„Aber immerhin haben wir ihnen die Straßen gebaut“

Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion des Bozener Portals „Salto“ bringen wir im Folgenden (von uns übersetzte) Auszüge aus einem Interview, das Elisa Brunelli mit dem italienischen Historiker Francesco Filippi führte und das „Salto“ am 18. 11. 2021 veröffentlichte.

Eine Vorbemerkung unsererseits:

Der Zulauf, den die Ultrarechte gegenwärtig in Europa hat, geht vielfach mit der Verdrängung der eigenen Geschichte einher. Francesco Filippi. mit dem das folgende Interview geführt wurde, ist ein 1981 geborener italienischer Historiker, der die Aufklärung Italiens über seinen eigenen Faschismus und Kolonialismus zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Er schrieb zu diesem Thema schon verschiedene Bücher, bereist Schulen und Universitäten und ist der historisch-wissenschaftliche Verantwortliche von Promemoria_Auschwitz, ein Projekt, das von den autonomen Provinzen Bozen und Trento koordiniert wird. Wie dem Interview zu entnehmen ist, gibt es in Italien nicht nur ein großes Unwissen über das, was der Faschismus eigentlich war, sondern auch über seine Einbettung in eine verbrecherische Kolonialpolitik, die schon vor dem Faschismus begann, aber von ihm noch einmal auf die Spitze getrieben und gleich mitvergessen wurde. Dies ist das Ergebnis einer kollektiven Verdrängung, an der auch die Linke mitschuldig ist. Nach 1943 setzte sie an die Stelle einer Aufarbeitung des 20-jährigen Faschismus den Kult einer zweijährigen Partisanenbewegung, von deren positivem Vorbild sie sich eine Wirkung erhoffte, die das Volk sofort auf einer neuen Grundlage einigen könnte,

Zum Verständnis: Giovanni Pascoli: Italienischer Dichter, der von 1855 bis 1912 lebte und in seiner Jugend links war,  rechtfertigte den italienischen Kolonialismus als „Kolonialismus der Armen“. Francesco Crispi: Politiker des 19. Jahrhunderts, der ebenfalls der radikalen Linken entstammte, wurde italienischer Ministerpräsident und führte 1896 den ersten misslungenen Eroberungskrieg gegen Abessinien. Indro Montanelli: Berühmter italienischer Journalist, lebte von 1909 bis 2001 und  diente vielen Herren (verfeindete sich aber auch mit vielen). Er beteiligte sich 1935 als italienischer Freiwilliger am Abessinien-Krieg und erzählte später, sich dort für 500 Lire ein Pferd, ein Gewehr und ein 12-jähriges Mädchen für eine „Ehe auf Zeit“ gekauft zu haben. Faccetta Nera („Schwarzgesichtchen“) hieß 1935 das Marschlied der faschistischen Milizionäre, die in diesen Krieg zogen, das aber auch heute noch von den Neofaschisten gern gesungen wird: Wenn man den Kontext berücksichtigt, ist der Text (dessen schlechte deutsche Übersetzung im Internet abrufbar ist) eine schmierige Hymne an eine „kleine Morin, schöne Abessinierin“, zu deren „Befreiung“ die Schwarzhemden ins Land gekommen seien, um ihr „ein neues Recht und einen neuen König“ zu überbringen – samt „Sklaverei der Liebe“. Und dies alles mit dem Versprechen, dass man schließlich das „Schwarzgesichtchen“ nach Rom bringen werde, um dort Arm in Arm am Duce und am König vorbei zu defilieren. Was schon deshalb eine Lüge blieb, weil der italienische Kolonialismus aufgrund seines Rassismus eine Einbahnstraße war: Die Italiener sollten in die Kolonien, aber den kolonisierten „Schwarzgesichtern“ wurde der Zugang nach Italien verwehrt.

Übersetzung des Interviews von Elisa Brunelli (Salto) mit dem Historiker Francesco Filippi

Filippi,  wie würdest du den italienischen Kolonialismus charakterisieren?

