Absurdistan

„Regierungskrise in Italien“. Wer nicht so genau hinschaut, könnte die Ereignisse der letzten Tage so zusammenfassen: Matteo Renzi, der bisher mit seiner Partei „Italia Viva“ zum Regierungsbündnis gehörte, löst eine Krise aus, indem er seine Leute aus der Regierung zurückzieht. Ministerpräsident Conte stellt in beiden Kammern die Vertrauensfrage, um zu beweisen, dass er trotzdem noch über eine parlamentarische Mehrheit verfügt. Anfang der Woche hat er beide Abstimmungen gewonnen.

Krise bewältigt, alles gut? Schön wär’s.

Eher Sieg oder eher Niederlage?

Einschränkung (1): Conte bekam bei der Abstimmung im Senat mit 156 Stimmen nur noch die relative Mehrheit (die absolute liegt bei 161). Für die Vertrauensabstimmung reichte es, aber wenn es bei dieser Mehrheit bliebe, wäre die Regierung auf längere Sicht fast handlungsunfähig. So sind zum Beispiel für die Verabschiedung des Haushalts – in beiden Kammern! – absolute Mehrheiten notwendig. Und das Restbündnis verlöre in vielen für die Gesetzgebung wichtigen Ausschüssen die Mehrheit.

Einschränkung (2): Dass die Regierung Conte im Senat nicht durchfiel, sondern noch eine relative Mehrheit bekam, liegt daran, dass von den 18 Deputierten, die zur Renzi-Gruppe gehören, 16 der Anweisung ihres Chefs folgten, sich bei dieser Abstimmung zu enthalten (zwei stimmten trotzdem mit „Ja“). Hätten sie mit „Nein“ gestimmt, wäre Conte schon am Dienstagabend nur der Rücktritt geblieben. Womit bewiesen war, dass die Regierung auf die Zustimmung seiner Gruppe angewiesen ist, obwohl er das Bündnis verlassen hat.

In den Tagen vor den Abstimmungen hatte Conte alles versucht, um genau dies zu verhindern, und im Niemandsland zwischen dem Rechtsblock und den Parteien, die dem Bündnis von 5SB, PD und LeU angehören, nach Abgeordneten gefischt, die als „viertes Bein“ die von der Renzi-Gruppe hinterlassene Leerstelle ausfüllen konnten. Diesen Tenor hatten auch noch die Reden, die Conte in beiden Kammern vor den Abstimmungen hielt: Da Renzi das Regierungsbündnis – „grundlos!“ – verlassen und damit eine „unauslöschliche Wunde“ hinterlassen habe, appelliere er an alle „liberalen und europäistischen“ Abgeordneten, die dem bisherigen Bündnis noch nicht angehören, sich ihm nun anzuschließen, um gemeinsam einen neuen „patto di legislatura“ zu erarbeiten. Um ihnen dann noch nebenbei ein Angebot zu machen, das sie eigentlich nicht ablehnen konnten: ein Wahlgesetz, das dem Prinzip der Proportionalität verpflichtet sei und ihnen somit bei der nächsten Wahl das politische Überleben ermöglichen würde (dass dies in Deutschland, welches hier oft als Vorbild dient, mit einer 5%-Klausel verbunden ist, erwähnte er nicht).

Duell im Senat   

So wurden die Parlamentsdebatten zum persönlichen Duell zweier Akteure, die auf Risiko spielen. Renzis Einlassung im Senat war eine einzige Anklagerede, deren Schwäche es war, dass er viele Kritikpunkte wiederholte, welche die Regierung z. B. bei der Überarbeitung des Recovery-Plans schon berücksichtigt hatte (die durch die deutschen Medien geisternde Nachricht, die Ursache der italienischen Krise sei ein Streit über die Verwendung der Mittel des Recovery-Plans, ist irreführend). Vor allem hatte Renzis Rede einen Mangel: Ihr fehlte die Abwägung, was die Alternative zur Fortsetzung des bisherigen Bündnisses mit der 5-Sterne-Bewegung wäre. Denn auch Renzi kann mit einer Krise, die zu Neuwahlen führen könnte, nur drohen, sie aber nicht wirklich wollen. Schwach war aber auch die Antwort von Conte, denn er wucherte mit einem Pfund, das eigentlich nur eine Hoffnung ist: im Parlament noch auf die Schnelle einen Ersatz für die Renzi-Gruppe zu finden (wobei „finden“ hier eher „aus dem Boden stampfen“ heißen müsste).

