Wahlergebnisse in Italien

Am vergangenen Wochenende wurde in Italien nicht nur das Europaparlament gewählt: Daneben gab es eine Regionalwahl in Piemont und eine ganze Reihe von Kommunalwahlen. Die Wahl in Piemont ist bereits entschieden, eine Stichwahl ist nicht mehr nötig: Der Regionalpräsident Alberto Cirio, ein Mann der Rechten, wurde wiedergewählt – hier konnte sich die Opposition, zu der ich in diesem Fall auch die 5Sterne zähle, mal wieder auf keinen gemeinsamen Kandidaten einigen.

Dass aber die Linke noch lebt, zeigt sich bei den Kommunalwahlen: Hier erzielte das vor allem von der PD angestrebte „breite Bündnis“ („campo largo“) Wirkung, mit dem Ergebnis, dass sie sich hier nicht nur behaupten, sondern vor allem in den größeren Städten auch die politische Mehrheit wieder- oder zurückgewinnen konnte, z. B. in Großstädten wie Bergamo, Cagliari und Perugia. In anderen Städten, wie Florenz, liegt die Linke zwar vorn, aber muss noch die Stichwahlen am 23./24. Juni abwarten, um endgültig den Sieg einfahren zu können.

Neben diesen Erfolgsmeldungen gibt es eine längerfristig noch wichtigere Nachricht, welche die Wahlforscher ans Tageslicht fördern konnten: Die Wählerschichten, welche die PD in den Städten erreicht, kommen nicht mehr überwiegend aus den verkehrsberuhigten Vierteln, in denen das linke Bildungsbürgertum seine Gesinnung pflegt, sondern beginnt sich wieder in die urbanen Peripherien zu verlagern, wo einst die linken Parteien die Meinungsführerschaft hatten, aber dort schon vor Jahrzehnten an die Agitatoren der Rechten und der Ultrarechten verloren. Die parteipolitische Wende, die dies ermöglichte, trägt den Namen Elly Schlein, die gerade eine Ochsentour durch 130 Orte hinter sich hat. In dem einen Jahr, das seit ihrer Wahl zur Generalsekretärin der PD vergangen ist, stieg die Quotierung der PD von 14,5 auf 24%.

Wobei allerdings ein Problem ungelöst blieb: die italienische Provinz, die weiterhin rechts wählt.

Europawahl

Obwohl die Europawahl im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, war die Beteiligung enttäuschend: Hatte diese schon vor fünf Jahren bei nur 54,5% gelegen, so sank sie jetzt sogar unter die „magische“ 50%-Grenze auf 49,7%. Der Ort dieses Abfalls war vor allem Süditalien, aus zwei Gründen: Erstens weil die Abschaffung des Bürgergelds durch die Rechtsregierung vor allem den ärmeren Süden traf, und zweitens weil sich der dagegen richtende Zorn nicht, wie von der 5-Sterne-Bewegung erhofft, in der Unterstützung ihres politischen Protestes ausdrückte, sondern vor allem im resignativen Rückzug in die Enthaltung.

In nüchternen Prozentzahlen lässt sich das Ergebnis der Europawahl so zusammenfassen, wobei wir als aussagekräftigsten Vergleich (in Klammern) die Ergebnisse der nationalen Wahlen von 2022 hinzusetzen: Die FdI erreichte jetzt 28,8% (26), die PD 24,1% (19), der M5S 10,8% (15,6), die Lega 9,0% (8,9) und die AVS 6,8% (die es im September 2022 noch nicht gab)

Im Unterschied zu den nationalen Wahlen sind in Italien bei der Europawahl Listenverbindungen und Mehrheitsprämien nicht vorgesehen, es gilt das reine Verhältniswahlrecht, in Kombination mit einer Sperrklausel von 4%. Zwei Parteien, die sich der „Mitte“ zurechnen, aber getrennt marschierten – Renzis IdV und Calendas Azione – blieben beide jeweils knapp unter dieser Grenze, was der Opposition etwa 7 Sitze kostete.