„In der Galaxie der europäischen Kolonialismen erscheint der italienische erst am Ende, da ja auch Italien der Gruppe der großen Nationen im neunzehnten Jahrhundert als letzte beitritt. Der gerade gegründete Staat bemüht sich, im internationalen Kontext eine eigene Außenpolitik zu entwickeln, die aber dabei angesichts vieler enorm vitaler Konkurrenten sofort in Schwierigkeiten gerät… Italien drängt… in großer Hast auf die internationale Bühne, und sein angstvolles Bestreben, in den exklusiven Club der großen Weltmächte aufgenommen zu werden, übersetzt sich bei der Okkupation der fremden Territorien in brutale Gewalt. Kein Vergleich zu der planmäßigen Kolonialisierung nach englischem oder französischem Vorbild…“

Francesco Filippi

In deinem Buch versuchst du, eine Gesamtantwort auf die Frage zu geben, warum Staaten – hier besonders der italienische – den Drang entwickeln, andere Länder zu okkupieren und zu kolonisieren. Rein wirtschaftliche Begründungen reichen wohl als Antwort nicht aus. Ist dir die Antwort auf diese Frage gelungen?

„Ich glaube ja, und die Antwort ist dramatisch. Ich wünschte, man könnte alles auf wirtschaftliche und kulturelle Variable oder auf vermeintliche Zivilisationsabsichten reduzieren … In Wahrheit ist der italienische Kolonialismus der offensichtliche Versuch, voller Angst einen  riesigen Minderwertigkeitskomplex zuzudecken, den Italien in Bezug auf seine Rolle in der Welt hat..: Der italienische Kolonialismus tritt zu einer Zeit auf, in der die biologische Rassenlehre eine anerkannte Wissenschaft ist… Bei der Auswanderung der Italiener in die USA zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert gilt die ‚razza italica‘ – besonders im Fall der Süditaliener – nicht einmal als vollgültige ‚weiße Rasse‘.

Dieses Minderwertigkeitsgefühl, das aus der Zugehörigkeit zu einem Land zweifelhafter Identität entsteht, macht die Italiener zu Kolonialisten aus Trotz. Die Gründe dieses Kolonialismus … kommen in der berüchtigten Rede von Giovanni Pascoli von 1911 zum Ausdruck, in der ‚sich die Große Proletarierin in Bewegung gesetzt hat‘. In jener Rede ist schon alles enthalten: Pascoli erkennt an, dass wir ein Volk von armen Teufeln sind, Leute, die zum Überleben nur ihre Hände haben. Ein Volk – so ausdrücklich Pascoli –, das es satt habe, wie Neger behandelt zu werden. Es ist eine Hymne auf einen tristen Kolonialismus.“

Es ist in Teilen auch ein Kolonialismus „von links“ …

„Das muss man so sagen. Das koloniale Abenteuer und vor allem die sie begleitende Propaganda tragen in Europa oft den Stempel des Linken und Progressiven. Sie wurde weder von den englischen Labours noch von den französischen Sozialisten zurückgewiesen, und schon gar nicht von der historischen Linken Italiens, von Francesco Crispi bis eben zu Pascoli. Ich denke, wenn die Führung eines Landes nicht in der Lage ist, der Bevölkerung auf andere Weise durch soziale Reformen und ein Welfare-System Wohlstand und Sicherheit zu geben, dann ist es schlicht bequemer, von fremden Ländern und Welten träumen zu lassen. Traurig, nicht wahr?“

Der Titel deines Buches greift ein verfälschtes und sich hartnäckig haltendes Narrativ über das  „Wir haben für sie aber die Straßen gebaut“ auf. Warum halten wir daran immer noch fest?

„Was mich an dieser Redeweise erschüttert, ist die anhaltende unverschämte Blindheit, die auch ein Jahrhundert später für uns typisch ist. In diesem ‚Wir haben für sie die Straßen gebaut‘ tritt immer nur das ‚Wir‘ hervor,  und der „Andere“, der zweite Protagonist, erscheint nie – auch heute nicht, im Jahr 2021. Keiner fragt sich, warum jene Straßen gebaut wurden, keiner fragt sich, für wen die ‚Wohlstandsquartiere‘ von Asmara oder die wundervollen architektonischen Bauten von Tripolis bestimmt waren … Es ist sehr herabwürdigend, zu sagen ‚Wir haben für sie die Straßen gebaut‘ und zu behaupten, sie zögen ja aus ihnen .. noch heute einen Nutzen. Denn jene Straßen haben wir nicht für sie gebaut, und bei der Entwicklung der Baupläne haben wir auch nicht die Leute gefragt, die in diesen Gebieten lebten. Was wir getan haben, war das einfache Ziehen gerader Linien und Grenzen, die heute die Ursache enormer Probleme sind. Wir haben Territorien nach unseren eurozentrischen und nationalen Vorstellungen verschmolzen, die dem neunzehnten Jahrhundert verhaftet sind. Wir haben uns unser Afrika geschaffen und uns eine Idee von jenen anderen Kontinenten konstruiert, die immer noch die Lupe ist, durch die wir diese Länder betrachten. Deswegen sind wir immer noch Kolonialisten, auch siebzig Jahre später, weil wir immer noch erzählen, wir hätten doch für sie die Straßen gebaut. Sicher, wie haben sie gebaut, aber nur, um sie besser zu beherrschen.“

