Italiens Sorgen nach der deutschen Wahl

Vergleicht man die Aufmerksamkeit, mit der die italienischen Zeitungen den Ausgang der deutschen Wahlen kommentieren, mit der fast verschwindenden Rolle, die Europa im deutschen Wahlkampf spielte, kann es einen schon mit Scham erfüllen. Zwar gab sich das deutsche Fernsehen in den vergangenen Monaten alle Mühe, auf Wahlkampf zu schalten, aber alle „Trielle“ übergingen das Thema – nicht nur, weil es die Politiker für überflüssig hielten, sondern weil offenbar auch die Journalisten entschlossen waren, das Publikum bei ihren Interviews mit keinem derartigen Gedanken zu behelligen. Als ob uns die Hoffnungen und Befürchtungen, welche unsere Nachbarn mit der EU verbinden, nichts angehen, und als ob Brüssel nicht gerade versucht, die europäische Integration durch ein gemeinsam finanziertes Recovery-Programm um einen wichtigen Schritt voranzubringen.

Der Hintergrund: ein verändertes Deutschlandbild

Um die Aufmerksamkeit zu verstehen, mit der die italienische Öffentlichkeit in den letzten Wochen nach Norden schaute, muss man sich vergegenwärtigen, dass sich das Bild, das sie sich lange von der deutschen Politik machte, in den letzten Jahren grundlegend verändert hat. In Berlusconis Zeiten galt die deutsche Regierungschefin, die seine Hauszeitung „Culona“ (Riesenarsch) nannte, als Inbegriff eines Hegemonieanspruchs, der Italien immer weiter marginalisierte. Eine Einschätzung, welche besonders die politische Rechte pflegte, aber – auch wegen deutscher Fehler – in der Linken ihr Echo in einer skeptischen Distanz fand. Dies hat sich geändert, spätestens seitdem die EU den Recovery-Plan auflegte, der die EU erstmals als Solidargemeinschaft erkennbar machte und dessen Urheberschaft gerade auch Angela Merkel zugeschrieben wird. Danach wurde in den italienischen Medien oft erwähnt, dass sie in Deutschland auch „Mutti“ genannt wird, auf Italienisch „Mamma“, ein Wort mit einem Bedeutungshof, der noch viel stärker als im Deutschen Unantastbarkeit bedeutet. Es zeigt den Abstand zu den einstigen Schmähungen, und es erklärt auch ein wenig das Gefühl des Verlusts und der Unsicherheit, das ihr Abtreten gerade auch in Italien auslöst.

Rückkehr zum alten Stabilitätspakt?

In der Nacht nach der Wahl schrieb der Journalist Lucio Caracciolo, der die deutsche Szene relativ gut kennt, für die „Repubblica“ einen Kommentar unter dem Titel „Die deutschen Wahlen – eine Zukunft voller Unsicherheit“. In dem er gleich auf den Mann zu sprechen kommt, der für ihn diese Unsicherheit personifiziert: der Liberale Christian Lindner, der, in welcher Koalition auch immer, neuer Finanzminister werden könne. Mit ihm werde, so die Befürchtung, die deutsche Europapolitik schnell zur alten Austerität zurückkehren, was für Italien und Frankreich auch die Rückkehr zu politischer Instabilität und ökonomischer Stagnation bedeuten werde. Überdies müsse der neue Kanzler eine Koalition zustande bringen, die so heterogen sei, dass es für Deutschland schwierig werde, sich selbst zu regieren, geschweige denn ein verlässlicher Garant für die Weiterentwicklung Europas zu sein, in dem sich dann wieder die Tendenz zum „jeder für sich, keiner für alle“ durchsetzen könne. Insofern befinde sich jetzt mit Deutschland auch Europa „am Scheideweg“.