Innenpolitische Bedeutung

Während in Deutschland die Ergebnisse der Europawahlen lange Zeit eher als Nebensache betrachtet wurden – was sich jetzt zu ändern beginnt -, wird ihnen in Italien meist eine Bedeutung zugeschrieben, die sich von der Bedeutung nationaler Wahlen kaum unterscheidet. Diesmal galten die Wahlen als der Tag, an dem der Regierung das erste Zeugnis für ihre anderthalbjährige Amtszeit ausgestellt wird. Meloni erhoffte sich davon nicht wenig: ein persönliches Plebiszit, das ihrer Vorstellung von individualisierter Machtausübung, das mit dem „Premierato“ institutionalisiert werden soll, den Weg bereiten würde. Ihr Vorschlag, bei der Europawahl auf jeden Wahlzettel doch einfach nur „Giorgia“ zu schreiben, um sie zu wählen – der ihr 2,3 Millionen „Präferenzen“ einbrachte -, war ein erster Schritt in diese Richtung.

Halber Sieg über Elly Schlein

Meloni kann sich auch sonst als Siegerin fühlen: Ihre FdI hat seit der nationalen Wahl im September 2022, wo sie 26% erzielte. noch einmal 2,8% zugelegt, auch wenn dies nicht „Plebiszit“ genannt werden kann. Rechnet man in Dezimalen, kann man dies auch auf die ganze Rechtskoalition ausdehnen: Der Anteil von Tajanis FI stieg im gleichen Zeitraum von 8,3 auf 9,7%, und von Salvinis Lega von 8,9 auf 9%. Im Duell mit der Linken (5Sterne eingeschlossen) liegt die Rechte mit 47,5% zu 41,7% vorne, was sich allerdings zum Gleichstand einebnen würde, könnte man bei Mittelinks auch noch die beiden Zentrumsparteien mitzählen. (Dies kann man allerdings auch anders sehen: Ihre Intransigenz in der Zerstrittenheit ist nun einmal ein Stück linker Kultur). Sieht man die FdI als Flaggschiff der Rechten und die PD als Flaggschiff der Linken – samt ihren Führerinnen Meloni und Schlein -, ist Meloni ebenfalls die Siegerin. Aber hier gibt es auch für ihre Gegnerin einen Trost: Der Abstand hat sich seit Schleins Wahl zur Generalsekretärin vor einem Jahr halbiert. „Wir sind im Kommen“, kommentierte sie.

Innerhalb der Rechten selbst scheint die Europawahl wenig verändert zu haben: Hier hat Melonis FdI uneinholbar die Spitze übernommen. Nur dass jetzt Tajanis FI an der zweiten Stelle liegt, knapp vor der Lega, während es vor zwei Jahren noch umgekehrt war. Wozu zwei Dinge anzumerken sind: Nach dem Tod Berlusconis vor einem Jahr wurde seinem Geschöpf Forza Italia das baldige Ende vorhergesagt, was vor allem den beiden anderen Rechtsparteien zugute kommen würde, die mehr oder minder offen antieuropäisch sind. Dies scheint sich nicht zu bewahrheiten: Sie findet wieder wachsenden Zulauf. Die zweite Anmerkung betrifft die Art und Weise, wie die Lega diesmal noch einmal auf 9% kam, obwohl sie in den Prognosen auf maximal 4% abgesackt war: Salvini, der Mann auf Putins Gehaltsliste, hatte die Intuition, einen ehemaligen General (Vannacci) zu seinem Hauptkandidaten für die Europawahl zu machen. Und zwar als der gerade ein Buch geschrieben hatte, das unter anderem dadurch Aufsehen erregte, dass die Schwulen beschworen wurden, „endlich einzusehen, dass sie nicht normal sind“.

