Die Taliban und das Heroin – Artikel von Roberto Saviano

Vorbemerkung der Redaktion: Den folgenden Artikel über die Taliban hat der bekannte italienische Mafia-Experte Roberto Saviano am 18. August für „CorriereTV“ unter der Überschrift „Die Taliban sind die neuen Narcos: Heroin, Milliarden und Geopolitik“ ins Netz gestellt. Der verbreiteten Annahme, dass es sich in Afghanistan um den Sieg eines religiös motivierten Islamismus handelt (siehe z. B. das Interview mit Susanne Schröter „Sie kämpfen für eine gottgewollte Ordnung“ in der ZEIT vom 19. 8.), stellt er eine radikale Gegenthese entgegen: Es ist der Sieg eines Heroin-Kartells, das sich in den letzten 20 Jahren in Afghanistan gebildet hat und inzwischen zum mächtigsten global player der Drogenszene geworden ist. Die Absolutheit, mit der Saviano seine These vorträgt, lässt zwar Fragen offen, z. B. wie die Taliban, die sich ja auch zum Islam bekennen, ihre Drogenpolitik ideologisch rechtfertigen, zumal sich diese inzwischen nicht nur gegen andere Länder, sondern auch gegen das eigene Volk richtet. Wir übersetzen den Artikel fast ungekürzt, weil wir glauben, dass er einen Aspekt des Geschehens in den Vordergrund rückt, der in Deutschland bisher zu wenig beachtet wird.

Der Artikel von Roberto Saviano

„Wer in diesen Stunden einen 20-jährigen Krieg gewann, ist nicht der Islamismus. Wer gesiegt hat, ist das Heroin. Es ist ein Irrtum, die Milizen islamistisch zu nennen: Sie sind Drogenhändler. Wenn ihr die Berichte der Unode lest, dem Uno-Amt für Drogen und Verbrechen, stoßt ihr seit mindestens zwanzig Jahren immer auf das gleiche Faktum: Über 90 % der weltweiten Heroin-Produktion findet in Afghanistan statt. Was heißt, dass zusammen mit den südamerikanischen Narcos die Taliban die mächtigsten Drogenhändler der Welt sind. In den letzten 10 Jahren begannen sie, auch beim Haschisch eine wichtige Rolle zu spielen – sie produzieren nicht nicht nur afghanischen Rauch, sondern auch Charas und Marihuana. Auch wenn es euch seltsam scheint: Ihr werdet stets von Afghanistan sprechen hören, ohne dass man auf die Hauptgründe des Konflikts und die primären Quellen für die Finanzierung des Krieges eingeht. Also werden ihr euch eine Idee von diesem fernen Land und seinem ewigen Konflikt ohne sein zentrales Element machen: das Opium.

Roberto Saviano

Der Krieg in Afghanistan ist ein Opiumkrieg. Die Taliban, die in den Konsum und den Anbau von Drogen einen absoluten Moralismus hineintrugen und beides 2001 zu verbieten vorgaben, sind noch vor Koranschulen, Burka-Pflicht und Kinderverlobungen Drogenhändler. Hier kam es zu einem der schwersten Fehler der amerikanischen Administration: 2002 erklärte General Franks, der erste Koordinatur der amerikanischen Invasion in Afghanistan: „Wir sind keine Antidrogen-Taskforce. Da ist nicht unsere Mission“. Die Botschaft richtete sich an die Herren des Opiums, die so eingeladen wurden, sich nicht mit den Taliban zu verbünden, weil ihnen damit gesagt wurde, die USA hätten ihnen den Anbau erlaubt. 2009 schrieb James Risen in der New York Times einen Artikel, in dem er zu verstehen gab, dass in die schwarze Pentagon-Liste von zu verhaftenden Drogenhändlern niemand aufgenommen wurde, der sich auf die Seite der amerikanischen Truppen schlug.

