Endspurt vor der Wahl

Da in gut einer Woche in Italien gewählt wird, dürfen schon seit dem vergangenen Wochenende die Wahlforschungsinstitute keine Prognosen mehr veröffentlichen, die sich auf aktuelle Umfragen stützen. Also können wir jetzt nur die letzten Prognosen zitieren, die noch vor dem vergangenen Wochenende herauskamen – wohl wissend, dass jeder Wahlkämpfer vor einem solchen Termin gerne noch an ein Last-Minute-Wunder glaubt, das alle Umfragen auf den Kopf stellt, besonders wenn er Grund zur Annahme hat, dass er seine ursprünglichen Hoffnungen begraben kann.

Hier also die gemittelten Prognosen von vier Instituten, Stand vor 5 Tagen: Demnach wird Giorgia Melonis Partei FdI voraussichtlich 25% erreichen, die sozialdemokratische PD 20-22%, die 5SB 13-14%, Salvinis Lega 12-13%, Berlusconis FI 7-8% und der „Dritte Pol“ um Calenda und Renzi 5-6%. Auch wenn sich hier und da noch das Ergebnis um ein paar Prozent ändert: Am Sieg des Rechtsblocks (der aus FdI, Lega und FI besteht) wird schon aufgrund des Wahlgesetzes nicht zu rütteln sein, das für ein Drittel der Abgeordneten die Wahl nach dem Mehrheitsprinzip vorschreibt. Die Niederlage der Linken um die PD wird die Summe eines doppelten Scheiterns sein: Schon im Vorfeld schaffte sie es nicht, gegen die Rechte eine Einheitsfront mit dem Zentrum (sprich dem „Dritten Pol“) und den Populisten um Conte („Weder links noch rechts“) zustande zu bringen, und sie wird es jetzt auch nicht als Partei allein schaffen, mit Melonis FdI gleichzuziehen.

Die zweite Botschaft, die in dieser Prognose steckt, betrifft die voraussichtlichen Machtverhältnisse innerhalb der Rechten selbst. Noch vor wenigen Wochen kam kurzzeitig das Gerücht auf, Salvini und Berlusconi planten nach der Wahl eine Art Putsch, indem sie versuchen würden, Meloni im letzten Moment das Amt der Ministerpräsidentin streitig zu machen, auch wegen ihrer Kritik an Putin und an dem Ukraine-Krieg. Wenn jetzt die Prognosen sagen, dass Melonis FdI allein mehr Stimmen als Salvinis Lega und Berlusconis Forza Italia zusammen einfahren wird, verflüchtigt sich diese Idee in das Reich der Illusion.

Nur ein flüchtiges Intermezzo?

Anfang September schrieb Oliver Meiler in der Süddeutschen unter der Überschrift „Flüchtig wie ein Furz“ einen schönen Artikel, in dem er die Euphorie der Italiener beschreibt, die gegenwärtig Meloni immer mehr nach oben trägt. Meiler fand eine Ursache in der „extremen Volatilität der italienischen Wähler“ und in ihrem „unreifen Umgang mit der Macht und dem Staat“, den sie für grundsätzlich „böse“ halten. Und folgert, dass auch Meloni ebenso schnell wieder von der Bühne verschwinden werde, wie sie gekommen ist. Das politische Auf und Ab der letzten Jahre – von Renzi zu Gentiloni, von Conte1 zu Conte 2 und schließlich zu Draghi – scheint Meiler auf den ersten Blick Recht zu geben. Aber der Urvater dieser Volatilität war Berlusconi, der es sogar schaffte, aus seiner Luftigkeit eine Tugend zu machen und damit dem Land zwei Jahrzehnte lang seinen Stempel aufzudrücken, auch wenn er es in dieser Zeit nicht ununterbrochen regierte. Und Meiler berücksichtigt auch nicht, dass jetzt die Rechte ein Projekt in Angriff nehmen will, das schon Berlusconi verfolgte und jetzt zur autoritären Antwort auf diese Volatilität werden könnte: die erhoffte Einführung eines superstabilen Präsidialsystems nach Orbanschem Muster. Immerhin hat das „volatile“ italienische Volk auch 20 Jahre lang Mussolini ertragen, sogar 8 Jahre länger als wir Deutschen Adolf Hitler. Es könnte also durchaus sein, dass die Launenhaftigkeit und die wachsende Sehnsucht nach dem „starken Mann“ (oder der „starken Frau“) zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Inzwischen hat allerdings Meiler in der Süddeutschen (am 16. 9.) einen weiteren Artikel geschrieben, in dem er vor der realen Gefahr warnt, dass aus der italienischen Demokratie eine „Demokratur“ werden könnte. Und das nicht nur einen flüchtigen Moment lang.

