Vertauschte Vorbilder

Bereits seit einigen Wochen nerve ich allmorgendlich während der Zeitungslektüre meinen Mann – der sich eigentlich ungestört der Lösung seines täglichen Sudoku widmen möchte – mit empörten Kommentaren zu dem Trauerspiel, das sowohl die geschäftsführende als auch die wahrscheinlich künftige Regierung beim Corona-Kurs aufführen.

Politische Wankelmütigkeit in Deutschland …

Ich kann es nicht fassen, wie verzagt, unentschlossen und chaotisch die Regierenden in Bund und Ländern auf das rasant wachsende Infektionsgeschehen reagieren bzw. nicht reagieren. Wochenlang sahen sie tatenlos zu, wie die vierte Welle mit voller Wucht auf das Land zurollte. Obwohl sie mächtiger als alle anderen davor ist, soll ausgerechnet jetzt der nationale pandemische Notstand auslaufen. Noch vor wenigen Tagen gab es von den politischen Entscheidern nur bedächtiges Stirnrunzeln, wenn schärfere Restriktionen, vor allem für Ungeimpfte, und eine Impflicht zumindest in besonders vulnerablen Bereichen wie Gesundheit und Pflege gefordert wurden. Das sei doch juristisch höchst bedenklich, die Lage rechtfertige nicht so gravierende Freiheitseinschränkungen, man wolle es mit Überzeugungskraft versuchen … Ungeachtet der Warnungen aller Experten – Virologen, Ärzte, Epidemiologen – ließ man die Dinge im Wesentlichen laufen. Und das kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sich Deutschland in einer Phase des politischen Übergangs befindet. Denn es wäre durchaus möglich gewesen, ja sogar geboten, dass sich geschäftsführende und künftige Regierung eng miteinander abstimmen, um schleunigst wirksame Maßnahmen zum Eindämmen der Infektionen einzuleiten. Das Gegenteil ist geschehen.

Ich gebe zu: Ein solches Versagen hätte ich von der deutschen Politik nicht erwartet, im Gegenteil. Eigentlich vertraute ich der Effizienz und Rationalität deutscher Institutionen. Wollte ich mich echauffieren, richtete ich bisher meinen Blick meist auf die chaotischen Verhältnisse in Italien – und schätzte mich, trotz der Liebe zu meinem wundervollen Geburtsland, ziemlich glücklich, gerade jetzt in Deutschland zu leben.

Dieses Gefühl hat mich nach Beginn der Pandemie noch eine Weile begleitet. Ich hatte zunächst den Eindruck, die Verantwortlichen in Deutschland handeln alles in allem richtig und haben die Sache weitgehend im Griff. Besser jedenfalls als in Italien. Inzwischen verfluche ich die fahrlässige Untätigkeit in Deutschland und ertappe mich immer häufiger dabei, ein Loblied auf die Effizienz und Courage der italienischen Regierung zu singen.

konsequentes Vorgehen in Italien

Das gibt es bei mir nicht gerade oft. Eher ist es genau umgekehrt. Aber in diesem Fall sprechen die Fakten eine klare Sprache. Bereits im September, als in Italien die Infektions- und Inzidenzwerte sehr niedrig lagen, hat die Draghi-Regierung mit Blick auf Herbst und Winter eine Reihe von Restriktionen eingeführt, die in Deutschland nicht mal als Option zur Diskussion standen:

Ausweitung des sogenannten Green Pass, der Impfung, Genesung oder einen aktuellen negativen Test zertifiziert und der im Gesundheits- und Schulbereich bereits Pflicht ist, auf die gesamte öffentliche Verwaltung, die Gastronomie und den Kultur- und Transportbereich. Seit Mitte Oktober gilt die Regelung auch für alle Beschäftigten in der Privatwirtschaft. Wer den Nachweis nicht vorlegen kann, wird für andere Tätigkeiten eingesetzt oder ganz vom Dienst suspendiert. Durch intensive Gespräche zwischen Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften war es in kurzer Zeit möglich, juristische und organisatorische Hürden zu beseitigen und zu konsensfähigen Regelungen zu kommen. Als weitere Option bzw. nächsten Schritt nannte Draghi die Einführung einer generellen Impflicht, die für Beschäftigte im Gesundheits- und Schulbereich bereits besteht, wenn die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichen.

Schlange stehen für die Impfung in Italien

Der strenge Kurs bei der Bekämpfung der Pandemie wird von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung begrüßt, und zwar parteiübergreifend: Selbst die Mehrheit der Anhänger von Lega und Fratelli d’ Italia sprechen sich dafür aus, wenn auch in etwas geringerem Umfang als Mittelinks-Wähler. Auch die Impfquote ist deutlich höher als in Deutschland: Mitte November waren ca. 76% der Italiener vollständig geimpft, in Deutschland ca. 67%. Bei den Auffrischungsimpfungen, zu den die Betroffenen durch persönliche Anschreiben der Behörden aufgefordert werden, gibt es in Italien eine klare progressive Priorisierung nach Altersgruppen, inzwischen sind die über 40-Jährigen „an der Reihe“. Das Ziel ist, alle Menschen über 18 Jahre mit einer dritten Impfung zu versorgen.

