Von Biden lernen?

Dass die italienische Rechte mit dem Ergebnis der US-Wahlen hadert, ist klar, allerdings je nach Partei auf unterschiedliche Weise (s. „Rechte Verdauungsbeschwerden nach US-Wahl“). Doch auch im Lager von Mittelinks/Links, das eigentlich einträchtig den Sieg von Biden (und Harris) bejubeln müsste, gibt es Auseinandersetzungen um die Interpretation des Ergebnisses und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen.

Veltroni: Radikalität mit Reformismus zusammenbringen

Walter Veltroni, der frühere Generalsekretär des PD, der sich an dem amerikanischen Modell einer demokratischen Reformpartei orientiert – er hatte 2008 in seinem (glücklosen) Wahlkampf Obamas Wahlspruch „Yes we kan“ in italienischer Version („Si può fare“) übernommen – , beantwortet in einem Zeitungsinterview mit der „Repubblica“ die Frage, ob mit Biden das Zentrum oder die Linke gewonnen habe:

„Biden hat gesiegt, weil er sich zum Träger eines autonomen Wertesystems und programmatischer Fragen gemacht hat, die Radikalität und Reformismus zusammenbringen …Wenn es die demokratische Partei schafft, die radikale Idee einer Veränderung zu verkörpern, die sich Mächten, Vorurteilen, alten Gewohnheiten und Privilegien entgegenstellt, und gleichzeitig inklusiv zu bleiben, …dann kann sie die Menschen begeistern. Die Kraft der demokratischen Position liegt in dieser Synthese“. Sie habe ermöglicht, dass in den demokratischen Wahlkampf so heterogene Gruppen wie die Bewegung Black lives matter und moderate Republikaner eingebunden werden konnten. Anders als in Italien hätten so unterschiedliche Politiker wie Sanders und Biden in der gleichen Partei für das gleiche Ziel gekämpft. Es sei das, was seinerzeit Mitterrand „vocation majoritaire“ genannt habe, fügte Veltroni hinzu – also das, was der italienischen Linke fehle.

Unterschiedliche Reaktionen im Mittelinks-Lager

Eine Ansicht, die durch die kontrastierenden Reaktionen auf den Sieg des Paares Biden/Harris innerhalb des italienischen Mittelinks-Spektrums bestätigt wird. So betont Renzi, der nach seinem Austritt aus der PD eine eigene Partei (Italia Viva) gründete, das Wahlergebnis in der USA sei der Beweis, dass man nur siegen kann, wenn man Teile des Zentrums, sprich auch des rechtskonservativen Lagers, zu sich herüberziehe. „Man gewinnt mit Biden und nicht mit Corbyn“, so sein Urteil. Ähnlich Carlo Calenda, auch er ein PD-Abtrünniger mit eigener Gruppe (Azione), der eine „Von der Leyen-Koalition“ – also das Bündnis von europäischen Konservativen, Liberalen und Sozialisten, das die Wahl der jetzigen EU-Ratspräsidentin ermöglichte – als Vorbild beschwört. Beide ignorieren, dass Biden gerade auch deswegen gewann, weil er die Unterstützung des „amerikanischen Corbyn“ Bernie Sanders hatte.

Zingarettis Foto-Post nach dem Sieg Bidens

Wie nicht anders zu erwarten, sehen der linke Flügel der PD und die Gruppierungen links von ihr genau diesen Aspekt als den wesentlichen Faktor für den Sieg Bidens: dass sowohl die innerparteiliche Linke um Bernie Sanders und Alexandra Ocasio-Cortez als auch radikale Protestbewegungen aus der Zivilgesellschaft auf den „Establishment-Kandidaten“ Biden setzten, sei der entscheidende Unterschied zum Scheitern von Hillary Clinton vier Jahre zuvor.

Daraus solle die PD die Lehre ziehen, sich stärker in dieser Richtung zu öffnen. Denn „jenen radikalen Veränderungswunsch, den das amerikanische Volk geäußert hat und der durch die Pandemie noch verstärkt wurde, gibt es bei uns auch“, so Gianni Cuperlo, der ehemalige PD-Vorsitzende und prominente Vertreter der innerparteilichen Linken. Nur durch die Bildung eines solchen breiten, inklusiven Lagers der progressiven Kräfte könne man der vereinten Rechten Paroli bieten; allein könne die PD, auch als stärkste alternative Kraft, dies nicht erreichen.

Eine solche Koalition, erklärte die Vizepräsidentin der Region Emilia-Romagna Elly Schlein, die früher Europaabgeordnete der PD war und jetzt zur Gruppe „Possibile“ gehört, müsse sich jenseits aller Differenzen auf einige Kernpunkte verständigen, allen voran den ökologischen Umbau der Gesellschaft und die Überwindung von sozialen Ungleichheiten und Diskriminierungen.

Beide Lesearten und Perspektiven – die der „Zentristen“ Renzi und Calenda sowie die der „Linken“ Cuperlo und Schlein – haben ihre Berechtigung. Beide sind aber auch verkürzt bzw. einseitig, indem sie sich jeweils auf den Aspekt fokussieren, der ihnen politisch näher liegt. Anders als Veltroni, der – aus meiner Sicht zu Recht – mit seiner Formel „Radikalität und Reformismus zusammenbringen“ gerade den Schlüssel für die Schaffung einer glaubhaften Alternative zur populistischen Rechten nennt. Eine Synthese, welche die Überwindung engen Lagerdenkens voraussetzt und nicht nur personell, sondern auch programmatisch untermauert werden müsste.

