Schwarze Wahlnacht

„Diese Nacht ist eine Nacht des Stolzes, eine Nacht der Revanche!“ rief eine triumphierende Giorgia Meloni einige Stunden nach der Schließung der Wahllokale ihren Anhängern zu. Dieser Sieg sei Anfangs-, nicht der Endpunkt, sagte sie. Eine Aussage, die für viele in Italien und im demokratischen Europa einen düsteren Klang haben dürfte.

Meloni siegt – auf Kosten ihrer Bündnispartner

Der Sieg Melonis ist eindeutig: ihre Partei Fratelli d’ Italia, die bei den letzter Wahlen 2018 noch bei 4,3% lag, erhielt 26,3% der Stimmen und wurde damit zur stärksten politischen Kraft. Ein rasanter Aufstieg, der weitgehend ihr Verdienst ist und der im Wesentlichen auf Kosten ihrer Bündnispartner geht: Berlusconis Forza Italia, die bei der Wahl 2018 14,3% erreicht hatte, kam nur auf 8,1% in der Abgeordnetenkammer und 8,3% im Senat. Noch stärker war der Absturz der Lega, die nach 17,4% im Jahr 2018 und über 30% bei der Europawahl 2019 jetzt bei 8,8% bzw. 8,9% landete. Die Wahlanalysen zeigen, dass mehr als die Hälfte der Stimmen von Fratelli d’ Italia aus ehemaligen Wählern von Lega und FI stammt. Stimmen kommen auch von enttäuschten Anhängern der 5Sterne.

In der Summe erhält die Rechte (von „Mitterechts“, wie die meisten italienischen Medien es tun, kann man eigentlich nicht sprechen, denn wo soll da bitte die „Mitte“ sein?) 42,9% in der Abgeordnetenkammer und 43,2% im Senat. Das ist weniger, als die Summe der Stimmen von PD (ca. 19%), 5Sternen (15,4%) Azione/Italia Viva (7,8%) und Sinistra Italiana/Verdi (3,6), die – rein numerisch – in der Abgeordnetenkammer 47,9% und im Senat 45,8% beträgt. Insofern trifft das Narrativ der Rechten, sie hätte in Italien eine gesellschaftliche Mehrheit, nicht zu. Und berücksichtigt man auch die auf die Rekordtiefe von 63,9% gesunkene Wahlbeteiligung, reduziert sich der Anteil der rechten Wähler noch weiter.

Doch dank des Wahlgesetzes – einer Kombination von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht, ohne Ausgleichsmandate und die Möglichkeit des Stimmensplittings -, werden Wahlbündnisse gegenüber einzelnen Parteien bevorzugt. Der Rechtsblock hat durch Direktmandate eine sehr hohe Zahl von Sitzen erhalten und verfügt damit in beiden Parlamentskammern über eine komfortable absolute Mehrheit. Von der Zweidrittelmehrheit, mit der sie, wie von Mittelinks befürchtet, die Verfassung im Alleingang in Richtung Präsidialsystem ändern könnte, ist er allerdings deutlich entfernt.

Kurs der künftigen Ministerpräsidentin noch unklar

Angesichts des Wahlergebnisses gilt als sicher, dass Staatspräsident Mattarella Meloni den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen wird. Nach der Konstituierung des neuen Parlaments und den Konsultationen des Staatspräsidenten mit allen Parteien wird voraussichtlich gegen Ende Oktober die erste rechtsextreme und souveränistische Regierung in der Geschichte der italienischen Republik – fast achtzig Jahre nach dem Sturz des Faschismus – installiert werden.

Noch ist nicht klar erkennbar, welchen Kurs die neue Ministerpräsidentin einschlagen wird, insbesondere bei Fragen, die das Verhältnis zur EU sowie die Rechte von Frauen, Migranten, homosexuellen und queeren Menschen betreffen. Melonis Motto, der auch der Leitspruch des Duce war, lautet „Gott, Vaterland, Familie“. Verstanden als „christlicher Gott“, „Italy first“ und „natürliche“ (sprich heterosexuelle) Familien.

Mal so …

Wie weit dieses reaktionäres Weltbild in Regierungshandeln umgesetzt wird, ist abzuwarten, denn Meloni hat mehrere Gesichter: hier das der radikalen Vertreterin rechtsextremer, nationalistischer, fremdenfeindlicher und homophober Positionen und dort, besonders gegenüber dem Ausland, das der besonnenen, verantwortungsbewussten Politikerin. Auch in der „Nacht des Stolzes und der Revanche“ sprach sie immer wieder von Verantwortung und beschwor, Repräsentantin „des ganzen Volkes“ sein zu wollen (wozu allerdings eingewanderte und nicht heterosexuelle Menschen nicht gehören).

… und mal so

Meloni ist nicht dumm und sich dieses schwieriges Spagats bewusst, wie auch der immensen Herausforderungen und Gefahren, die mit dem Amt verbunden sind, insbesondere angesichts der gegenwärtigen innenpolitischen und internationalen Krisen.

Salvini ist angezählt

Die Schwierigkeiten werden dadurch noch größer, dass Melonis Bündnispartner in vielen Fragen abweichende Positionen vertreten und noch dazu im Krisenmodus sind. Das gilt insbesondere für die Lega, wo nach dem desaströsen Wahlergebnis die Stimmen gegen Parteichef Salvini immer lauter werden. Inzwischen sind es nicht mehr nur Stimmen aus der zweiten, sondern aus der ersten Reihe. So hat auch Luca Zaia, der populäre und einflussreiche Gouverneur der Region Venetien, eine schonungslose Bilanz der letzten Jahre auf einem Parteikongress angemahnt – wenn auch ohne Salvinis Leadership direkt in Frage zu stellen.

