Die Totengräber

„Was Italien braucht, ist nicht ein brüchiges Vertrauen, das sich bei jeder etwas unangenehmen Entscheidung in Luft auflöst. Es braucht einen neuen Vertrauenspakt, wie der, der uns bisher ermöglicht hat, das Land zum Besseren zu verändern. Ihr Parteien, ihr Abgeordneten: Seid ihr bereit, diesen Pakt neu zu schließen? Seid ihr bereit, euch wieder darum zu bemühen, mit derselben Kraft wie anfangs, die dann verloren gegangen ist? Die Antwort schuldet ihr nicht mir, sondern Italien“.

Sieg der Verantwortungslosigkeit

„Nein“ war die Antwort der Mehrheit der im prächtigen Palazzo Madama versammelten Senatoren. Ein „Nein“, das sie allerdings nicht offen auszusprechen wagte. Die Senatoren von Lega und Forza Italia verließen bei der Abstimmung den Saal, die der 5SB-Senatoren defilierten an der Vorsitzenden vorbei mit der Erklärung: „Anwesend – nicht wählend“.

Ein feiges „Nein“, das Verantwortungslosigkeit und persönliche und parteiliche Partikularinteressen verkörpert. Ein „Nein“ zu den nationalen und internationalen Interessen des Landes, die durch Pandemie und Krieg bedroht sind und welche die Volksvertreter zu schützen geschworen haben. Ein beschämendes „Nein“, das drei Namen trägt: Matteo Salvini, Silvio Berlusconi und Giuseppe Conte. Sie sind die Totengräber von Draghis Regierung der „nationalen Einheit“.

Draghis Appell verpufft

Der Ministerpräsident hatte am vergangenen Donnerstag im Senat in einer eindringlichen Rede die Gründe für seinen Rücktritt genannt und die siebzehn Monate seiner Regierungszeit Revue passieren lassen. Dem Lob für die anfängliche Zusammenarbeit innerhalb seiner heterogenen Koalition folgte Kritik: Es habe im Laufe der Zeit zunehmende Widerstände einzelner Parteien gegeben. Auf außenpolitischem Gebiet habe man versucht, die Unterstützung für die Ukraine und den Widerstand gegen Putins Aggression aufzuweichen.

Draghi bei seinem letzten Auftritt im Senat

Kulminiert sei dies vor einer Woche ebenfalls im Senat, mit der Enthaltung der 5SB beim Gesetzesdekret über Hilfen für Familien und Unternehmen und der mit ihm verbundenen Vertrauensabstimmung. Damit habe eine zur Koalition gehörende Partei der eigenen Regierung das Vertrauen verweigert. Dies sei eine „klare politische Entscheidung“, die weder vom Parlament noch von ihm als Ministerpräsidenten ignoriert werden könne. Andernfalls könne sich ein solches Verhalten – auch seitens anderer Regierungsparteien – wiederholen.

Als Reaktion auf Draghis Appell reichten Lega und Forza Italia eine Resolution ein, in der die Bildung einer neuen Regierungskoalition gefordert wurde: ohne 5Sterne, mit einem neuen Programm und dem Ausscheiden der Minister, die den rechten Parteien missliebig sind (vor allem Innenministerin Lamorgese und Gesundheitsminister Speranza). Eine Provokation für den Ministerpräsidenten  und für Mittelinks.

Die 5SB ihrerseits erklärte, Draghi habe sie gedemütigt, all ihre Anliegen seien ignoriert worden. Obwohl Draghi in seiner Rede einige dieser Anliegen explizit aufgegriffen und sich zu eigen gemacht hatte, u. a. den Mindestlohn und das Bürgereinkommen (das allerdings verbessert werden müsse).

Damit war es klar: Rechte und Grillini lassen die Regierung platzen. Die Resolution des „Senats-Veteranen“ Casini, die den Bericht des Ministerpräsidenten billigte und ihm das Vertrauen aussprach, bekam zwar formal eine Mehrheit (95 Ja-Stimmen, 38 Gegenstimmen), aber durch die vereinte Nichtbeteiligung von drei Parteien an der Abstimmung war der Regierung faktisch das Vertrauen entzogen.

Draghis Gang am nächsten Tag in die Abgeordnetenkammer diente nur noch der Mitteilung, er werde beim Staatspräsidenten seinen unwiderruflichen Rücktritt einreichen, was er gleich danach tat. Daraufhin erklärte Mattarella das Parlament für aufgelöst und den 25. September zum Tag der Neuwahlen. Die Krisensituation lasse keine Pause zu, erklärte er, in knappen Worten und mit düsterer Miene. Seine indirekte Botschaft: „Glaubt ja nicht, dass ihr jetzt nach diesem Schlamassel in die Ferien gehen könnt, jetzt wird gearbeitet“. Mattarella beauftragte Draghi, bis zur Installierung der neuen Regierung geschäftsführend im Amt zu bleiben, um bereits beschlossene bzw. begonnene Maßnahmen umzusetzen.