Italiens strenger Kurs bremst die Wucht der vierten Welle

Das heißt natürlich nicht, dass es in Italien keine Impfverweiger gibt. No Vax-Proteste und Demonstrationen gibt es auch dort und sie sind mitunter äußerst aggressiv und gewaltbereit, auch aufgrund der Unterwanderung durch neofaschistische Organisationen (wir werden darüber noch berichten). Ministerpräsident Draghi hat sich jedoch, zumindest bisher, von der protestierenden Minderheit und deren Fürsprecher Salvini, der zur Koalition gehört, nicht beeindrucken lassen. Trotz unterschiedlicher Positionen innerhalb der Koalition sorgt er dafür, dass die Regierung an seinem strengen Kurs festhält. Dass dies funktioniert, ist vor allem seiner Autorität zu verdanken und seiner Unabhängigkeit von Parteien, die es ihm erlaubt, ohne Angst vor schwindender Wählergunst zu handeln. Eine Position, die in einer parlamentarischen Demokratie sicherlich nicht zum Normalfall werden sollte, aber in der jetzigen Ausnahmesituation von Vorteil ist.

Die Zahlen belegen, dass trotz regionaler Unterschiede und organisatorischer Pannen (vor allem bei den Kontrollen) die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – anders als in Deutschland – eine unkontrollierte Explosion von Neuinfektionen bremsen. Zwar steigen die Zahlen auch in Italien kontinuierlich an, aber langsamer und auf niedrigerem Niveau im Vergleich zum exponentiellen Anstieg in Deutschland. So verzeichnete Italien am 18. November 10.638 Neuinfektionen (Vortag: 10.172, +466) und 69 Todesfälle (Vortag 72); in Deutschland waren es über 65.000 (Vortag: 52.826, + 12.180) neue Fälle und 305 Tote (Vortag 294).

Das deutsche Vakuum

„Ich habe mir noch nie so große Sorgen gemacht wie jetzt“, so neulich die Vorsitzende des Ärzteverbands Marburger Bund, Susanne Johna. Die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen werde bald so weit steigen, dass mancherorts überregionale oder vielleicht sogar deutschlandweite Verlegungen nötig seien. In der Politik gebe es ein verheerendes Machtvakuum zwischen alter und künftiger Regierung, klagte sie.

Inzwischen ist in dieses Vakuum, angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen und der massiven Kritik von Experten, Medien und Vertretern der Zivilgesellschaft, Bewegung gekommen. Mehrere Bundesländer führten eigenständig für weite Bereiche sogenannte 2 G-Regelungen ein, die Kampagne für Erst- und Auffrischungsimpfungen nahm etwas Fahrt auf und sogar der offenbar schlafwandelnde Olaf Scholz (SPD), immer noch geschäftsführender Vizekanzler und Bundeskanzler in spe, raffte sich zu dem öffentlichen Bekenntnis auf, dass robustere Maßnahmen gegen das Virus doch nötig seien. „Auch wenn die Lage anders ist, weil so viele geimpft sind, ist sie noch nicht gut“ lautete sein brillantes Fazit zum gegenwärtigen Desaster.

Ähnlich diffus war auch das, was von den beiden anderen Ampel-Aspiranten kam. Besonders die FDP, die sich als Paladin der „freien Bürger“ gibt, tat sich damit hervor, dass sie dringend nötige Restriktionen wie Einschränkungen für Ungeimpfte, Impfpflicht im Gesundheits-und Pflegebereich und Einführung des Green Pass am Arbeitsplatz nach italienischem Modell ablehnte.

Inzwischen ist man unter dem Druck der dramatischen Entwicklung endlich zu längst überfälligen Entscheidungen gekommen. Am vergangen Donnerstag kam es beim Bund-Länder-Treffen und im Parlament zu Ergebnissen: 3-G-Regelung am Arbeitsplatz und in öffentlichen Transportmitteln; bei abgestuften Hospitalisierungswerten Einführung jeweils von 2-G, 2-G-plus oder von noch weitergehenden Kontaktbeschränkungen (nach Genehmigung durch die Landesparlamente); Verstärkung der Impfkampagne und Impfpflicht für den Gesundheitsbereich.

Das sind verspätete und zum Teil noch unzureichende Entscheidungen. Die mitunter sogar sinnwidrig sind, wie der gestrige Beschluss des Bundestages zum Auslaufen der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ am 25. November. Was bleibt, ist das Fazit: Das zuverlässige, effiziente Deutschland hat im Kampf gegen die Pandemie versagt und schneidet im Vergleich zu dem angeblich chaotischen und ineffizienten Italien miserabel ab. Woran liegt das? Ist es in Italien der „Faktor Draghi“ und in Deutschland der Abgang von Angela Merkel, verbunden mit einer sich abzeichnenden Schwäche der künftigen Ampel-Koalition? Oder hat man in Italien die tragische Lektion zu Beginn der Pandemie verinnerlicht, die (damals noch) Deutschland in diesem Ausmaß erspart blieb?