Addio David Sassoli – ein Nachruf

Die Nachricht des Todes von David Sassoli, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, hat international und lagerübergreifend Trauer und Bestürzung hervorgerufen. Ganz besonders groß war die Anteilnahme natürlich in seinem Heimatland Italien, wo Sassoli lange vor dem Beginn seiner politischen Karriere als – bekannter und beliebter – Fernsehjournalist tätig war.

Freundlich und dialogbereit – aber hart in der Sache

Oft haben solche offiziellen Bekundungen von Trauer und Betroffenheit beim Tod von Personen des öffentlichen Lebens den Beiklang einer „Pflichterfüllung“. Nach meiner Wahrnehmung trifft es auf Sassoli nicht zu. Das hat mit seiner Person zu tun: Er war nicht „nur“ ein kluger und erfahrener Politiker und leidenschaftlicher Verfechter von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit, sondern auch jemand, der persönlich in hohem Maße Glaubwürdigkeit, Integrität, Würde und Empathie ausstrahlte. Und es fehlte bei ihm das „glatte“ Auftreten routinierter Politiker. Er zeigte offen – immer in seiner ruhigen Art, frei von jeglichem Pathos – seine innere Leidenschaft wie auch seinen Unmut.

In den zahlreichen Nachrufen wurde immer wieder, zu Recht, Sassolis zugewandtes und sanftes Wesen unterstrichen, verbunden mit respektvollem Umgang und Dialogbereitschaft. Das heißt aber nicht, dass er für jeden Kompromiss zu haben war, im Gegenteil. Er vertrat seine Positionen klar und geradlinig und, wenn in der Sache nötig, auch hart – und scheute dabei Konflikte nicht. So zum Beispiel im Oktober, als das Europäische Parlament auf Sassolis Initiative hin die EU-Kommission „wegen Untätigkeit“ bei der Ahndung von Rechtsverstößen gegen Rechtsstaatlichkeit seitens Polens und Ungarns vor dem Europäischen Gerichtshof verklagte. Der juristische Dienst des Parlaments habe die Klage „auf Ersuchen des Parlamentspräsidenten“ beim Gerichtshof eingereicht, erklärte damals die Sprecherin. Die EU-Kommission müsse konsequent handeln und das umsetzen, was Kommissionschefin von der Leyen in der Plenardebatte zum Thema Rechtsstaat gesagt hatte, so Sassoli zur Begründung. „Den Worten müssen Taten folgen.“

Für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit

Die gleiche Unnachgiebigkeit zeigte Sassoli, wenn es um die Achtung von Menschenrechten ging, nicht zuletzt gegenüber Migranten und Asylsuchenden. Die NGO Mediterranea Saving Humans betont in einem Nachruf auf den verstorbenen Präsidenten, er habe immer kompromisslos auf der Seite derjenigen gestanden, die Rettungsmissionen im Mittelmeer durchführen – auch zu Zeiten, in denen diese angegriffen und als Komplizen von Schleppern diffamiert wurden. „Deine Haltung gegen die Politik der Abschottung und der Abschiebungen war immer glasklar. Du hast viel getan, um Migranten und Flüchtlingen konkret zu helfen, die im Mittelmeer auf Schiffen in Erwartung eines sicheren Hafens nur zu Propagandazwecken blockiert und von skrupellosen Ministern (gemeint ist der ehemalige Innenminister Salvini, MH) als Geißel gehalten wurden. Das sind Dinge, die öffentlich nicht bekannt wurden, die wir aber genau wissen – denn nie hast du dich verweigert, wenn wir dich angerufen haben.“.

Verteidigung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit stand auch im Zentrum der diesjährigen Verleihung des „Sacharow-Preises“ an den inhaftierten russischen Oppositionsführer Aleksej Navalny durch das Europäische Parlament. Mit Navalny ehre das Parlament einen mutigen Kämpfer gegen das korrupte Putin-Regime und für das Recht auf Opposition, schrieb Sassoli in einem offenen Brief an die Presse.

Durch die Preisverleihung bringe das Europäische Parlament auch seine Sorge über die aktuellen Spannungen mit Russland und wegen der Flüchtlingskrise an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland zum Ausdruck, „in einer geographischen Gegend, die unseren eigenen Grenzen so nah und dennoch so belastet ist durch die Verletzung demokratischer Werte.“ Grundwerte wie die Achtung von Menschenrechten und die Prinzipien von Gleichberechtigung und Solidarität, die als integraler Bestandteil der EU-Verträge und ihrer Charta unverzichtbar seien, auch in der außenpolitischen Beziehungen der Union zu Drittstaaten.