Conte bei seiner Rede im Senat

Schon in der Senatsdebatte wurde klar, wie schwach diese Hoffnung war – die Mehrheit der von ihm ins Auge gefassten Abgeordneten erteilten ihm eine Absage, obwohl einige durchblicken ließen, sich eine spätere Zusammenarbeit in einem neuen Bündnis durchaus vorstellen zu können. Als am Dienstagabend das Abstimmungsergebnis im Senat vorlag, war es Renzi, der sich zum Sieger erklären konnte: Was zeigen sollte, „dass es auch ohne Renzi geht“,  sei zum Beweis des Gegenteils geworden. Als Renzi noch am gleichen Abend bei dem Starmoderator von RAI 1 aufkreuzte, zelebrierte er seinen Triumph: Sie hängen jetzt von mir ab, während ich frei und an keine Absprache mehr gebunden bin.

Contes Antwort: Suche nach einer neuen Mehrheit

Contes Gang zu Mattarella am Folgetag war sicher nicht leicht. Denn dessen institutionelle Pflicht ist es, darauf zu achten, dass die Regierungen, denen er seinen Segen erteilt, auf festen Beinen stehen. Eine Regierung, deren Existenz von der Enthaltung einer bündnisfernen Gruppe abhängt, erfüllt diese Bedingung nicht. Weshalb Mattarella Conte nur eine Gnadenfrist bis zum 27. Januar einräumte, um sich bis dahin eine hinreichend große Gruppe von Abgeordneten zusammenzusuchen, die bereit sind, zum neuen „vierten Bein“ des Regierungsbündnisses zu werden. Das ist es, was Conte seitdem versucht – wie steinig dieser Weg jedoch ist, zeigt ein Ereignis, das in seine Bemühungen platzte, sich den im Parlament noch vorhandenen Resten der Democrazia Cristiana seligen Angedenkens zu nähern. Zu ihnen gehört im Senat eine kleine Gruppe namens UDC („Unione del Centro“), von der vor ein paar Tagen bekannt wurde, dass gegen ihren Vorsitzenden wegen Begünstigung der N‘drangheta ermittelt wird. Da lag es nahe, Contes Suche nach Ersatz für die „Renziani“ mit einem Fischen im Sumpf zu vergleichen.

Stolperstein Justiz

Dass Mattarella Conte nur eine Frist bis zum 27. Januar gab, hat seinen Grund. Denn am 27. oder 28. Januar trifft die Regierung nach dem Ausscheiden Renzis auf ihren ersten ernsthaften Stolperstein: Wie jedes Jahr muss der amtierende Justizminister in beiden Kammern über den Zustand der Justiz und seine diesbezüglichen Pläne berichten, worüber dann abgestimmt wird. Im Normalfall eine Routinesache – die Regierungsmehrheit stimmt zu, die Opposition dagegen –, aber in diesem Fall hat Renzi schon angekündigt, auf jeden Fall mit „Nein“ zu stimmen. Denn mit dem „Grillino“ Bonafede, der schon in der Zeit von Conte 1 Justizminister war, gibt es noch eine offene Rechnung wegen dessen früherer Haltung zur Verjährungsfrage (siehe in unserem Blog „Schleiertanz um die Verjährung“ vom 17. 2. 2020). Eine Rechnung, die Renzi jetzt, wo er sich an keine Bündnisdisziplin mehr gebunden fühlt, begleichen will. Wenn die Mehrheit des Senats gegen Bonafedes Bericht stimmt, müsste dieser zurücktreten, und Renzi hätte die erste Bastion des Bündnisses in Trümmer gelegt, mit der impliziten Ankündigung, dass weitere Bastionen folgen, wenn er nur den Daumen senkt. Eine Zermürbungstaktik, die auf die Dauer zerstörerisch sein muss, und gegen die das Restbündnis noch keine Antwort hat.  Denn Contes Antwort ist hilflos wie vor der Vertrauensabstimmung im Senat: Wieder sucht er nach ein paar „willigen“ Überläufern, wofür er sogar die Sitzung vom 27. auf einen Tag später verschieben möchte. Dass die Regierung zum Überleben eines ihrer Minister um 24 Stunden feilschen muss, zeigt den Morast, in den sie geraten ist.