Trotzdem gab es Probleme, weil die Opiumschmuggler, die bei ihren Geschäften auf schnelle Beweglichkeit angewiesen waren, sich durch die militärische Präsenz der Amerikaner ständigen Stopps, Inspektionen und Autorisierungen ausgesetzt sahen. Die Taliban hingegen schaffen es, sich schnell zu versorgen und zu bewegen, und beginnen außerdem, die Besteuerung derer zu verdoppeln, die nicht für sie arbeiten, und den Anbau direkt in die eigenen Pflanzungen zu verlegen. Also nicht mehr nur Besteuerung des Anbaus, sondern direkte Übernahme des Handels. Damit hatten schon die Mujaheddin begonnen, die der Westen im Kampf gegen die Sowjets unterstützte. Die Bauern hatten keine Alternative: Als sich 1989 die Truppen der Roten Armee zurückzogen, begriff Mullah Akhundzada, dass man nicht mehr von den Heroin-Händlern 10 % Pizzo nehmen sollte, sondern stattdessen die Gotteskrieger den Handel selbst übernehmen sollten. Er verfügte, dass das gesamte Helmand-Tal im afghanischen Süden zum Anbaugebiet für Opium wurde – wer sich widersetzte und weiterhin mit staatlichen Subventionen Granatäpfel oder Weizen anbaute, werde kastriert. Mit dem Ergebnis, dass 250 Tonnen Heroin produziert wurden. Akhundzada, der dabei zu einem der wichtigsten Händler der Welt wurde, gilt heute als der größte Taliban-Führer. Die Handel treibenden Taliban rücken in der internen Hierarchie nach oben, in der früher die militärisch und religiös Fähigsten den Ton angaben.

Das Heroin der Taliban versorgt heute die Camorra, die ’ndrangheta und Cosa Nostra, die russischen Kartelle und alle Verteiler-Organisationen in den USA, mit Ausnahme der Mexikaner, die sich vom afghanischen Opium unabhängig zu machen suchen. Über die Afghanistan-Pakistan-Mmbasa (Kenia)-Route versorgen die Taliban auch den riesigen Markt der südafrikanischen Kartelle in Johannesburg. Sie versorgen Hamas mit Heroin, eine weitere Organisation, die sich (auch) durch Haschisch und Heroin finanziert und prompt mitteilte: „Wir gratulieren dem islamischen afghanischen Volk zur Niederlage der amerikanischen Besatzung auf dem gesamten Territorium Afghanistans, ebenso wie den Taliban und ihrer tapferen Führung für einen Sieg, der den Höhepunkt eines 20-jährigen Kampfes bildet“. Was hier politisch-ideologische Bündnisse zu sein scheinen, sind in Wahrheit kriminelle Pakte.

Das Heroin der Taliban hat eine wichtige Achse mit der Mafia von Mumbai gebildet, der D-Company von Dawood Ibrahim, dem Chef der indischen Narcos, der von Dubai und Pakistan protegiert wird und der wahre Verteiler des afghanischen Golds ist. Der chinesische Markt konnte noch nicht erobert werden, aber der Ehrgeiz der Taliban schaut nach Osten, um auch Japan (die Yakuza versorgt sich in Laos, Vietnam und Birma) und vor allem die Filippinen zu übernehmen, die einen blühenden Markt bilden und sich im ständigen Konflikt mit dem Heroin aus Birma befinden…

Das historische Maximum der Opium-Produktion wurde 2017 mit geschätzten 9.900 Tonnen erreicht, zu einem Wert von ca, 1,4 Mrd. Dollar. Berücksichtigt man jedoch, dem Bericht von Unode folgend, den Wert aller Drogen – Haschisch, Marihuana und Heroin -, dann steigt der Gesamtwert der illegalen Ökonomie von Afghanistan in diesem Jahr auf 6,6 Mrd. Dollar. Die Reporterin Gretchen Peters, welche die Verbindung zwischen Heroin und Taliban aus der Nähe verfolgte, bemerkt in ihrem Buch Samen des Terrors: „Die größte Niederlage des Kampfes gegen den Terrorismus besteht nicht darin, dass sich Al-Quaida in den Stammesgebieten Pakistans reorganisiert und wahrscheinlich neue Angriffe auf den Westen plant. Es ist vielmehr die spektakuläre Unfähigkeit der westlichen Ordnungskräfte, den Geldfluss zu unterbrechen, der ihre Netze über Wasser hält.“ …