Nachbeben in den Parteien

Die von der Rechten und den 5Sternen herbeigeführte Regierungskrise und nicht zuletzt deren Umstände haben die Parteien in Aufruhr gebracht. Zwei Minister von FI, bislang treue Gefährten Berlusconis – Mariastella Gelmini und Renato Brunetta -, nannten das Verhalten ihrer Partei unverantwortlich und einen „Verrat an Italien“. Sie traten aus. Die dritte FI-Ministerin, Mara Carfagna, wird ihnen wohl bald folgen.

In der Lega reichte das Murren – vor allem seitens der norditalienischen Regionspräsidenten und des Wirtschaftsministers Giorgetti, der ein gutes Verhältnis zu Draghi hat – nicht für eine offene Konfrontation mit Salvini. Aber die Kritik ist da, und es muss abgewartet werden, ob die Lega-Wählerschaft im Norden den „Coup“ ihres Leaders bei den Wahlen honorieren wird: Sie rekrutiert sich ja auch aus den sogenannten produktiven Schichten des Landes, deren Interessen durch die Regierungskrise aufs Spiel gesetzt werden.

Der „ewige Nichtentscheider“

Wer um seine Existenz fürchten muss, sind die 5Sterne und ihr desaströs agierender Vorsitzender Conte. Der Repubblica-Journalist Sebastiano Messina charakterisiert ihn, den „ewigen Nichtentscheider“, so: „Er hat entschieden, nicht zu entscheiden, was zu entscheiden war und durch wen“. Tatsächlich schwankte der „Avvocato del popolo“ ständig zwischen widersprüchlichen Aussagen. Er beteuerte Loyalität zu Draghi, um ihm gleich darauf das Vertrauen zu entziehen und dann wieder zu erklären, das sei gar keine Weigerung gewesen.

Seinen Abgeordneten gab er die kristalline Linie vor, weder für noch gegen die Regierung zu stimmen. Und vor den Medien den Mund zu halten, in der absurden Hoffnung, damit sowohl die „governisti“ als auch die „Fundis“ in der eigenen Partei zufriedenzustellen. In endlosen Zoom-Versammlungen bis tief in der Nacht wurde keine einzige Entscheidung getroffen, wobei die Gründe, die Conte für die Unzufriedenheit mit der Regierung vorbrachte, dauernd variierten – zwischen der römischen Mullverbrennungsanlage und den sonstigen „erlittenen Kränkungen“ durch den Regierungschef. Ein Fall für den Psychotherapeuten, meinen Kommentatoren.

Letta: „Tag des Irrsinns“

„Il giorno della follia“ – der Tag des Irrsinns. So nannte PD-Generalsekretär Letta den Donnerstag, an dem Draghi aufgab. Damit sprach er aus, was auch viele Bürgerinnen und Bürger empfinden. Mit einer Flut von Appellen – von Bürgermeistern, Unternehmern, Personal des Gesundheitswesens, Nichtregierungsorganisationen, Intellektuellen, Kirchen und Sozialverbänden – wurde Draghi bedrängt, im Amt zu bleiben und seine Regierungsarbeit fortzusetzen, was Draghi, wie er auch in seiner Rede erklärte, beeindruckt und bewegt hat. Appelle, welche die Populisten, die sich ansonsten gerne den Mund mit den „Interessen des Volkes“ vollstopfen, ignorierten.

Die Regierungskrise und das Verhalten der 5SB haben auch die PD in eine Krise gestürzt. Lettas ohnehin schwierige Strategie eines „campo largo“, als Alternative zum Rechtsblock und mit der 5SB als wichtigstem Partner, ist nun Makulatur. Letta selbst fand dafür deutliche Worte: Die 5Sterne hätten mit ihrem unverantwortlichen Verhalten die Interessen des Landes beschädigt, ein Bündnis mit ihnen sei nicht mehr vorstellbar. Die PD müsse jetzt alle eigenen Kräfte mobilisieren und mit jenen kooperieren, die bereit sein, die von der Regierung Draghi begonnene Arbeit fortzuführen und zu einer eigenen progressiven Agenda weiterzuentwickeln.

Das richtet sich sowohl an Parteien und Gruppen links von der PD – von LEU bis zur neu gebildeten Union von Sinistra Italiana und Verdi – als auch an das Zentrum (Italia Viva, Azione, +Europa und Di Maios neuer Gruppierung). Wobei Letta gegenüber Renzis Partei als Bündnispartner Zweifel hegt, da diese zunehmend die Zusammenarbeit mit der Rechten suchte, auch bei Wahlbündnissen auf kommunaler Ebene. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob bzw. wie sich das Mittelinks-Lager neu formiert. Das Problem bleibt, dass ein solches Bündnis, auch wenn es zustande käme, aller Voraussicht nach nicht in der Lage wäre, den Wahlsieg der Rechten zu verhindern.

