Riskantes Spiel

Ministerpräsident Draghi sah sich vor ein paar Tagen genötigt, den „historischen“ Nato-Gipfel in Madrid vorzeitig zu verlassen und nach Rom zurückzufliegen. Offiziell, um eine wichtige Kabinettssitzung zur Energiepreissteigerung zu leiten, tatsächlich (vor allem) wegen der wachsenden Turbulenzen innerhalb seiner Koalition der „nationalen Einheit“.

5Sterne drohen mit Regierungskrise

War es bisher vor allem Legachef Salvini, der die Doppelrolle „ein bisschen Regierung, ein bisschen Opposition“ spielte, macht ihm nun der Vorsitzende der 5Sterne Conte Konkurrenz. In der bereits zerrütteten und geschwächten Bewegung ist nach dem Austritt Di Maios mit einer Gruppe von etwa 60 Abgeordneten endgültig das Chaos ausgebrochen. Unter den Abgeordneten herrscht die Panik, bei der nächsten Wahl ihr Mandat zu verlieren, und die „Basis“ fordert immer lauter einen Rückzug aus der Regierung. Dahinter steht die Hoffnung, damit ihr einstiges „anti-systemisches“ Profil (und Wählerkonsens) zurückzugewinnen.

Für den Ritt auf einer Welle sozialer Ängste stehen die Zeichen günstig: Die Pandemiekrise ist keineswegs vorbei und gleichzeitig werden die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Ukraine-Krieges immer bedrohlicher, insbesondere für die einkommensschwachen Teile der Bevölkerung.

Politisch zeugt ein solches Vorgehen, das zu einer Regierungskrise führen könnte, von mangelnder Verantwortung für die nationalen (und internationalen) Interessen des Landes. Zumal die Gründe, die von der 5SB für ein mögliches Verlassen der Regierungskoalition angeführt werden, kaum stichhaltig sind und ein Sammelsurium verschiedener Themen betreffen, aus dem keine fundierte politische Kritik an dem Regierungskurs erkennbar ist. Eher sieht es nach Vorwänden aus, um die Muskel spielen zu lassen und Draghi unter Druck zu setzen.

Contes „Wunschkatalog“ an Draghi

Mal heißt es Nein zu weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine, dann zum Bau einer neuen Müllverbrennungslage in Rom. Oder es geht darum, schärfere Regelungen und Kontrollen bei den beiden grillinischen Steckenpferden „reddito di cittadinanza“ (Bürgereinkommen) und „Superbonus 110%“ (staatliche Komplettfinanzierung der Sanierung privater Immobilien) zu blockieren.

Auf den letzten Punkt ist die 5SB besonders fixiert. Mit dem «Superbonus 110», der 2020 von der Conte2-Regierung beschlossen wurde, kann sich jeder Hauseigentümer seine Liegenschaft zum Nulltarif sanieren lassen: die Kosten werden ihm zu 110 Prozent in Form einer Steuergutschrift vom Staat erstattet. Die Maßnahme wurde eingeführt, um die Bauwirtschaft schnell anzukurbeln und gleichzeitig die energetische Sanierung privater Immobilien voranzutreiben (Wärmedämmung, Isolierung von Fenstern und Türen, Austausch der Heizung, Installierung von Solarpaneels). 100 Prozent zahlt der Staat in Form von Steuerverzicht, 10 Prozent geht an die finanzierende Bank. Die Steuergutschrift kann an die ausführende Firma weitergegeben werden. Es geht dabei nicht gerade um ein paar Penunzen: 38 Milliarden hat der Staat für dieses Vorhaben bereits ausgegeben, fast 14 Milliarden hat die EU im Rahmen der Coronahilfen zugeschossen.

Die Idee an sich ist nicht schlecht. Das Problem ist „nur“, dass es bei der Umsetzung – wie so oft in Italien – hapert. Bisher gab es darüber so gut wie keine Kontrolle, wie der Ministerpräsident und sein Finanzminister einräumen mussten. Die Folge: der Superbonus wurde oft gewährt, ohne dass jemals Arbeiten ausgeführt wurden. Bereits 2.3 Milliarden Euro wurden wegen Betrugsverdachts eingezogen, ein Teil des Geldes landete über undurchsichtige Finanzkonstrukte im Ausland. Dabei hatte die Mafia – nicht überraschend – die Hände im Spiel.

Der Zorn der Grillini richtet sich jedoch nicht gegen diesen Betrugsskandal, im Gegenteil: sie sind empört, dass Draghi nun zur Behebung (endlich) scharfe Kontrollen einführen will. Damit werde die Gewährung der Förderung „bürokratisiert“ und die Umsetzung verlangsamt oder gar verhindert, klagt Conte, der Vater des „kontrollfreien“ Superbonus. Und macht sich damit zum Sprachrohr derjenigen, die vom Betrug profitiert haben und weiter profitieren möchten.

Das Vier-Augen-Gespräch

Der Ministerpräsident ist bekanntlich niemand, der sich leicht aus der Fassung bringen lässt. Auch jetzt blieb er nüchtern-distanziert und gab sich, wie schon bei Salvini, gegenüber den erzürnten 5Sternen gesprächsbereit. Allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt: Bei einem Vier-Augen-Gespräch mit Conte signalisierte er bei sozialen Themen wie dem „Reddito di cittadinanza“ Entgegenkommen; bei der Frage der Waffenlieferung an die Ukraine blieb er indessen eisern. Und auch beim Superbonus hat er nicht vor, sich von den 5Sternen vorführen zu lassen.