Meloni im Wahlkampf

Es ist immer aufschlussreich, Politikern im Wahlkampf zuzuhören. Denn zumindest eines geben sie dort preis: wie sie wahrgenommen werden möchten. Maurizio Molinari, der Chefredakteur der „Repubblica“, berichtet am 9. 9. über einen Auftritt von Giorgia Meloni, den sie Anfang September in Aquila hatte. Es war für sie ein Heimspiel, der Bürgermeister ist von der gleichen Partei, und sie kann sofort mit der Erinnerung an das verheerende Erdbeben beginnen, das Aquila 2009 heimsuchte, zu deren Wiederaufbau ja ihre Partei maßgeblich beigetragen habe. Womit sie auch schon den Übergang zu dem Slogan gefunden hat, unter den sie ihren ganzen Wahlkampf stellt und der auch jetzt als riesiges Poster über der Tribüne prangt: BEREIT, UM ITALIEN WIEDER AUFZURICHTEN.

Dann nimmt sie den Fehdehandschuh auf, den ihr Letta hinwarf, als er seinen Wahlkampf auf die Polarisierung zwischen Links und Rechts ausrichten wollte. Die PD verkörpert für sie „die Hegemonie der linken Macht“, die darin bestehe, nur dem, der ihr Parteibuch in der Tasche trage, die Möglichkeit zum Aufstieg zu geben. „Aber meine Mission ist es, alle voranzubringen“, womit sie Lettas politischer Polarisierung eine andere entgegensetzt, die wir von allen Populisten kennen: Wir sind das Volk, die dort sind die Macht. Warum bekennen sich so wenige Künstler, Leute des Show-Business und Influencer zu dem, was Meloni vertritt? Dass sie gegenteilige Überzeugungen haben könnten, zieht Meloni gar nicht erst in Betracht, sondern geht gleich in die viktimistische Kurve: Wer sich von ihnen auf die Seite des Volkes schlage, dem würden von da an nur noch Steine in den Weg gelegt. Deshalb müsse jetzt „Italien wie eine Socke umgekrempelt“ werden, damit sich das Volk durchsetzen könne, wo es bisher „die Macht“ tat. Siehe die Schule, „wo die Progressiven die Leistung abgeschafft und gerade dadurch Unterschiede erzeugt haben“. Was verändert werden müsse, sei das Verhältnis des Staats zu den Bürgern. Heute ersetze der Staat die Freiheit, wo er doch zum Partner der Unternehmen und Bürger werden müsse. Um dann zu dem zentralen Ansatzpunkt aller Populisten zu kommen, ob sie nun Berlusconi, Trump oder Steve Bannon heißen: die Steuern, mit denen der Staat immer noch die Menschen und Unternehmen quäle und schikaniere, ohne dort, wo wirklich Steuern hinterzogen würden, etwas zu unternehmen.

„Extracomunitari“ und Medien

Hier findet sie die Brücke zum nächsten Thema: Die Steuerbehörden ignorierten die Immigranten aus Nicht-EU-Ländern, die ihre Läden schon vor dem Ablauf von zweieinhalb Jahren wieder dicht machten, um den dann fälligen staatlichen Kontrollen zu entgehen. Großer Beifall, als Meloni von einem Unternehmen redet, das Pralinen produziert und gerade von Türken übernommen wurde, und hinzufügt, dass dieser Ausverkauf italienischer Marken an das Ausland gestoppt werden müsse. Der Gegensatz von Italienern und Immigranten wird sozial ausbuchstabiert: Hier Italiener, denen aus dem europäischen Sozialfond durch Steuerminderung, Unterstützung für Behinderte, Kindergärten und Wohnungsbeihilfen geholfen werden müsse. Dort die immigrierten Männer, die Drogen dealen, und Frauen, die sich prostituieren, und die das „Instrument der großen Konzerne sind, um die Konkurrenz zwischen italienischen und immigrierten Arbeitskräften nach unten zu schüren, um beiden immer weniger zahlen müssen“. Ein Stereotyp auch der deutschen Debatte.

Nun die nächste Unterscheidung: die Ukraine-Flüchtlinge, denen Asyl gewährt werden müsse, und die Flüchtlinge, die in Booten kommen und im arbeitsfähigen Alter seien. Letztere müssten nicht nur gerecht auf alle europäischen Ländern verteilt, sondern für sie müssten Hot Spots in Afrika eingerichtet werden. Hier bilde die Linke eine Gutmenschen-Front mit den Immigranten, was bedeute, sich die Regeln für die Aufnahme in Italien von den Schleppern diktieren zu lassen.

