„Schwarze Löcher des Rechts und der Humanität“

„Ich möchte, dass mein Körper nach Afrika gebracht wird, meine Mutter wäre darüber froh“. Diese Zeilen schrieb auf Französisch Ousmane, ein 22jähriger Junge aus Guinea, auf die Mauer seiner Zelle in dem römischen Rückführungszentrum („Centro di permanenza per il rimpatrio/CPR“), bevor er sich dort am frühen Morgen des 4. Februar erhängte.

Ousmanes Selbstmord ist kein Einzelfall

Ousmane war einige Tage davor aus dem CPR von Trapani (Sizilien), wo er drei Monate verbracht hatte, nach Rom verlegt worden. Als er dort erfuhr, dass er für weitere 15 Monate im CPR bleiben sollte, da keine Aussicht auf Rückführung bestand, brach er zusammen. Er selbst hatte wiederholt erklärt, er wolle zurück. Da aber zwischen seinem Herkunftsland und Italien kein entsprechendes Abkommen besteht, verweigert Guinea – wie viele andere Herkunftsländer – die Wiederaufnahme.

Nach Auskunft von Mitarbeitern des Zentrums und von Ärzten, die ihn in Trapani untersucht hatten, war der Junge psychisch extrem labil. Sein Zustand schwankte zwischen Depression, Verzweiflung und Aggressivität. Sie meinen, man hätte ihn auf keinen Fall länger ohne Betreuung unter Haftbedingungen lassen dürfen. Er habe vielmehr dringend eine Unterbringung in adäquaten therapeutischen Strukturen gebraucht.

Der Selbstmord des jungen Mannes aus Guinea ist kein Einzelfall. Nach Daten des Innenministeriums und Berichten der Garantenfür die Rechte von Inhaftierten und von Flüchtlingsorganisationen hat es in den CPR von 2019 bis heute fünf Selbstmorde und 9 ungeklärte Todesfälle gegeben. Dazu kommen häufige Selbstmordversuche, Selbstverletzungen und Aufstände, bei denen Brände gelegt und Wächter angegriffen werden.

Menschenwidrige Zustände

„Schwarze Löcher des Rechts und der Humanität“ nennt die CILD („Coalizione Italiana per le libertà e i diritti civili“) die Abschiebelager, die offiziell den euphemistischen Namen „Aufenthaltszentren für Rückführungen“ tragen. Was sie, weitere Menschenrechtsorganisationen und die Garanten über die Zentren berichten – und mit Bildern und Videos belegen -, ist erschreckend. Verdreckte Räume, in denen sich Ratten und Tauben austoben, Misshandlungen durch das Wachpersonal, Vergiftungen wegen verdorbener Lebensmittel, verrottete sanitäre Anlagen und mangelhafte Gesundheitsversorgung, auch bei Schwerkranken mit Epilepsie, Hepatitis oder Krebs. Zur Regel gehört auch die Verabreichung sedierender Medikamente, um die Insassen ruhig zu stellen, wie CILD in ihrer Untersuchung „Eingeschlossen und sediert“ detailliert beschreibt.

Aufgrund dieser Enthüllungen, die auch zu parlamentarischen Anfragen seitens der Opposition führten, haben die Staatsanwälte an einigen Standorten, u. a. Trapani und Potenza, Ermittlungen eingeleitet. Humanitäre Organisationen und Teile der Opposition fordern grundsätzlich die Schließung der CPR in der jetzigen Form. Die unzumutbaren Zustände dort seien vorprogrammiert, u. a. wegen des anomalen rechtlichen Status der Einrichtungen. Es handele sich in jeder Hinsicht um Haftanstalten, in denen jedoch Personen eingesperrt werden, die keine Straftaten begangen haben – ihr einziges Vergehen besteht darin, „illegal“ geflüchtet zu sein. Und da die Haftanstalten nicht zu den „normalen“ Gefängnissen gehören, gelten dort nicht die für Gefängnisse vorgsehenen Kontrollsysteme: Für deren Betrieb sind allein die Polizei und das Innenministerium zuständig, die Justizbehörden sind da außen vor. Damit entfallen die rechtsstaatlichen Kontrollen, die ein Gegengewicht zu den repressiven Maßnahmen der Ordnungskräfte bilden, und die Grenzen, die dem Schutz von Würde und Rechten der Insassen dienen, werden leichter überschritten.