Im Anschluss bringen wir (leicht gekürzt) das von uns übersetzte Vorwort Sassolis zu dem Buch von Donato Bendicenti „Verso casa. Il lungo viaggio dell’ Europa per ritrovare se stessa“, das Anfang Februar erscheint. Der Text veröffentlichte die Repubblica am 13. Januar unter dem Titel „Sassolis politisches Testament – eine bestimmte Vorstellung von Europa“:

Sassolis Vorstellung von Europa

„Es ist nie einfach, die Europäische Union zu erzählen, besonders in einer so komplexen Zeit, die unbekannte Gefahren aber auch große Chancen birgt … In gewisser Weise hat es das Virus geschafft, alle Widersprüche einer ohne Regeln globalisierten Welt offen zu legen. Eine Welt, die insbesondere in den letzten zwanzig Jahren immer neue Risse im gesellschaftlichen Zusammenhalts produzierte, was die Glaubwürdigkeit unserer demokratischer Systeme und das Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Institutionen in Frage stellte. Wir müssen lernen, dieser Komplexität mit einem veränderten Blick zu begegnen und gleichzeitig die Kraft haben, den europäischen Motor wieder in Gang zu setzen …

Es geht also darum, zu verstehen, dass eine Wirtschaft ohne Moral und ein Wachstum ohne Gerechtigkeit und zu Lasten der neuen Generationen nicht akzeptabel sind. Deswegen bin ich überzeugt, dass es wichtig ist, die Entwicklung der Europäischen Union in dieser Phase, die mit Sicherheit einer der schwierigsten und dramatischsten ihrer Geschichte ist, genauer zu betrachten.

Recovery Fund und Next Generation EU stellen nicht nur eine Antwort auf die Pandemie und deren Folgen dar, sondern sind auch eine Chance, neue Modelle zu entwickeln, die in der Lage sind, wirtschaftliches Wachstum mit dem Schutz der Umwelt zu vereinbaren. …Es ist notwendig, wieder unsere Grundprinzipien zu beleben und eine Ethik für den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, die über die Profitlogik hinausgeht. Von diesen Werten müssen wir wieder ausgehen und uns bewusst sein, dass Europa nur dann funktionieren wird, wenn jeder seine Pflicht erfüllt und wenn alle sich auf den Wiederaufbau und die Verminderung von Ungleichheit fokussieren – und vor allem, wenn wir den neuen Generationen eine gerechtere Zukunft mit mehr Chancen bieten wollen. Denn die Politik darf nicht nur für wenige sein.

Ein Europa, das debattiert, politisch handelt und nach Konvergenzen sucht, bedeutet, die Demokratie zu stärken und die Bürger zu Protagonisten dieser großen Gemeinschaft zu machen. Doch wenn wir wollen, dass unser Kontinent wirklich zum Protagonisten und globalen Akteur wird, müssen wir uns auch neue Instrumente schaffen: effizientere, flexiblere, widerstandsfähigere. Wie Jean Monnet schrieb, wird Europa ‚durch seine Krisen geformt‘, und ich bin überzeugt, dass gerade dies, schon immer, der Motor der europäischen Integration war. Zum Beispiel in der Außenpolitik muss Europa stärker seine Stimme erheben und strategischen Ziele bestimmen, damit es – gemeinsam mit unseren Partnern und in einem multilateralen Rahmen – einen Beitrag zu Stabilisierung, Frieden und Wachstum leisten kann.

Es ist anachronistisch, dass bei Fragen wie der Außenpolitik der Europäische Rat immer noch Entscheidungen einstimmig treffen muss. Wie können wir erwarten, dass Bürger sich zu einer Demokratie hingezogen fühlen, die lahm ist und sich selbst durch Veto-Regeln und das Einstimmigkeitsprinzip blockiert? Hier sind Reformen notwendig und wir müssen dafür sorgen, dass die demokratischen Regeln in der Europäischen Union den Erfordernissen und den Erwartungen der Bürger entsprechen.

Unsere Zeit sagt uns, dass wir mutiger werden müssen und Europa in bestimmten Fragen nicht weiter zögern darf. Die Pandemie darf nicht als Parenthese verstanden werden, sondern als starke Aufforderung, uns der Zukunft zuzuwenden, Veränderungen zu verstehen und uns der Komplexität der Welt zu öffnen. Ein nützliches Europa, dass sich nicht mit der eigenen Selbsterhaltung begnügt, sondern sich unserer Zeit stellt.

Wir brauchen große Reformen, aber noch notwendiger ist es, der Zentralität der Politik – verstanden als die Fähigkeit, die Welt zu formen, und als wesentliche Dimension zivilen Zusammenlebens – wieder Schwung zu verleihen.“

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