Verschiebungen in der Linken

Im linken Lager hat es einige etwas größere Verschiebungen gegeben. Hier ist die „Alleanza Verdi e Sinistra“ (AVS) neu ins Spiel gekommen, zu der sich 2022 die italienischen Grünen mit einer kleinen italienischen Linkspartei zusammengeschlossen haben. Ihr Wahlerfolg beruht zum Teil auf einem Schachzug, der dem von Salvini in gewisser Weise ähnelt, sich aber auch deutlich von ihm unterscheidet: An die Spitze ihrer Kandidatenliste setzte sie die Menschenrechtsaktivistin Ilaria Salis, um sie durch ihre Wahl vor Orbans Justiz zu retten, die sie – nach einem Jahr Einzelhaft – in Ketten vor Gericht schleifen ließ, weil sie einen seiner Schergen angegriffen haben soll. Die zweite Verschiebung betrifft den Abstand zwischen PD und 5Sterne-Bewegung: Lag er noch 2022 bei nur 3,4 Punkten, so hat er sich jetzt auf 13,3 Punkte erhöht. Auch dies ist wohl auf das Verhalten beider Parteien in der Bündnisfrage zurückzuführen: Während Schlein, dort wo es möglich ist, immer wieder die Forderung nach einem gemeinsamen Vorgehen wiederholt, möchte es Conte dazu nur fallweise kommen lassen. Wie er jetzt auf die herbe Niederlage reagiert, wird sich zeigen – es kann sein, dass sich dadurch seine Suche nach dem „eigenen Profil“ nur noch weiter verstärkt.

Chaos in Europa

In welche Wechselwirkung die Ergebnisse der italienischen Europawahl mit den Veränderungen auf der europäischen Bühne treten werden, ist noch nicht abzusehen. Denn die EU ist aus dem Gleichgewicht geraten. Am schlimmsten hat es Frankreich erwischt, das bisher einer der wichtigsten Stabilitätsanker der EU zu sein schien, wo die antieuropäische und russlandfreundliche Le Pen-Partei kurz vor der Machtübernahme zu stehen scheint. Mehrere Zeitungen schreiben, dass sich Melonis Verhandlungsposition in Brüssel jetzt wohl weiter verbesser hat (siehe z. B. Almut Siefert in ZEIT Online vom 10. 6.). Aber – um das neue Modewort zu benutzen – die Situation ist auch für sie „komplexer“ geworden. Worauf soll Meloni setzen? Setzt sie weiterhin, wie in den letzten Monaten vorbereitet, auf das Bündnis mit von der Leyen und deren Wiederwahl als Kommissionspräsidentin, auch auf Kosten eines Konflikts mit Le Pen, zu der sich gerade zarte Ansätze zu einer Annäherung zeigen? Oder setzt sie, wie es ja auch ihr politischer Freund Orban vorschlägt, auf das große Bündnis aller Rechtsparteien, auch wenn dies nicht sofort zustande kommen kann? Die große Unbekannte ist die EVP – gewinnen dort die Kräfte Oberwasser, die schon immer auf eine Öffnung nach rechts drängten, oder setzen sich noch einmal die Befürworter einer „roten Linie“ durch, die nicht erst bei der deutschen AfD haltmacht?

Vielleicht ist es zum Abschluss nützlich, noch einmal aus einer etwas größeren Entfernung einen Blick auf die Europawahl zu werfen. Am 11. Juni veröffentlichte die „Repubblica“ ein Interview mit dem amerikanischen Politologen Charles Kupchan, der im US- amerikanischen Sicherheitsrat Direktor für Europa und Berater von Obama war. Er sieht das Ergebnis so: „Die europäische Wahl antizipiert Trump, aber noch hält das Zentrum. Das Resultat wird sich erst richtig verfinstern, wenn er (Trump, HH) im November die Präsidentschaftswahl gewinnt. Dann wird die Abdrift zur Demontage der liberalen Demokratie unwiderstehlich sein… Meloni ist eine sehr talentierte Politikerin, sie wird das tun, was in ihrem Interesse liegt. Bis jetzt hat sie Wohlverhalten an den Tag gelegt, weil es politisch schlau war. Wenn morgen nach einem Wahlsieg Trumps das Gegenteil schlau ist, wird sie den Kurs in wenigen Minuten ändern“.

Ich fürchte, Kupchan schätzt sie richtig ein.