Statt einer Schließung plant jedoch die Regierung eine Ausweitung. Aktuell gibt es in Italien zehn CPR, davon ist eines (in Turin) abbruchreif und seit längerer Zeit außer Betrieb, ein zweites (in Mailand) wurde im Dezember geschlossen, weil die Betreiber wegen der katastrophalen hygienischen Zustände unter Anklage stehen. Die zurzeit aktiven Standorte sind: Bari, Brindisi, Caltanissetta, Roma, Potenza, Trapani, Gorizia und Nuoro. Geplant ist, 12 weitere zu schaffen, eins für jede Region. Zudem wurde die Aufenthaltsdauer in den CPR von drei Monaten – mit Verlängerungsoption auf sechs Monate in besonderen Fällen – auf 18 Monate ausgedehnt.

Wer kommt in die CPR?

Schon die Kriterien, nach denen Migranten und Flüchtlinge in die CPR überführt werden, sind schwammig. Es können Menschen sein, deren Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen ist. Viele sind sogenannte „Illegale“, die nach Erreichen italienischen Bodens nicht explizit erklären, einen Asylantrag stellen zu wollen. Oder solche, die aus Ländern kommen, die Italien als „sichere Herkunftsländer“ eingestuft hat (u. a. Tunesien, Algerien, Marokko, Elfenbeinküste, Nigeria, Ghana, Senegal). Und es sind natürlich jene, deren Asylgesuch abgelehnt wurde. Wenn sie Einspruch einlegen, müssen sie in den CPR bis zum endgültigen Urteil bleiben. Das wird von mehreren Juristen und Richter als unzulässig angesehen, weil nach geltendem Recht Asylbewerber für die Dauer der Prüfung ihres Antrages nicht unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden dürfen.

In den meisten Fällen besitzen jene, die in CPR untergebracht werden, keine Dokumente, die ihre Identität ausweisen. Das ist auch die häufigste Begründung, mit der die Herkunftsländer sich weigern, sie als eigene Bürger anzuerkennen und (wieder) aufzunehmen. (Wobei häufig auch eine Rolle spielt, dass die Emigrierten für diese Länder durch die Geldüberweisungen an ihre Familien eine Quelle von begehrten Fremdwährungen sind).

Mehr als die Hälfte der Abschiebungen scheitert

De facto scheitert die Rückführung bei mehr als der Hälfte der abgelehnten Asylbewerber, die in CPR festgehalten werden. Insofern entspricht die Aussage der Regierung, diese Zentren seien unerlässlich, um die Zahl der Abschiebungen in die Höhe zu bringen und dadurch die „illegale Migration“ einzudämmen, nicht der Realität. Es handelt sich vielmehr um Scheinlösungen, die suggerieren sollen, man habe die Lage in Griff. Tatsächlich sperrt man Menschen unter rechtswidrigen und inhumanen Bedingungen ein, ohne dass dadurch der Staat eine reale „Entlastung“ erfährt.

Nicht „nur“ menschlicher, sondern auch effektiver wäre es, für Personen, bei denen es klar ist, dass sie ohnehin nicht abgeschoben werden können (oder dürfen), Wege der Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt zu eröffnen. Dies würde zwar mehr Ressourcen erfordern, aber letztlich auch dem aufnehmenden Land Vorteile bringen. In dieser Richtung geht die in Deutschland am 31.12.2022 eingeführte Möglichkeit für abgelehnte Asylbewerber, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erhalten (sogenanntes „Chancenaufenthaltsrecht“), wenn sie ihren Lebensunterhalt durch Ausbildung oder Arbeit sichern können und andere Integrationsvoraussetzungen erfüllen (Straftäter oder Personen, die vorsätzlich falsche Angaben zu ihrer Identität machen, ausgenommen).