Dann die Apotheose, unter sich steigerndem Beifall und in einem Meer von Fahnen noch einmal der Hinweis auf „Krieg, Pandemie, Energie-Rechnungen, Ernährungskrise, das Risiko von mehr Immigranten“. Und ein letzter Angriff auf die Medien, die ein Teil des Systems der Macht seien: „Ich lese keine Zeitungen und schaue mir auch viele Fernseh-Übertragungen mehr an, ich rede lieber mit euch“. Ihr Ziel sei es, dem Land eine Regierung zu geben, die an die nationale Identität glaube. Der römische Tonfall, mit dem sie spricht, unterstützt das Image der Führerin, die aus dem Volk kommt und für das Volk kämpft, gegen die starken Mächte und die wirtschaftlichen Lobbies.

Antieuropäische Demaskierung

Und außer dem Hinweis auf den europäischen Sozialfond kein einziges Wort über Europa. Der Vorhang des Schweigens beginnt sich dann aber in den Folgetagen ein wenig zu heben. Am vergangenen Sonntag verkündet Meloni in Mailand, mit Europa sei jetzt „Schluss mit lustig“ (È finita la pacchia). Und während noch gerätselt wurde, was sie damit eigentlich sagen wollte, wird am Dienstag ein Interview mit der Washington Post bekannt, in dem sie sich als „Atlantikerin“ bekennt, d. h. ihre Loyalität zu den USA beteuert (aber zu welchem? Meloni vermeidet den Namen Trump, aber verhehlt nicht ihre Sympathie für die republikanische Partei). Und ihr Verhältnis zu Europa? Da kommt die Antwort, die wie eine kalte Dusche ist: Sie habe es „nicht nötig, von der EU akzeptiert zu werden“. Da wusste sie, die Europa-Abgeordnete, wohl schon, was sich zwei Tage später im Europa-Parlament ereignen würde: An diesem Tag stand ein Entschließungsantrag auf der Tagesordnung, in dem erstmals das illiberale Regime von Orban verurteilt werden sollte. Der Antrag wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen, aber gegen die Stimmen der Lega und auch der Fratelli d’Italia. Die Maske ist gefallen.

Draghi spricht Klartext

Inzwischen nimmt auch Draghi, der noch amtierende Ministerpräsident, kein Blatt mehr vor den Mund. Am Freitag erklärt er in seiner Pressekonferenz, dass er mit der Ablehnung der Sanktionen gegen den russischen Aggressionskrieg durch Salvini – dessen Namen er hier ausdrücklich nennt – nicht einverstanden sei. Und erklärt wenige Minuten später, wenn auch diesmal ohne Namensnennung, dass man ja wisse, „dass es jemanden gibt, der die Russen über die Maßen liebt, die Sanktionen gegen sie abschaffen will und täglich mit ihnen heimlich telefoniert. Aber die Mehrheit der Italiener tut es nicht und will es auch nicht tun“. Und der dann noch einmal nachlegt: „Die italienische Demokratie ist stark und wird sich weder von ihren äußeren Feinden noch von ihren gedungenen Marionetten zerstören lassen“. Gedungene Marionette – an Salvini wird es haften bleiben.

Was politisch vielleicht noch wichtiger ist: Draghi distanziert sich auch von Giorgia Meloni, der er noch vor wenigen Wochen anzubieten schien, nach der Wahl für sie eine Art europäischer Türöffner zu sein. Einzige Bedingung: keine souveränistische Politik gegenüber der EU. Inzwischen hat Meloni im Europaparlament gegen die Verurteilung Orbans gestimmt. Und verkündet, das Next-Generation-Programm revidieren und die deutsch-französische Achse aufbrechen zu wollen. Draghi erklärt: „Wir haben eine Vision von Europa und verteidigen den Rechtsstaat. Wir sind Verbündete Deutschlands und Frankreichs. Was die nächste Regierung tut, weiß ich nicht. Aber ich frage mich: Wie wählt man dort die eigenen Partner aus? Sicher, da gibt es ideologische Übereinstimmungen, aber man tut es auch auf der Grundlage der italienischen Interessen. Wer sind diese Partner? Auf welche Partner kommt es dabei mehr an? Gebt euch selbst die Antwort“.

Nach dem Drama kommt in manchen Theaterstücken der Auftritt des Clowns. Berlusconi erklärt sein vollständiges Einverständnis mit den Einlassungen Draghis. Dem Fraktionsvorsitzenden der EVP im Europaparlament, Weber, habe er persönlich „garantiert, dass die mögliche Mitterechts-Regierung atlantisch, europäistisch, christlich und liberal bleibt“. Er ist der kleinste Partner der rechten Koalition. Meloni und Salvini werden tief beeindruckt sein. Sie haben es nicht einmal für nötig gehalten, Berlusconi zu dementieren.