Scholz und Draghi

Man mag nun der Meinung sein, dass Caracciolo damit die Lage zu sehr dramatisiert, zumal Scholz, der wahrscheinliche Nachfolger der Merkel, als ihr damaliger Vizekanzler den Europakurs der alten deutschen Regierung mittrug, und die letzten Äußerungen Lindners über den Recovery-Plan ihn auch nicht als bornierten Rigoristen erscheinen lassen. Aber um die Aufregung zu verstehen, muss man die Situation berücksichtigen, in der sich Italien noch vor zwei Jahren befand: Auch aufgrund des Brüsseler Stabilitätsregimes stand das Land kurz vor der Machtübernahme durch eine souveränistisch dominierte Rechte, was sich zunächst nur noch dadurch hinauszögern ließ, dass man sofortige Neuwahlen verhinderte. Dann kam die Pandemie und die von ihr ausgelöste europapolitische Wende, die alles veränderte. Aber gerade weil diese Wende überraschend kam und zunächst nur mit der Pandemie begründet wurde, ist die Befürchtung, dies alles könne auch wieder rückgängig gemacht werden, nicht einfach aus der Luft gegriffen – wenn nichts geschieht, werden ab 2023 wieder die Schulden- und Defizitregeln des einstigen Stabilitätspakts gelten.

Kommt ein lahmendes Europa?

Das zweite Argument, das die italienische Besorgnis erklärt, betrifft den Zeitverlust, den die Regierungsbildung in Berlin bedeuten könnte. Dieser könnte zu einer politischen Lähmung Deutschlands führen, welche eine entsprechende Lähmung der EU nach sich zieht, obwohl erst die Hälfte der Legislaturperiode vergangen ist. Wenn sich die deutsche Regierungsbildung bis Januar oder Februar 2022 hinziehe, so Claudio Tito am 27. 9. in einem Bericht aus Brüssel, könnten wichtige europäische Dossiers in Verzug geraten: ein neuer Stabilitätspakt; eine neue gemeinsame Flüchtlings- und Verteidigungspolitik; und vor allem der „green deal“, mit dem der gesamte Kontinent dem Klimanotstand entgegentreten soll. Ganz zu schweigen von dem Versuch, gegenüber den beiden Supermächten Russland und China endlich eine gemeinsame europäische Außenpolitik zu (er)finden.

Eine weitere Befürchtung betrifft die internen Machtgleichgewichte in Brüssel und im EU-Parlament: Das Ausscheiden der CDU aus der deutschen Regierung könnte für die Kommissionspräsidentin von der Leyen zum Verlust eines wichtigen politischen Rückhalts führen, der ihr bisher Handlungsfreiheit gab. Weshalb es in Brüssel und Straßburg viele heimliche Anhänger einer Neuauflage der Berliner „Großen Koalition“ gebe, auch wenn „gegenwärtig niemand den Mut hat, das offen auszusprechen“.

Dem steht eine für Italien optimistischere Lesart des deutschen Wahlergebnisses gegenüber: Wenn sich jetzt die deutsche Politik auf Monate hinaus nur noch mit sich selbst beschäftigen werde, entstehe zwar in Europa ein Machtvakuum, das auch die jetzt anstehenden Reformen gefährde. Darin liege aber auch eine Chance: die Stärkung einer neuen italo-französischen Achse, an der Draghi ja schon länger arbeite. Da Italien über ein Schwergewicht wie Draghi verfügt, kann es Europa mitgestalten und sich damit aus der früheren Opferrolle befreien. Letta drückte es so aus: „Aus der Wahl geht Deutschland geschwächt hervor. Was auf europäischer Ebene ein neues Szenario bedeutet, das für Italien interessante Perspektiven zur Schaffung neuer Gleichgewichte öffnet“. 

Als Europäer kann man einem solchen neuen Führungsduo Macron – Draghi nur Glück wünschen (wozu auch gehört, dass Macron im nächsten Frühjahr noch im Amt ist). Und als Deutscher die Hoffnung hinzufügen, dass es auch in Berlin zur Bildung einer Regierung kommt, die hier zumindest kein Bremsklotz wird. Was voraussetzt, dass die deutsche Politik wieder aus dem kleindeutschen Provinzialismus herausfindet, in den sie während des Wahlkampfs zurückfiel.