Eine solche Möglichkeit liegt aber außerhalb des Denkhorizonts der italienischen Regierung. Schon allein deswegen, weil sie für populistische Stimmungsmache untauglich ist. Und auch, weil zu deren Umsetzung konkrete Anstrengungen notwendig wären, zu denen die Regierung nicht bereit – und vielleicht auch nicht fähig – ist. Also setzt man weiter auf rein repressive Maßnahmen, auch wenn sie ineffektiv sind. Man weitet sie aus und will sie sogar in andere Länder exportieren. Oder, wie es neuerdings heißt, „externalisieren“.

Der „Albanien-Deal“

Im November 2023 schlossen die italienische und die albanische Regierung mit großem medialem Echo die Vereinbarung, dass Italien auf albanischem Boden zwei Zentren zur Aufnahme von „auf See geretteten Migranten“ einrichten darf: eines in Shengjin, um die Prozeduren zur Registrierung und Identifikation durchzuführen, und das zweite in Gjader nach dem CPR-Modell. Beide Einrichtungen haben insgesamt eine Kapazität von maximal 3.000 Personen. Über die Vereinbarung, die in Kürze in Kraft treten soll und zunächst für fünf Jahre gilt, berichteten wir bereits ausführlich in dem Artikel „Melonis Albanien-Coup“ vom 18.11.2023. Inzwischen wird sie auch in anderen Ländern – u. a. in Deutschland – als eine Art „Mustermodell“ betrachtet. Hier noch einmal zusammengefasst die wichtigsten Punkte:

Nach dem Abkommen erlaubt Albanien lediglich eine logistische „Verlagerung auf Zeit“ von (ausschließlich männlichen) Migranten auf ihr Territorium, für die Italien weiterhin allein zuständig bleibt, also für: Einrichten und Betreiben der Zentren, Auswahl und Transfer der Migranten, Registrierung und Identifizierung, Prüfung und Entscheidung über Asylgesuche und Abschiebungen. Italien stellt dafür das notwendige Personal und übernimmt auch sonst alle Kosten. Vor Inkrafttreten der Vereinbarung zahlt Italien an Albanien zunächst 16,5 Millionen Euro und richtet darüber hinaus auf einer albanischen Bank ein „Garantiefonds“ in Höhe von 100 Millionen Euro, aus dem bei Bedarf Gelder entnommen werden.

Wenn – was meist der Fall ist – die Rückführungen scheitern, ist Italien verpflichtet, alle abgelehnten Asylbewerber zurückzunehmen. Ebenfalls werden die anerkannten Asylbewerber wieder nach Italien transportiert. Man fragt sich also, auch abgesehen von den zahlreichen rechtlichen und humanitären Bedenken, die der Hohe Kommissar der UNHCR und der Europäischer Flüchtlingsrat sowie Juristen, Opposition und NGO’s erheben: Was soll das ganze Hin und Her bringen, außer zusätzlichen Kosten und mehr bürokratischen Aufwand?

Ministerpräsidentin Meloni hatte nach der Unterzeichnung verkündet: Die Vereinbarung könne „zu einem Modell werden für die Steuerung der Migrationsflüsse, die Bekämpfung der Schlepperkriminalität und die Prävention illegaler Migration“. Eigentlich unvorstellbar, dass sie selbst daran wirklich glaubt.

Statt sowohl Migranten als auch italienisches Personal hin und her über die Adria zu schicken, sollte die italienische Regierung lieber intensiv daran arbeiten, mit den Herkunftsländern Rückführungsabkommen abzuschließen, und gleichzeitig mehr legale Wege für die Einreise zu eröffnen, indem die dortigen konsularischen Vertretungen bereits Anträge prüfen und eine Vorauswahl treffen. Und solange das nicht erreicht ist, sollte sie sich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass innerhalb der EU Verteilungsmechanismen eingeführt werden, die wirklich verpflichtend sind. Mit schönem Gruß an Melonis Busenfreund Orban.

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