Die italienischen Kolonien waren paradoxerweise auch für die wenigen Siedler anormal. Es geht da um Besetzungen durch Männer in Form militärischer Herrschaft. Warum wurde daraus nicht der „Platz an der Sonne“, den die kolonialistische Propaganda so angepriesen hatte?

„Das Kolonialphänomen ist in der Regel eine Sache von Männern gegen Männer. Alle Ereignisse der Kolonialgeschichte zeigen eine Kriegerkaste, die im Kampf gegen andere Krieger die Okkupation fremder Territorien erzwingt, und die Besiegten verlieren das Recht auf ihren Besitz, das heißt im Regelfall auf Land und Frauen. Der italienische Kolonialismus ist besonders stark männlich bzw. chauvinistisch und sexistisch geprägt… Die Italiener schafften es nicht, in ihren Kolonien funktionierende Verwaltungsstrukturen aufzubauen, weil das Geld kostet, und das wird nur gemacht, wenn dabei etwas herausspringt. Im italienischen Staatshaushalt sind die Kolonien Löcher. Keine der italienischen Kolonien schafft es, durch Besteuerung autark zu werden, sie geben dem italienischen Fiskus nichts zurück, sie bleiben nur Kostenfaktoren. Der italienische Staat, der sowieso arm ist, betreibt daher eine Kolonisierung ‚auf Sparflamme‘, indem er der Armee den Anschein einer zivilen Verwaltung gibt, also ausgerechnet dem Organ, das bis dahin die Einheimischen bekämpfte und unterdrückte. Das führt dazu, dass der italienische Kolonialismus besonders chauvinistisch, brutal und gewalttätig ist. Die direkten Kontakte zur Zivilbevölkerung sind vor allem sexueller Natur, wie 1935, als Soldaten nach Eritrea geschickt wurden, um Äthiopien zu erobern. Hunderttausende junger italienischer Männer nehmen sich bei den Klängen der ‚Facetta Nera‘, was sie als ihr Besitzrecht betrachten, nämlich die einheimischen Frauen, ob diese wollen oder nicht. Diese Einstellung wird durch eine vermeintlich wissenschaftlich-biologische Vorstellung befördert, die leider in vielen öffentlichen Darstellungen noch gegenwärtig ist: Die schwarze Frau wird nicht nur für minderwertig gehalten, weil sie eine Frau, sondern auch, weil sie schwarz ist. Ihr werden animalischere Eigenschaften zugeschrieben, und damit eine besondere Sensualität und Sexualität, so dass ein italienischer Soldat sich gar nicht vorstellen kann, dass ihm eine schwarze Frau nein sagen könnte.“

Einige zivile Siedler sind dann aber doch gekommen …

„Ja, aber die Vorstellung einer Kolonie als Ansiedlungsort wird erst spät und auf eine sehr prekäre Weise umgesetzt. Libyen erreichen etwa 120.000 Siedler, die das faschistische Regime dorthin regelrecht deportierte. Diese sogenannten ‚Zivilen‘, die ein ihnen nicht gehörendes Land besetzen, um dort nach der damaligen Propaganda ‚die Wüste erblühen zu lassen‘, müssen durch die Armee geschützt werden und bleiben innerhalb der örtlichen Gesellschaft im Wesentlichen Fremdkörper. So dass sie nach dem Ende des Krieges und der Subventionen durch den italienischen Staat das Land wieder sehr schnell verlassen. Als Gaddafi 1970 am berühmt-berüchtigten ‚Tag des Zorns‘ die Italiener aus nationalistischen Motiven auswies, sind es nur noch 20.000, die das Land verlassen müssen. Die italienische Kolonie wollte vieles sein, z. B. ein Eldorado für unsere Landarbeiter, die dort ein Bleiberecht bekommen. Leider handelt es sich jedoch um ein Geschehen, bei dem die Italiener in 80 Jahren nur durch die Uniformen oder – schlimmer noch – durch ihre vorgehaltenen Waffen in Erinnerung bleiben.“

Die Kolonisierung hat auch zur Auslöschung der Besonderheiten der besetzten Gebiete geführt, so dass man sogar von „geschichtslosen Massen“ gesprochen hat, abgesehen von der Geschichte, die wir für sie schrieben. Wie wurde das möglich?