Nachtrag: Lehren der italienischen Parteien aus der deutschen Wahl

Die Lehren, welche die italienischen Parteien aus dem Ausgang der deutschen Wahlen ziehen, was ihre eigenen Zukunftschancen betrifft, sind schnell berichtet. Dass Enrico Letta, der PD-Generalsekretär, folgert, dass die totgesagten Sozialdemokratien Europas wieder Wahlen gewinnen können, lag nahe. Den Grund für den Sieg von Olaf Scholz sieht er nicht nur darin, dass er auf soziale Solidarität und soziale Rechte setzte, sondern dass es ihm auch gelungen sei, sich auch im Hinblick auf Europa als der Erbe von Angela Merkel zu präsentieren – eine optimistische Interpretation, was die Rolle Europas bei der deutschen Wahlentscheidung betrifft. Giuseppe Conte sieht in dem Wahlausgang eine Niederlage der europäischen Souveränisten, und freut sich auch deshalb, weil Scholz die Wahl mit Themen wie dem Mindestlohn, dem ökologischen Übergang und dem Kampf gegen die soziale Ungleichheit gewonnen habe, „die ja auch die Grundpfeiler der politischen Aktion der 5SB sind“.

Die Lesart der italienischen Rechten ist mehrstimmig. Für Salvini hat Mitterechts in Deutschland eine „historische Niederlage“ erlitten, woraus das italienische Mitterechts-Lager lernen müsse, „dass man nur vereint siegen kann, vor allem in Europa.“ Woraus er als erstes folgert, dass sich die drei Fraktionen des Europaparlaments, in denen heute die italienische Rechte vertreten sei, zusammenschließen müssten, „damit Italien in Europa mehr zählt… Wenn die Merkel jetzt von der Bühne abtritt, eröffnen sich sowohl in Italien als auch in Europa enorme Möglichkeiten, um eine antisozialistische Front aufzubauen“. Eine Fusion, mit der seine Konkurrentin Giorgia Meloni nicht einverstanden ist, unter anderem, weil sie nicht den Vorsitz der Partei der europäischen Konservativen und Reformer aufgeben will, die hinter einer dieser drei Fraktionen steht. In der Niederlage der deutschen CDU/CSU und dem Erfolg der SPD sieht sie den Beweis dafür, „was herauskommt, wenn die Mitterechts-Kräfte ihre Identität verwässern und an Konsens verlieren, weil sie sich jahrelang auf unnatürliche Bündnisse mit der Linken einlassen“ – ein Seitenhieb auch gegen Salvini, der sich aus Melonis Sicht in der Draghi-Koalition auf ein solches Bündnis eingelassen hat. Was Salvini und Meloni gemeinsam hervorheben, ist das kaum verschlechterte Ergebnis der AfD, worin sie in erster Linie ihre „Selbstbehauptung“ sehen, vor allem gegen die CDU. Dahinter stehe, so Meloni, der „Protest der Arbeiterklasse und Mittelschicht“ gegen die „wachsende soziale und ökonomische Ungleichheit“, die es auch im reichen Deutschland gebe, und gegen die kulturelle Überfremdung durch Globalismus, Immigranten- und Islamistenfreundlichkeit.

Silvio Berlusconi, der Dritte im Mitterechts-Verbund, der noch der EVP angehört, begnügt sich mit der staatsmännischen Feststellung, dass es jetzt „sehr schwierig (sei), die von Angela Merkel gelassene Lücke zu füllen. Ein Europa mit einer gemeinsamen Außenpolitik und Verteidigung braucht eine hochkarätige politische Führung“. Andere Abgeordnete seiner FI (Mara Carfagna) folgern, dass es jetzt darauf ankomme, in Italien eine zentristische Kraft zu stärken. Und Renzi von Italia Viva verkündet, das habe er schon immer gesagt.

Zu Renzi ist anzumerken, dass er einer der wenigen italienischen Politiker ist, die überhaupt wahrgenommen haben, dass sich das Ergebnis der deutschen Wahlen nicht im knappen Sieg der SPD über die CDU/CSU erschöpft. Sondern dass es jetzt mit den Grünen und Liberalen vier Parteien sind, die über das Sein oder Nichtsein der nächsten Regierung entscheiden. Dass die Grünen in Deutschland zur drittstärksten politischen Kraft wurden, lässt sich auch als Modernisierungsvorsprung gegenüber Italien sehen, den Draghi durch ein neues Ministerium („für ökologische Transition“) aufzuholen sucht – und durch eine 5-Sterne-Bewegung, die er zwar in seine Koalition aufnahm, von der sich aber noch zeigen muss, inwieweit sie wieder zu ihrem anfänglichen ökologischen Impetus zurückfindet.

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