Hoffnungsträgerin und Außenseiterin

Nach der derben Wahlniederlage im September, die zum Rücktritt des Generalsekretärs Enrico Letta führte, bereitet sich die Demokratische Partei (PD) auf einen „Neugründungskongress“ vor. Die Debatte über die begangenen Fehler und den künftigen politischen Kurs der Partei, an der auch Nicht-Mitglieder teilnehmen, ist bereits im vollen Gange. Verbunden mit der Frage, wer die Nachfolge Lettas antreten soll. Dazu finden im Februar – nach dem Modell der USA – „Vorwahlen“ für die Kandidatinnen und Kandidaten statt, die sich um das Amt bewerben.

Der Gouverneur der Region Emilia-Romagna, Stefano Bonaccini, hat bereits am vergangenen Sonntag offiziell seine Kandidatur angekündigt. Bonaccini, der 2020 mit einer breiten linken Koalition klar gegen die Kandidatin der Rechte gewonnen hatte, gilt derzeit als Favorit für die Vorwahlen. Er vertritt einen pragmatischen, gemäßigten Mittelinks-Kurs und wird in der Partei in erster Linie von den sogenannten „Renzianern“ unterstützt.

Ganz anders Elly Schlein, die ebenfalls als potentielle Kandidatin gilt und vom britischen „The Guardian“ kürzlich als „aufgehender Stern der italienischen Linken“ bezeichnet wurde.

Potentielle Kandidatin für Lettas Nachfolge

Die 37jährige Schlein – geboren in der Schweiz als Tochter einer Italienerin und eines Amerikaners – wurde 2014 für die PD ins Europa-Parlament gewählt, trat jedoch 2015 aus der Partei aus, weil sie den Kurs des damaligen PD-Generalsekretärs Renzi nicht teilte. Bei den Regionalwahlen in der Emilia-Romagna unterstützte sie mit der eigenen Liste „Emilia-Romagna Coraggiosa Ecologista e Progressista“ Bonaccini, um den Sieg der rechten Kandidatin zu verhindern. Sie erhielt den höchsten Anteil an persönlichen Präferenz-Stimmen in der ganzen Region und wurde zu Bonaccinis Stellvertreterin. Bei den Wahlen am 25. September kandidierte sie – als Unabhängige, da kein Mitglied – auf der Liste der PD und wurde, auch diesmal mit einem beachtlichen persönlichen Erfolg, ins Parlament gewählt.

Elly Schlein

Die charismatische Politikerin gilt in der Linken – in und außerhalb der PD – als Hoffnungsträgerin für eine politische Erneuerung der Partei. Gleichzeitig ist sie eine Außenseiterin mit eigenem Kopf, die nicht zum Partei-Establishment gehört und auch nicht über Bonaccinis Bekanntheit verfügt. Das schmälert ihre Chancen, die Vorwahlen für das Amt der Generalsekretärin zu gewinnen. Zurzeit liegt sie in Umfragen an zweiter Stelle nach Bonaccini, allerdings mit großem Abstand. Ob sie sich bewirbt, hat sie bisher offiziell noch nicht erklärt, es gilt aber als wahrscheinlich. In diesem Fall müsste sie – spätestens bis zur Frist für die Einreichung der Kandidaturen am 27. Januar – (wieder) in die PD eintreten.

Hier übersetzte Auszüge aus ihrem Interview mit der „Repubblica“ vom 18. November.

Schleins Interview mit „La Repubblica“

Elly Schlein, Sie haben angekündigt, dass Sie sich an dem Erneuerungsprozess der PD, der im Zusammenhang mit dem Kongress stattfindet, beteiligen werden. Sind Sie dabei, Ihre Kandidatur zur Führung der PD anzumelden?

Ich habe dazu aufgerufen, sich an einer Debatte zu beteiligen, bei der es um unsere Zukunftsvision geht. Wen wollen wir repräsentieren, wie wollen wir das jetzige Entwicklungsmodell, das nicht funktioniert, mutig verändern? Eine Debatte, die mit den Menschen und innerhalb der Gesellschaft stattfinden muss, nicht nur innerhalb der politischen Klasse. Mit dem Ziel, die Dissonanzen der letzten Jahre zu überwinden, die zu Spaltungen und bei vielen linken Wählerinnen und Wählern zur Entfremdung geführt haben.

Welche Dissonanzen meinen Sie?

Es hat an dem Einsatz für eine Umverteilung des Reichtums, des Wissens und der Macht gefehlt. Die Linke war bisher nicht in der Lage, die großen Transformationen vorauszusehen, die jetzt in der Gesellschaft Angst auslösen: steigende Armut, Auswirkungen der technologischen Innovationen auf die Arbeitswelt, ein Klimanotstand, der den Planeten bedroht.

Hat Meloni diese Themen besser angepackt?

Sie hat sie in ihrer Einführungsrede verdrängt. Die Rechte hat keinen Blick für die Ungleichheiten, als ob sie in einem anderen Land leben würde. Nie spricht sie von den prekären Beschäftigungen, die jungen Menschen und Frauen ihre Zukunft raubt, ganz besonders im Süden. Sie attackiert feige die Migranten und schaut nicht auf die eigene Emigration, die den niedrigen Löhnen geschuldet ist und einen negativen Faktor bei dem Geburtenrückgang darstellt.

Aber wenn die Rechte all dies nicht erkennt: warum gewinnt sie dann?

Das Wahlgesetz begünstigt, wer in der Lage ist, Koalitionen zu bilden. Die Rechte hat keine Stimmengewinne erzielt, dort gab es nur eine innere Umschichtung von Stimmen. Während bei der Linken ihre interne Zerrissenheit und die Unfähigkeit, mit einer gemeinsamen Vision anzutreten, zu einer herben Niederlage geführt haben.