Mag sein, dass Salvini von der Partei eine Gnadenfrist eingeräumt wird. Mit Blick auf die Regierungsbildung stehen Salvinis Karten jedenfalls schlecht. Sein Traum, wieder Innenminister zu werden und die italienischen Häfen für aus Seenot gerettete Flüchtlinge wieder unter seiner Ägide zu sperren, wird sich kaum erfüllen. Die künftige Ministerpräsidentin wird sich hüten, dem Staatspräsidenten, der die Ministervorschläge absegnen muss, einen Innenminister zu präsentieren, der wegen der Aussperrung von Rettungsschiffen und Amtsmissbrauch noch unter Anklage steht.

Überhaupt sind sowohl der Polterer Salvini als auch der senile Berlusconi (der kurz vor der Wahl noch verkündet hatte, Putin habe in der Ukraine doch nur Selenkjys Regierung durch ein paar „anständige Leute“ ersetzen wollen) für Meloni wandelnde Pulverfässer, die unter Kontrolle gehalten werden müssen. Da aber ihre Regierungsmehrheit von ihnen abhängt, muss sie versuchen, sie mit Kompromissen bei Laune zu halten.

Letta tritt nicht wieder an

PD-Generalsekretär Enrico Letta hat aus der Niederlage seiner Partei persönliche Konsequenzen gezogen: Er wird bei dem in Kürze stattfindenden Parteikongress nicht wieder kandidieren.

Die PD hat bei der Wahl nicht mal die „psychologische Schmerzgrenze“ von mindestens 20% erreicht, die von der Parteiführung inoffiziell gesetzt worden war. Dass sie dennoch die zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament sein wird, tröstet kaum über das schwache Ergebnis hinweg. Entsprechend groß ist die innerparteiliche Aufruhr. Von dem Kongress wird erwartet, dass er sich über die Gründe der Niederlage Rechenschaft ablegt und eine strategische Neuausrichtung einleitet. Zu befürchten ist allerdings, dass im Mittelpunkt der Debatte weniger politische Inhalte als eine heftige Kontroverse über Bündnisfragen stehen wird. Dabei geht es vor allem darum, ob man nach dem Scheitern von Lettas „campo largo“ eine neue Annäherung an die von Conte geführte 5SB versuchen soll – und wenn ja, unter welchen Bedingungen.

Diese Debatte ist sicher notwendig, sie sollte aber nicht allein unter „taktischen“ Gesichtspunkten, sondern entlang politischer Fragen diskutiert und entschieden werden: welche Konvergenzen und Differenzen gibt es zu den 5Sternen? Gibt es Chancen für eine politisch tragfähige „strukturelle“ Allianz oder nur für eine punktuelle Zusammenarbeit? Oder sind solche Chancen nach dem vollzogenen Bruch aussichtslos bzw. kontraproduktiv?

Contes linkspopulistische Wende

Conte selbst hat bekräftigt, dass für die 5SB eine Zusammenarbeit mit der PD nicht im Bereich des Vorstellbaren liegt. Schon im Wahlkampf hatte er die PD als Hauptgegner und seine eigene Partei als einzig progressive Kraft ausgemacht.

Die Wahlkampagne der 5Sterne war auf wenige soziale Themen konzentriert, vor allem auf die Beibehaltung des Bürgergeldes, den Ausbau des „Superbonus“ für die Sanierung von Immobilien, einen Mindestlohn und Maßnahmen zur Eindämmung der Energiepreise. Außenpolitisch distanziert sich die 5SB immer stärker von den Sanktionen gegen Russland und Militärhilfen für die Ukraine.

Ihr Vorsitzender, der 2018 mit Salvini regierte und dessen menschenrechts- und gesetzeswidrigen „Sicherheitsdekrete“ gegen Migranten und Flüchtlinge absegnete, ohne mit der Wimper zu zucken, sieht sich inzwischen als „italienischen Mélenchon“ (zum Ärger des Originals). Er hat mit seiner linkspopulistischen Wende durchaus den Stimmungstrend erkannt und mit einem Gesamtergebnis von etwas mehr als 15%, das erheblich höher ist als die zunächst prognostizierten einstelligen Zustimmungswerte, einen Erfolg erzielt, besonders in Süditalien.

Das genügte Conte schon, um herablassend zu verkünden, die PD (als zweitstärkste Kraft im Parlament) dürfe sich der Agenda der 5SB gern „anschließen“ und seiner Partei auf diesem Kurs „folgen“.

Anders als die 5Sterne hat die Liste Azione-Italia Viva (der sogenannte „Terzo Polo“) mit ihren 7,7% das Ziel, in Italien zur dritten Kraft zu werden, klar verfehlt. Aus dem dritten ist ein vierter Pol geworden. Ihre Stimmen haben Calenda und Renzi vor allem aus dem Wählerpotenzial der PD erhalten und damit zum Sieg der Rechten beigetragen.

Letzte Anmerkung: Laut Medien soll Draghi mit seiner Nachfolgerin in spe einen „heimlichen Pakt“ geschlossen haben. Er wird ihr als „Türöffner“ in Europa helfen, wenn sie folgende drei Bedingungen akzeptiert: 1) Fortsetzung der Unterstützung der Ukraine, 2) Verankerung in der Nato ohne Wenn und Aber, 3) kein Nachtragshaushalt, um die Schulden unter Kontrolle zu halten. „Diplomatische Quellen in Paris, Berlin und Brüssel“ hätten über entsprechende Telefonate Draghis mit Macron, Scholz und Von der Leyen berichtet. Die Italiener lieben die Geheimniskrämerei …

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