Währenddessen werden in der PD die Stimmen lauter, die nun als letzten Ausweg eben doch auf Neuwahlen zielen. Ob sie es nur deshalb tun, um gegen Renzis Erpressung Gegendruck aufzubauen, weil ja auch er Neuwahlen fürchten müsste, sei dahingestellt. Für Italien wäre der monatelange Ausfall einer handlungsfähigen Regierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Pandemie, Recovery-Plan) eine Katastrophe. Die Umfragen besagen, dass sie aufgrund des immer noch geltenden Wahlgesetzes, das die großen Blöcke begünstigt, dem von Nationalpopulisten beherrschten Rechtsblock die absolute Mehrheit bescheren würden. Dass das bisherige Bündnis zwischen der Linken und der 5-Sterne-Bewegung an internen Querelen zerbricht, wird seine Wahlchancen nicht verbessern. Mit der 2022 anstehenden Neuwahl des Staatspräsidenten könnte der Rechtsblock dann auch das letzte Hindernis aus dem Weg räumen, das noch dem vollständigen Regimewechsel im Weg steht. Es wäre auch für Europa ein schwerer Rückschlag, denn er fände in einem Moment statt, in dem es sich mit dem Recovery-Plan endlich zu einem qualitativen Sprung durchgerungen hat – ausgelöst von dem Land, das dessen größter Nutznießer werden sollte.

Kehrt Renzi zurück?   

Über einen letzten Ausweg konnte bisher nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen werden, weil er von vielen Akteuren den Sprung über den eigenen Schatten verlangt: Die Rückkehr der Renzi-Gruppe in die Koalition. Zeitungen wie z. B. das Zentralorgan der italienischen Bischofskonferenz „Avvenire“ berichten (am 22. 1.), dass die Italia Viva-Abgeordneten zwei Tage nach der Senatssitzung eine von allen unterschriebene Erklärung zu Papier brachten, in der sie aus „Sorge über die institutionelle Blockade dieser Tage, die schwere gesundheitliche Situation und die dramatische ökonomische Lage unseres Landes…eine politische Lösung“ fordern, für die man sich „ohne Vetos und Vorbedingungen“ zusammensetzen solle. Die endgültige Abdankung Contes, in der viele Beobachter Renzis eigentliches Ziel sehen, wird nicht verlangt, sondern durch „ohne Vorbedingungen“ ersetzt. Die Reaktionen reichen von heftiger Ablehnung (vor allem von Conte und Vertretern der 5SB) bis zu Äußerungen eines vorsichtigen Interesses, vor allem seitens der PD, wo man zwar an Conte als dem Garanten des Bündnisses mit der 5SB festhalten will, aber auch einen realistischen Blick auf seine Schwierigkeiten hat, eine glaubwürdige Alternative zu den „Renziani“ zu finden. In der PD gibt es allerdings auch Skeptiker, deren Frage, ob man mit Renzi nicht schon nach einem Monat wieder in die gleiche Sackgasse geraten werde wie jetzt, kaum weniger Realismus zeigt. Renzis Intervention zwingt das Restbündnis in jedem Fall zu einer Gratwanderung mit hoher Absturzgefahr.

Es gibt einen Verfahrensvorschlag, der versucht, ohne Neuwahlen Zeit zu gewinnen, und der in den letzten Tagen zunehmend Anhänger findet: Conte erklärt Mittwoch Mattarella seinen Rücktritt, weil seine bisherige Mehrheit zerbrochen ist, und erklärt ihm gleichzeitig, dass er für sich die Chance zu einer neuen Regierungsbildung sieht. Und Mattarella entlässt ihn mit dem Auftrag, diese Möglichkeit zu sondieren. Was Conte einerseits Zeit gäbe, seine Suche nach einem „vierten Bein“ im Zentrum fortzusetzen, andererseits aber auch die Möglichkeit von Renzis Rückkehr offen lässt. Um gegebenenfalls mit denen, die dazu bereit sind, einen neuen „patto di legislatura“ abzuschließen. Da müssten allerdings viele mitspielen, nicht nur Conte und Mattarella. Aber versuchen könnte man es. Und Italien wäre nach Conte 1 und Conte 2 endlich bei Conte 3 angekommen. Der gemeinsame Nenner wäre Conte, der Überlebenskünstler.

Bleibt die Frage, was Renzi mit dem ganzen Manöver bezweckte. Die rationalste Erklärung ist die Sichtbarkeit, die er damit für sich erreichen will – seine Partei dümpelt im Augenblick bei Zustimmungswerten von 3 %. Leider setzt er damit nicht nur seine eigene politische Existenz aufs Spiel.