„Das Konzept der geschichtslosen Massen ist ein brutaler Exportartkel und geht Arm in Arm mit der Idee eigener Überlegenheit, die alle nationalen Kolonialismen begleitet. Man kommt in einer Gegend an, die man für ein Niemandsland hält, in dem es keine legitimen Besitztümer gibt, weil man sich ganz banal um das ortsübliche Gewohnheitsrecht einfach nicht kümmert, da man ja selbst mit Hilfe einer militärischen Okkupation kam, welche allen Regeln des internationalen Rechts widerspricht. Was unseren Kolonialismus betrifft, wird das vor allem beim Aufteilen der besetzten Ländereien klar, die einer Bevölkerung gehören, die von der Weidewirtschaft und also dem Nomadentum oder von saisonalen Wanderungen lebt. Und in denen nun durch Stacheldraht markierte Grenzen gezogen werden, welche ihnen das Modell des Nationalstaats aufzwingen, ohne zu verstehen, dass die Ökonomie dieser Orte auf dem Ortswechsel gründete. Das Konzept der geschichtslosen Massen wurde auf so brutale Weise durchgesetzt, dass es bis heute überdauert. Wir sprechen immer noch von Afrika, als ob es ein Land ist und kein Kontinent mit 54 Staaten. Die großen Probleme, zu denen es hier in den letzten 70 Jahren kam, sind vor allem den willkürlichen Trennungen geschuldet, die die Europäer diesem Kontinent auferlegten…. Ganz zu schweigen von dem kulturellen Genozid, der jahrhundertelang an ganzen Zivilisationen verübt wurde, die man mit der einseitigen Erzählung zerstörte, dass es nur eine Zivilisation gebe, und die sei vor allem weiß.“

Der Fall Indro Montanelli, der sich während seines Aufenthalts in den Kolonien eine Kindfrau kaufte, erregte das größte mediale Aufsehen, so dass er schon fast eine extreme und isolierte Episode zu sein schien. Im Buch berichtest du jedoch über verschiedene Fälle von Gewalt und Übergriffen italienischer Soldaten gegenüber örtlichen Frauen, wenn nicht gar Mädchen. Können wir hier also sogar von Normalität sprechen?

„Hier ist das Wort Mädchen am korrektesten. Man zog sie vor, weil man unterstellte, dass sie Jungfrauen und somit weniger gesundheitsgefährlich seien. Indro Montanelli ist hier nicht im Geringsten eine Ausnahme, Montanelli war die Regel. Noch erschütternder und entsetzlicher ist es jedoch, dass man dieser Sichtweise noch heute begegnet. Leider hat es Montanelli so gut beschrieben, dass sich Hunderttausende von Rückkehrern, unsere berühmten ‚Großväter‘, wie man heute sagen würde, darin nicht nur wiedererkannten, sondern sich auch wundervolle Entschuldigungen ausdachten für das, was sie während ihres dortigen Aufenthalts taten: ‚In Afrika sind das ja schon Frauen, in Afrika ist das üblich. Wer in die Kolonien geht, muss bestimmte Dinge tun, um wirklich Mann zu sein‘. Die Zeugnisse, die uns erreichten und die ich im Buch zu dokumentieren suche, sind fürchterlich. Der berühmteste Fall ist das schreiende Mädchen, das auf einem Panzer an ein Andreaskreuz gebunden, mehrfach vergewaltigt und von einem Mörser-Projektil durchbohrt war, um die wahre Kraft des italienischen Mannes zu zeigen. Das Lied der ‚Facetta Nera‘ war nichts anderes als eine Hymne auf die Vergewaltigung, die jahrelang Hundertausende von jungen Männern begleitete, wenn sie auf jenem Kontinent ihre ersten sexuellen Erfahrungen ausleben durften, im Bewusstsein, dass sie dort sowohl die Macht als auch das Recht hatten, sich alles zu erlauben. Wir haben diese Jungen in der grau-grünen Kluft überredet, in die Kolonien zu gehen, als ob es ein schönes Abenteuer sei. Wie konntest du das mit 20 Jahren anders erleben, wenn du bis dahin dein ganzes Leben im Umkreis von 10 Kilometern um dein Elternhaus verbrachtest, und wenn sie dir jetzt die Macht in Form eines Gewehrs und das Recht auf Allmacht gegeben haben, weil du einer höheren Rasse angehörst?“

… Warum überlebt das Narrativ der „anständigen Italiener“ bis heute?