Die Taliban haben das internationale Schachbrett verändert. Von den 60er Jahren bis 2000 importierten die Cosa Nostra und die Marseiller das Heroin aus Südostasien; das Monopol für das Opium hatte damals Indochina, im goldenen Dreieck Birma-Laos-Thailand. Jetzt wurden sie durch die Taliban ersetzt, die Südostasien nur noch einen residualen Markt lassen, der zwischen 1 und 4 % liegt. Als die Vereinigten Staaten zur Kenntnis nahmen, dass sie von den Herren des Opiums betrogen wurden und die Taliban zu den Beherrschern des Handels geworden sind, gaben sie 8 Milliarden (Quelle: Reuters) aus, um den Mohnanbau auszulöschen: Ein fataler Fehler, weil sich dann die afghanischen Bauern nur noch mit den Koranstudenten verbünden konnten – und das heißt, mit den Taliban. Es ist paradox: Unter Einsatz von Milliarden von Dollars bekämpften die Vereinigten Staaten eine Guerilla, die sich dadurch finanzierte, dass sie das Opium den US-Bürgern verkaufte. In Europa bilden Großbritannien und Italien den ersten und zweiten Markt für Heroin. Die westlichen Regierungen ignorieren seit nunmehr undenklichen Zeiten die Drogendiskussion.

Die Droge ist nicht einfach nur ein Laster oder Abrutschen in die Unmoral: Die Lebensqualität verschlechtert sich, die Konkurrenz zerstört das Gleichgewicht. Sowohl der Privilegierte des Westens als der verzweifelte Bauer des mittleren Orients haben Zugang zu den Drogen: Ohne sie würden sie von der Unerträglichkeit des Lebens vernichtet werden. Während im vergangenen Jahr die Covid19-Pandemie wütete, stieg der Mohnanbau um 37 % (Quelle: Unode). Je unmenschlicher das Leben in dieser Welt wird, desto höher ist der Bedarf an der Droge und damit der Profit der Händler.

Eine Regel, die jetzt niemand in Frage stellt. Aber die Taliban verkaufen nicht nur an die Kartelle: Ohne Opium lassen sich auch keine schmerzlindernden Pharmazeutika herstellen. Ohne Opium gibt es weder Morphine noch Kodeine.  Heute kaufen die Pharmakonzerne Opium bei autorisierten Produzenten, aber diese beziehen es immer häufiger bei indischen Gesellschaften, die sich direkt in Afghanistan versorgen. Die Taliban entscheiden auch über unsere Anästhesien und unsere Psychopharmaka. 2005 erklärte der damalige Präsident Karzai: „Entweder Afghanistan zerstört das Opium, oder das Opium wird Afghanistan zerstören“. Genau die zweite Vorhersage wurde Realität. Aber Karzai selbst war einer der Herren des Opiums und ein Großteil seiner Proklamationen nur Fassade. Der Ex-Präsident besaß eine der größten Raffinerien des afghanischen Opiums. In Wahrheit verkündete er: „Wir werden das Opium zerstören, das die Taliban produzieren, aber unseres behalten“. Mit anderen Worten: Das Monopol über dieses Betäubungsmittel kann man nicht aufgeben, aber wer siegt, darüber entscheiden die besseren Händler.