Können Sie konkrete Beispiele nennen, die von der Linken in der Vergangenheit begangen wurden?

Sie hat lange Zeit regiert, ohne gegen die tieferen Ursachen prekärer Arbeit vorzugehen. Arbeit und Armut dürften nie im gleichen Satz Atemzug genannt werden. …Und mit dem Jobs Act (das von Renzi eingeführte Beschäftigungsgesetz, Anm. MH) beging man den Fehler, sich dem Neoliberalismus zu unterwerfen.

Ihr Rezept?

Befristete Verträge begrenzen, Löhne sofort erhöhen, Steuer- und Abgabebelastungen auf der Arbeitnehmerseite reduzieren. Und einen Mindestlohn einführen – ein großes Kampfziel, das in den vergangenen Jahren fehlte. Wir sind das einzige europäische Land, in dem in den letzten 30 Jahren die Löhne und Gehälter gesunken sind. Wir brauchen ein neues Arbeitnehmerstatut (Statuto dei lavoratori): Im Jahr 2023 darf die Linke nicht weiter die Augen davor verschließen, dass die technologische Entwicklung zwar die Produktionsprozesse erleichtert, aber gleichzeitig die soziale Ungleichheit verschärft.

Wer bezahlt die Kosten der ökologischen Transformation?

Wir müssen die Frage umformulieren: Wer bezahlt, jetzt schon, die Kosten dafür, dass sie nicht stattfindet? Es sind die Schwächeren in der Gesellschaft, wie man an den Auswirkungen der Energiekrise sieht: Sie treffen alle, aber viel härter die niedrigen Einkommen. Ein anderes Entwicklungsmodell ist möglich und bereits auf der Agenda aller sozialistischen, progressiven und ökologischen Kräfte.

Muss man das Bürgergeld (RdC) verteidigen?

Der Regierung sage ich: Hände weg vom Bürgergeld! Ohne dieses Instrument hätte es während der Pandemie eine Million Menschen mehr in absoluter Armut gegeben. Aber es kann verbessert werden.

Wie kreiert man neue Arbeit?

Investitionen in soziale und pflegerische Berufe könnten in der EU mehr mehr als 20 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen, davon zwei Millionen in Italien. Es gibt nichts Natürliches in einem Familienbild, das Frauen in die Rolle eines „lebenden Welfare“ drängt. Will man ernsthaft eine Politik, die Frauen unterstützt? Dann muss man in soziale Infrastrukturen und Dienstleistungen investieren. In Spanien gibt es inzwischen eine dreimonatige Elternzeit bei vollem Lohnausgleich. Sanna Marin in Finnland hat sie auf fünf Monate ausgeweitet. In Italien sind es für Väter nur zehn Tage. Ich bin gespannt, wie die Ministerpräsidentin darauf antworten wird.

Meloni ist die erste Ministerpräsidentin – und das hat die Rechte fertig gebracht. Eine Lektion auch für euch?

Wenn die meisten Frauen dermaßen niedergedrückt sind, dass sie nicht einmal in der Lage sind, die gläserne Decke zu sehen, nutzt es nicht, sie allein durchbrechen zu wollen. Und es bringt nichts, dass Meloni uns erzählt, sie verteidige die Freiheit der Frauen, Mütter zu werden – wenn sie nicht gleichzeitig die Freiheit der Frauen verteidigt, es nicht zu werden.

In diesen ersten Wochen der neuen Regierung spricht man mehr über Migranten als über Krieg und Krisen. Strategie oder Überzeugung?

Es ist auffällig, dass die Regierung bei ihrem Start die dringende Not der Familien in schwierigen sozialen Verhältnissen außer acht lässt. Ich habe immer noch nicht kapiert, was sie konkret in Sachen Gas- und Stromrechnungen tun will. Innenminister Piantedosi hat im Parlament zur Migration das ganze Repertoire der extremen Rechte präsentiert, aber als er eine europäische Antwort forderte, vergaß er zu sagen, dass es die Lega war, welche die Abschaffung des Dublin-Abkommens blockierte, um Orban und seine nationalistischen Verbündeten nicht zu verärgern.

Werfen Sie in Sache Migration auch der Linken etwas vor?

Ja, enorme Fehler, die begangen wurden, um der Rechten hinterher zu laufen. Doch auf die Politik des Hasses und der Mauer antwortet man nicht mit Schweigen und Augenzwinkern, man muss mutig eine andere Auffassung vertreten. Das schändliche Abkommen mit Libyen wurde schweigend erneuert, und man hat versäumt, das Bossi-Fini-Gesetz abzuschaffen, eine heuchlerische Regelung, die Illegalität produziert.

Befürworten Sie militärische Hilfen an die Ukraine?

Das muss das Parlament erörtern, ich selbst komme aus einer Kultur des Friedens, aber ich habe nie jene kritisiert, die in der ersten Phase des Krieges den ukrainischen Widerstand unterstützt haben. Wenn es das nicht gegeben hätte, müssten wir uns heute mit dem tragischen Szenario eines siegreichen Putin auseinandersetzen, der Außengrenzen mit militärischer Gewalt verändert. Jetzt jedoch befinden wir uns in einer anderen Phase, es sind viele Monate vergangen und die politischen und diplomatischen Anstrengungen der EU müssen sich auf eine Feuerpause und eine Friedenskonferenz konzentrieren. …Aber es kann keine Äquidistanz geben. Der Frieden muss dazu dienen, den Prinzipien des internationalen Rechts wieder Geltung zu verschaffen, die Putin verletzt hat.