Als die stärkste unter den progressiven Kräften ist die PD prädestiniert, zum zentralen Akteur eines solchen Prozesses zu werden. Vorausgesetzt, die sonstigen heterogenen Gruppen, die Mittelinks/Links repräsentieren, würden eine solche Rolle der PD akzeptieren, was angesichts der dortigen chronischen „Spalteris“ äußerst zweifelhaft ist. Und außerdem: Wäre dazu die PD überhaupt in der Lage? Auch das ist zweifelhaft. Denn als Partei in Regierungsverantwortung lastet auf ihr eine dramatische Krise, die das Land nicht nur gesundheitlich, sondern auch wirtschaftlich und sozial erschüttert.

5Sterne und Conte reagieren verhalten

Hinzu kommt, dass die 5-Sternebewegung, die eigentlich als Koalitionspartner Teil einer solchen progressiven Alternative sein bzw. werden müsste, gerade in einem parteiinternen Umbruch steckt, der ihre ohnehin bescheidenen Kräfte aufzuzehren scheint. Formell geht es um die Umwandlung der Bewegung in eine Partei, politisch, jenseits des Mantras „weder rechts noch links“, um die Auseinandersetzung zwischen dem (rechts)populistischen Flügel und den „Governisti“, die eine verbindlichere Perspektive für die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten für notwendig halten.

Eine Gemengelage, die dazu führte, dass die 5Sterne auf das Ergebnis der USA-Wahlen sehr zurückhaltend reagierten. Zumal sich viele unter ihnen dem „antisystemischen“ Rabauken näher fühlen als dem Establishment-Mann Joe Biden. Zur Erinnerung: Es war ihr Gründer und Guru Beppe Grillo, der 2016 nach der Wahl Trumps in seinem Blog in ein freudiges Delirium ausbrach: „Es ist ein Wahnsinn, das ist die Deflagration einer Epoche! … Über den Maiskolben (Grillos Spitzname für Trump, Anm.MH)) haben die Medien ähnliche Dinge erzählt wie über unsere Bewegung. Sie sagten, dass wir Sexisten, Homophobe, Demagogen, Populisten sind….Doch die wahren Helden sind wir! Es sind die Barbaren, die die Welt nach vorne bringen, und wir sind die Barbaren! Und der Maiskolben hat alle zum Teufel gejagt: Freimaurer, große Bankkonzerne, Chinesen!“.

Grillos Leidenschaft für den Maiskolben mag inzwischen erkaltet sein, die zweideutige Haltung der 5SB ist geblieben. Am 5. November, als der Ausgang der US-Wahl noch nicht klar war, erklärte der Staatssekretär im Außenministerium Di Stefano (5SB) im Fernsehen, es wäre „dumm für eine Regierungspartei“, sich auf die Seite Bidens zu schlagen, denn es gehe darum, das Bündnis mit den USA zu stärken, „egal, wer dort Präsident ist“. Nachdem der Sieg Bidens fest stand, übermittelte sein Chef, Außenminister Di Maio via Twitter pflichtgemäße Glückwünsche, verbunden mit der allgemeinen Bekräftigung der „historischen Freundschaft“ zwischen den USA und Italien.

Ähnlich nüchtern lautete die Twitter-Botschaft von Ministerpräsident Conte, der den Grillini politisch nah steht und 2018-2019 auch der Regierungschef einer rechtspopulistischen Koalition von Lega und 5Sternen war („Wir sind bereit, mit dem designierten Präsidenten Joe Biden zusammenzuarbeiten, um die transatlantischen Beziehungen zu stärken“). Auch nach dem Wechsel zur Regierung von PD und 5SB hatte Conte wiederholt das „gute Verhältnis“ zwischen ihm und Trump unterstrichen. Wenige Tage vor der Besiegelung der neuen Koalition hatte Trump Ende August 2019 in einem Twitter seine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, sein Freund „Giuseppi“ (!) möge Ministerpräsident bleiben („Starting to look good for the highly respected Prime Minister of the Italian Republic, Giuseppi Conte. Loves his Country greatly & works well with the USA. A very talented man who will hopefully remain Prime Minister!”).

Diese Zeugnisse gegenseitiger Zuneigung dürften auch der Demokratischen Partei und ihrem Kandidaten nicht entgangen sein. Sehr aufmerksam wurde von den italienischen Medien registriert, dass Conte der letzte Regierungschef aus dem Kreis der G7 war – nach Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada und Japan –, mit dem Biden telefonierte. Sogar den Papst rief der Katholik Biden an, bevor er Contes Nummer wählte.

„Egal, wer in den USA gewinnt – für uns (Italien, MH) macht das keinen Unterschied“, hatte Conte kurz vor der Wahl öffentlich erklärt. Kein Unterschied zwischen Biden und einem rassistischen Autokraten und Egomanen, der sich trotz klarer Niederlage im Weißen Haus verbarrikadiert und seine Anhänger aufwiegelt? Eine solche Haltung, gerade in der jetzigen heiklen Situation, darf und sollte sich die italienische Regierung nicht leisten. Das sollte die PD dem Ministerpräsidenten schleunigst klarmachen, da hier von der 5SB nichts zu erwarten ist.

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