Die neuen Generationen der Taliban sind mit den alten identisch, aber mit einem wichtigen Unterschied: Die alten Taliban sahen in den antisowjetischen Mujaheddin Helden, die neuen haben als Bezugspunkt die großen Händler, also diejenigen, die den Ausgang des Kriegs und das eigene Schicksal mit dem Opium verändert haben. Die Taliban nutzen das islamische Recht zur Errichtung eines autoritären Regimes, das sie für ihre Geschäfte brauchen. Sie verbieten die Musik und das Make up, während sie vor 20 Jahren Drogen nur außerhalb der eigenen Landesgrenzen verkauften. Da hat es einen Kurswechsel gegeben. Jetzt verkaufen sie sie auch im eigenen Inland. Die Drogenabhängigkeit ist in Afghanistan zu einer Epidemie geworden, die niemand in Betracht zog und die von Jahr zu Jahr wächst, wovon die Taliban profitieren: Die jungen Rekruten sind voll von Haschisch – das ist noch das wenigste -, aber bekommen auch Zugang zu Heroin: Komm in unsere Gruppen und du kannst es dir spritzen, ist das von den Taliban Ungesagte (das vor 20 Jahren noch undenkbar war). Wenn sie dann zu Larven geworden sind, werden sie wie ausgesogene Zombies weggeworfen.

Afghanistan ist heute in einen Narkostaat verwandelt worden, wo die einzige Möglichkeit der Flucht darin besteht, die Grundpaste oder den Verschnitt von Heroin zu versuchen. Heroin zum Verkauf oder Heroin zur Verteilung, um jede Alternative auszuschließen. Wer auf das amerikanische Militär schaute, mit seinen gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern, dem kannte es als eine reiche Armee im Unterschied zu den langbärtigen Hirten mit ihren verrosteten Dolchen erscheinen. In 20 Kriegsjahren haben die Vereinigten Staaten mehr als 80 Milliarden ausgegeben, um ein afghanisches Heer auszubilden, um Offiziere, Truppen, Polizisten und lokale Richter zu schaffen; während die Taliban in 20 Jahren 120 Milliarden am Opium verdienten. Welches Heer ist reicher? In welchem ging es einem besser?

Die siegreichen Taliban werden keinen Frieden haben. Die nächsten Gegner werden die Iraner sein. Der Iran braucht Heroin genau wie Benzin, und das in Teheran verbrauchte Heroin kommt zur Gänze aus Afghanistan. Die iranischen Händler wollen das afghanische Heroin kontrollieren und anstelle der Türken, Libanesen (und Kurden) die Vermittler nach Europa sein. Sie wollen nicht nur die Hisbollah als Instrument des Handels mit Haschisch und Heroin haben, sondern das afghanische Opium kontrollieren, und die Taliban werden bald die Feinde sein, die zu bekämpfen und durch eigene Leute zu ersetzen sind. Der Iran ist ein von der Heroin-Epidemie zerfressenes Land, das ist eine andere Geschichte. Aber einen Pakt möchte ich mit meinen Lesern schließen, nämlich die Taliban bei ihrem wahren Namen zu nennen: Drogenhändler.“

Ein Kommentar

  • Carl Wilhelm Macke

    Saviano rückt einen sehr wichtigen und zu wenig beachteten Aspekt der ‚afghanischen Krise‘ in den Fokus der Aufmerksamkeit. Aber wenn man die Interventionen von Saviano aus den letzten Jahren Revue passieren lässt, bleibt eigentlich keine andere individuelle Konsequenz als sich einen guten Strick im nächst gelegenen Baumarkt zu besorgen und noch einen letzten Abschiedsgruß an die Angehörigen, Freunde und Nachbarn zu verfassen. Aber wäre das nicht auch ein Verrat an den vielen Jugendlichen, an den Journalisten und Menschenrechtsaktivistinnen, an den Priestern und Gewerkschafterinnen, die sich gegen diese dunklen Weltperspektiven engagieren und dabei existenzielle Gefahren auf sich nehmen? Warum unterschlägt Saviano immer die ( noch verbleibenden und ermutigenden ) Widerstandshoffnungen? Aber vielleicht kann man sich diese Naivitäten heute tatsächlich nicht mehr leisten. Also bleibt die Alternative Baumarkt…?
    carl wilhelm macke ( jhj münchen- la città che vogliamo, Ferrara)

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