Meloni jubelt – und schreibt schon die Kabinettsliste

Kein Wunder also, dass die Anführerin der rechtsextremen Fratelli d’ Italia Giorgia Meloni jubelt. Sie sieht sich schon im Palazzo Chigi als die erste weibliche Ministerpräsidentin Italiens. Und bastelt bereits an der Liste ihres künftigen Kabinetts, wobei sie laut Medienberichten darauf achtet, diesem einen seriösen und nicht zu krawalligen Anstrich zu geben, mit verschiedenen „Experten“ und „präsentablen“ Parteivertretern (also keine offenen Duce-Verehrer).

Doch trotz aller Vorfreude ist die Lage auch innerhalb der Rechtskoalition alles andere als spannungsfrei. Der erste Konfliktpunkt betrifft die Spitzenkandidatur: Meloni, deren Partei in Umfragen führt, reklamiert sie für sich. Salvini und vor allem Berlusconi weichen aus, der Zeitpunkt für eine solche Entscheidung sei verfrüht, man müsse den Wahlausgang abwarten (Salvini weiß nur, dass er wieder Innenminister werden will). Die zweite Streitfrage betrifft die Auswahl der Kandidaten für die Wahlkreise. Nach dem geltenden Wahlgesetz wird etwa ein Drittel der Mandate dort direkt entschieden, der Rest nach Verhältniswahlrecht. Die Direktmandate entscheiden sowohl über das Gesamtwahlergebnis als über die Stärke der einzelnen Parlamentsfraktionen.

Trotz der für die Rechte günstigen Prognosen: Sie stützen sich auf Umfragen, die vor dem Sturz Draghis durchgeführt wurden, sagen also noch nichts darüber aus, wie die Wählerschaft darauf reagieren wird.

Letzte Anmerkung: Alle drei Parteien, die die Regierungskrise herbeigeführt haben, stehen beim Ukrainekrieg für einen „weicheren“ Kurs gegenüber Russland. Auf die Frage einer Journalistin, wie er diesen Umstand bewertet, lautete Lettas Antwort: „Putin wird darauf mit Prosecco anstoßen“.

4 Kommentare

  • Thorsten Groth

    Interessante und kluge Analyse, die den Leser leider in einem Dilemma hinterlässt. Die zersplitterte Parteienlandschaft und die Unklarheit wie die Wähler den Verrat von 5Stelle und rechten Parteien an Dragi beantworten, macht eine Einschätzung der Lage nicht leichter.

  • Walter Siebel

    Nicht erst Putins Krieg hat die Basisannahmen eines sozialen und liberalen politischen Denkens infrage gestellt. In den USA war ein Trump möglich und kann es wieder werden, der Brexit ist Realität, in Frankreich haben die Pro-Europäer die Wahl verloren und in Italien haben linke und rechte Populisten Draghi gestürzt, die nächste Ministerpräsidentin könnte eine Post-Faschistin werden, Polen und Urban sind schon länger auf dem Weg in Richtung „lupenreiner“ Demokratien, auch in Deutschland kommen angesichts des Überfalls auf die Ukraine die Kategorien eines politischen Denkens von vor dem ersten Weltkrieg wieder in Mode, und für all das kenne ich viele pessimistische Beschreibungen aber keine wirkliche Erklärung. Freud`s Hoffnung auf die leise aber unermüdliche Stimme der Vernunft, die sich nach unendlich wiederholten Abweisungen doch einmal Gehör verschaffen werde, scheint wieder einmal ziemlich kontrafaktisch.

  • Manfred Schwab

    Drei in der Wählergunst absteigende Parteien suchen ihre Rettung in einer brachialen Bruchlandung, die ihnen den Rest geben könnte. Die Frage ist, wie Italien das Desaster am Ende ohne größere Blessuren überleben kann. Da bleibt wirklich nur die Hoffnung auf die soziale Urteilskraft der italienischen Wähler und deren Mobilisierung.

  • Hartwig Heine

    Lieber Walter, seitdem wir Europäer uns ein Geschichtsbild zugelegt haben, in dem das „finstere Mittelalter“ hinter uns liegt und die Zukunft eigentlich nur immer mehr Aufklärung und Fortschritt bringen kann, neigen wir (mit dem „wir“ meine ich auch mich) zur Fassungslosigkeit, wenn sich dies als kontrafaktisch erweist. Vielleicht müssen wir lernen, Stoiker zu werden: In jedem Fortschritt steckt auch schon der Keim seines Zerfalls. Die EU ist das Beispiel: einerseits der Beweis, dass man aus der Geschichte lernen kann, andererseits aber auch längst Gegenstand der Demolition.
    Lieber Herr Schwab, das Problem in Italien ist das Subjekt, das die „Mobilisierung der Urteilskraft“ zustande bringen soll. Die PD allein wird es nicht schaffen.

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