Er werde sich bis Ende Juli zu den einzelnen kontroversen Themen (die ihm Conte in einem „9-Punkten-Katalog“ präsentiert hatte) äußern, teilte er nach dem Gespräch mit. Und im Übrigen gehe er davon aus, dass seine Regierung der nationalen Einheit – 5Sterne mit eingeschlossen – ihre Arbeit bis zum Ende der Legislaturperiode fortführt.

Conte selbst reagierte auf die Fragen der Journalisten ausweichend, wie es oft bei ihm der Fall ist. Die 5SB suche keine Regierungskrise, müsse aber abwarten, in wieweit der Ministerpräsident deren Forderungen entspricht.

Hinter taktischen Spielchen steht politische Leere

Dass die 5SB am Ende tatsächlich die Koalition verlässt, ist allerdings unwahrscheinlich, da sie dadurch mehr riskieren als gewinnen würde. Denn nach dem Austritt Di Maios und weiterer 60 Abgeordneten hätte die Draghi-Regierung auch ohne Stimmen der 5SB eine komfortable Mehrheit. Und in dem Fall, dass Draghi wegen der Regierungskrise von seinem Amt doch zurücktritt, würde Conte und die Seinen bei vorgezogenen Neuwahlen ein sicheres Debakel erwarten.

Also versucht der selbsternannte „Avvocato del popolo“ mit allerlei Forderungen Druck auf Draghi auszuüben und sich medial zu profilieren, ohne für sich und seine Rest-Partei allzu viele Risiken einzugehen. Am vergangenen Mittwoch, bei der Abstimmung in der Abgeordnetenkammer über das neue Gesetzesdekret, mit dem Familien und Unternehmen von den Folgen der Krise entlastet werden sollen, hat seine Partei bei der Vertrauensfrage nun doch mit Ja gestimmt. Allerdings um gleich danach zu erklären, ob dies auch im Senat so sein würde, sei nicht gewiss.

Was die ganze taktische Spielerei der 5Sterne auf jeden Fall offenbart, ist deren politische Substanzlosigkeit, gepaart mit fehlendem Verantwortungsgefühl und Unzuverlässigkeit. Das wird auch der PD, dem potentiellen „Bündnispartner“ der 5Sterne, zunehmend klarer. PD-Generalsekretär Letta mahnt unermüdlich, die krisenhafte Lage verlange nach Geschlossenheit der Koalition und konsequentem Handeln – und schielt inzwischen bei seinen Bemühungen um die Schaffung eines breiteren Bündnisses immer häufiger auch in Richtung Zentrum (Renzis Partei, Boninos „+Europa“, Calendas „Azione“ und jetzt auch Di Maios neue Formation).

Salvinis Kontrapunkt

Die von den 5Sternen produzierten Regierungsturbulenzen animieren Salvini, seinen Teil dazu beizutragen. Parallel zu Contes „Forderungskatalog“ an Draghi ließ er die Öffentlichkeit mit großem Getöse wissen, dass die Lega nicht einmal daran denke, die von Mittelinks angestrebte Verabschiedung eines neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes für Kinder von Einwanderern, die ihre schulische Laufbahn in Italien durchlaufen haben („jus scholae“), mitzutragen. Gleiches gelte für die Liberalisierung des Cannabiskonsums (ebenfalls auf der Agenda von Mittelinks).

Nicht anders als Conte wird auch Salvini von sinkenden Zustimmungswerten und parteiinternen Spannungen geplagt. Mit dem wichtigen Unterschied, dass er – anders als Conte – im Fall eines Platzens der Regierungsmehrheit bei vorgezogenen Neuwahlen hoffen kann, im Aufwind seiner Rivalin und Bündnispartnerin Meloni dennoch in Regierungsverantwortung zu kommen. Zwar nicht als Ministerpräsident – aber möglicherweise (wieder) als Innenminister, wie er schon verlauten ließ. Immerhin. Eine Option, bei der er jedoch auch in Teilen seiner eigenen Partei – dem Draghi-freundlichen Flügel um den einflussreichen Wirtschaftsminister Giorgetti und den populären Gouverneuren der norditalienischen Regionen – auf heftigen Widerstand stößt.

Mögliche Szenarien

Szenario 1: „Tutto fumo e niente arrosto“ (Viel Lärm um nichts). Draghi bleibt im Amt, 5Sterne (und Lega) bleiben – mehr oder weniger mürrisch – in der Regierung.

Szenario 2: Die 5Sterne verlassen die Koalition. Draghi, der immer beteuert hat, er werde bei einem Platzen der Allparteienkoalition sein Mandat zurückgeben, tritt zurück, es gibt vorgezogene Neuwahlen.

Szenario 3: Mattarella lehnt Draghis Rücktritt ab und beauftragt ihn noch einmal mit der Regierungsbildung für die verbleibenden 9 Monate – ohne die 5SB („Draghi bis“). Keine vorgezogenen Neuwahlen.

Szenario 4: Conte verschiebt den Austritt der 5Sterne aus der Regierung auf den Herbst, darauf setzend, dass Staatspräsident Mattarella nicht so kurz vor Ende der Legislaturperiode das Parlament auflöst. Draghi bleibt im Amt.