„Ich glaube, dass es in Italien eine hoch entwickelte Fähigkeit zur selektiven Erinnerung gibt, also jene Erinnerungsteile wegzuhobeln, die man aus Bequemlichkeit besser vergisst oder sogar ganz vergräbt, um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu vermeiden… Was den italienischen Kolonialismus betrifft, hatte man in diesen Jahren nicht einmal den Anstand, ihn als eigenständiges Thema zu behandeln. Es gibt immer noch das Narrativ der ‚anständigen Italiener‘, von denen zum Beispiel Autoren wie Rigoni Stern (ein 2008 verstorbener Schriftsteller, AdR) Aerzählen, wenn sie über den Rückzug aus Russland berichten, aber dabei den Vormarsch und die Besetzung ausblenden, die Millionen von Toten verursachten und woran sich auch Italien beteiligte. Der Kolonialismus ist ein Teil dieser Selbsthypnose, die sich aus der italienischen Unfähigkeit ergibt, sich mit dem großen Umschwung auseinanderzusetzen, der zwischen 39 und 45 stattfindet. Emblematisch ist ein Beispiel aus dem Jahre 1946, als De Gaspari an einer Konferenz in Paris teilnimmt und ein erboster liberaler Abgeordneter der verfassungsgebenden Versammlung eine parlamentarische Anfrage macht, aus welchem Grund die Vereinten Nationen den Italienern auferlegten, sich neben Deutschland an den Tisch der Verlierer zu setzen. Also nur sechs Jahre nach Kriegseintritt trifft man auf einen großen Unglauben, der auch die immense Brutalität verdrängt, welche die Italiener während des faschistischen Regimes charakterisierte…  Einer der Mythen über den anständigen Italiener, die als Frucht der Verdrängung kursieren, ist die Behauptung, im Unterschied zu den Deutschen hätten die Italiener aufgrund ihrer Neigung zur Desorganisation niemals einen Holocaust zustande bringen können. Hier greift man tatsächlich zum Stereotyp der trägen und unfähigen Italiener, um den selbstgeschaffenen Mythos des anständigen Italieners zu retten. Während wir genau wissen, dass es in den (von Italien besetzten, AdR) Balkanländern weder an der organisatorischen Fähigkeit noch am Vernichtungswillen fehlte. Es ist eine Tragödie, wie die öffentliche Erzählung seit 1945 Teile unserer Geschichte vergisst und stattdessen andere in den Vordergrund rückt, um am Schreibtisch ein relativ gutmenschliches Bild von Italienern zu zeichnen, die es nicht gibt und in dem sie immer nur die Opfer sind, um den ganzen Rest unter den Tisch fallen zu lassen. Die kolonialen Opfer sind die armen Italiener, die Gaddafi verjagte, ohne dass sich irgendjemand fragt, wer diese Italiener waren und was sie in Libyen zu tun hatten. Ein anderes Beispiel ist der Tag der Erinnerung, an dem man sich nur an die Opfer der einen Seite erinnert, d. h. unserer. Man spricht nicht von den Opfern, zu denen es während der deutschen Wiederbesetzung zwischen 43 und 44 in Istrien kam. Und noch weniger spricht man von den Opfern der faschistischen Okkupation 42-43. Man spricht nicht von der anti-slawischen Politik, die 20 Jahre lang betrieben wurde. Das wäre zu kompliziert und schmerzhaft, also muss man eine Auswahl treffen. Das ist überhaupt das Charakteristikum des italienischen Kolonialismus: Da seine Behandlung zu schwierig sei, hat man seine Nichtbehandlung beschlossen. Im großen Supermarkt der Geschichte bleibt der Ladentisch der Kolonien von den Italienern unbedient, weil es schwierig ist, da was Gutes zu finden, außer dem historischen Zentrum von Asmara und den dort von uns gebauten Straßen. Es ist Zeit zu lernen, dass die Vergangenheit in ihrer ganzen Komplexität verstanden werden muss.“

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