder gehört, setzt nach: „Es gibt Leute, die, nur um B. zu vierteilen, zu allem bereit sind, auch sich als Ayatollah zu verkleiden… Sie denken, (die Welt) sei nicht auf ihrer moralischen Höhe. Sie sei verdorben. Primitiv. Gaunerhaft. Macht Bunga Bunga… Heute trifft es B., morgen werden es andere sein… Das ist das Allmachtsdelirium derjenigen, die sagen ‚Entweder die Perfektion oder das Nichts‘. Das ist die Suche nach dem Paradies und der Absturz in den Nihilismus. Das ist Müntzer und Rousseau. Das ist Cromwell und Robespierre…“ (Vittorio Macioce in „Il Giornale“ vom 11. 2. 2011).

Was sich wie ein Stück aus dem Kabarett anhört, ist durchdacht. B.s Erpressbarkeit, seine offenkundigen Lügen und auch die ihm angelasteten Straftaten werden nicht mehr bestritten, sondern zu allzu menschlichen „kleinen Sünden“ umdefiniert. Kann ja jedem passieren. Und wer dabei etwas findet, will die puritanische Terrorherrschaft über das ganze Volk errichten. Bald würden jakobinische Richter – schlimmer als die Revolutionsgarden im Iran – sich öffentlich küssende Liebespaare in Gewahrsam nehmen und unbescholtene kopulierende Bürger in ihren Betten überfallen. Wollt Ihr das, italienische Männer und Frauen? Neeeeiiin!! Eben. Deshalb muss es jemanden geben, der die unabhängige jakobinische Justiz und die puritanische Presse an die Kette legt. Und die Frauen, die gegen B. auf die Straße gehen und deren Ideal es nun mal nicht ist, die trostlosen sexuellen Phantasien eines alten, gelifteten, aber sehr mächtigen Herrn gegen Entlohnung zu bedienen, sind bigotte Betschwestern.

Der – vorläufige – Höhepunkt dieser neuen „Antiterrorkampagne“ war eine Versammlung von ca. 1500 Berlusconi-Anhängern am vergangenen Samstag im Mailänder Theater „Dal Verme“ (auf Deutsch „Beim Wurm“ : ein besserer Veranstaltungsort wäre mir auch nicht eingefallen). Das von Ferrara ausgedachte Motto lautete: „In Unterhosen, aber lebendig!“ („In mutande ma vivi!“). Passend zum eleganten Motto schmückten das Theater bunte Wäscheleinen, an denen Slips, Tangas und Höschen verschiedener Moderichtungen hingen. Hoffentlich waren sie frisch gewaschen. Povera Italia.

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