Die Mafia und der Geldregen aus Brüssel

Die Kreativität von Salvini zeigt sich u. a. daran, dass er es schaffte, aus der Madonna eine italienische Nationalgöttin zu machen, die ihn segnet, wenn er die italienischen Häfen gegen die Invasion der Fremden verrammelt. Die Kreativität des WELT-Journalisten Christoph B. Schiltz zeigt sich bei der italienischen Mafia: Für ihn ist sie eine Horde verarmter Raubritter, deren Hauptbeschäftigung es ist, auf durch das Mafia-Revier kommende Transporte deutscher Steuergelder zu warten, um sie auszuplündern. Weshalb er am 9. 4. in der WELT einen Aufruf schrieb, der sich direkt an die deutsche Kanzlerin wandte: „Frau Merkel, bleiben Sie standhaft!“ Mit einer Begründung, die Merkel endlich die Augen öffnen sollte und die Schiltz deshalb gleich zweimal in den Aufruf schrieb: „In Italien wartet die Mafia nur auf einen neuen Geldregen aus Brüssel“. Aus der Biologie kennt man Pflanzen wie die berühmte „Rose von Jericho“, die der Wind in der Wüste herumtreibt und erst der Regen zum Leben erweckt. Für Schiltz hätte der „Geldregen aus Brüssel“ die gleiche Wirkung auf die Mafia.

Mafia-Problem: nicht zu wenig, sondern zu viel Geld

Er hätte es besser wissen können, und er hätte sich dafür eigentlich nur die Mühe machen müssen, seine eigene Zeitung zu lesen. Denn vier Tage vor seinem Aufruf veröffentlichte die Journalistin Virginia Kirst in ihr einen Artikel, der dem Thema schon durch seine Überschrift („Die Pandemie ist der ideale Nährboden für die Mafia“) eine etwas andere Wendung gibt: Nicht die Hilfe ist das Problem, sondern die Pandemie. Offenbar hat es Schiltz überfordert, auch noch zur Kenntnis zu nehmen, was der Mafia-Spezialist Roberto Saviano zum gleichen Thema geschrieben hatte, worauf sich in ihrem Artikel auch Virginia Kirst bezog: Es ist kein „Geldregen aus Brüssel“, auf den die Mafia warten muss, um zum Leben erweckt zu werden, sondern der von der Pandemie ausgelöste soziale und ökonomische Notstand, der ihr die Chance zu weiterer Expansion gibt. Indem sie sich beispielsweise in Süditalien als Nothelfer für Menschen präsentiert, die ihre Jobs in der Schattenwirtschaft, von denen sie bisher lebten, aufgrund der Pandemie plötzlich verloren haben, oder sich im Norden als Problemlöser für Unternehmen anbietet, denen sowohl die Zulieferer als auch die Abnehmer weggebrochen sind, wobei die Mafia etwas in die Waagschale werfen kann, worüber der Staat nicht verfügt: Diskretion, sofortige Liquidität, keine Bürokratie und keine Fragen nach dem Woher.

Savianos Video-Lektion

Roberto Saviano

Saviano hat sich die Mühe gemacht, in einem Video für die „Repubblica“ auf die „Naivität“ hinzuweisen, die in der Einlassung von Schiltz steckt. Denn während dieser offenbar voraussetzt, dass die Mafia immer auf der Suche nach Geld sei, macht Saviano darauf aufmerksam, dass eher das Gegenteil der Fall ist: Die `Ndrangheta beispielsweise sei ein international agierendes kriminelles Unternehmen, das bei seinen Geschäften mit Drogen, Prostitution, Zement und Müll einen Jahresumsatz von ca. 60 Mrd. Euro habe, während es die Camorra „nur“ zu 20 bis 35 Mrd. bringe. Das Problem beider Unternehmen sei weniger der Mangel, sondern eher das Zuviel an Geld, für das Anlagen gefunden werden müssten, und da böten sich ihr aufgrund des ökonomischen Notstands im Gefolge der Pandemie Chancen, die sich ihr zu normaleren Zeiten nicht bieten. So dass also „das exakte Gegenteil dessen wahr ist, was die WELT schreibt: Je weniger Geld nach Italien kommt, desto stärker werden diese kriminellen Vereinigungen“.

Außerdem sei die Mafia nicht nur ein italienisches Phänomen. So gebe es zum Beispiel eine russische Mafia, die noch umsatzstärker als die `Ndrangheta sei und sich auch in Deutschland, vor allem Ostdeutschland betätige. Was aber auch hier niemanden auf die Idee bringe, die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen für den Osten zu kappen. „Zu Recht“, meint Saviano, denn je weniger man in solchen Krisen den Menschen und Unternehmen helfe, desto mehr Raum gebe man dieser Mafia.

Wobei allerdings zu fragen ist, ob es dem WELT-Journalisten in Wahrheit nicht um etwas viel Banaleres als die Mafia geht, nämlich um das Verhindern einer gemeinschaftlichen Schuldenhaftung, und sei es auch nur zur Bewältigung der Folgen der Pandemie. Denn er zeigt sich in seinem Aufruf als Anhänger der holländischen Linie, die sogar dagegen ist, dass man in der gegenwärtigen Situation ohne weitere Auflagen des ESM-Mechanismus aktiviert, um zumindest die Gesundheitssysteme zu sanieren. Was den Verdacht nährt, dass ihm der billige Hinweis auf die italienische Mafia nur als Vorwand dient, um durch den Appell an verbreitete Vorurteile auch die Stammtische zu mobilisieren.

Rhetorische Barrikaden

Leider ist nicht jedes inhaltlich schwache Argument deshalb auch wirkungslos. Schiltzens Unterstellung, jede europäische Hilfe für Italien werde letztlich doch nur die Mafia einsacken, wurde in Italien schnell publik und entfaltete dort die Kraft eines Silvesterböllers. Lega-Chef Salvini erklärte sie gleich für „widerwärtig“ („fa schifo“), und Giorgia Meloni, die Chefin von „Fratelli d’Italia“, schrie dreimal „vergogna“ („Schande“), um dann noch ein Stück makabrer Poesie vom Stapel zu lassen: „Während unsere Nation auf den Knien liegt und ihre Toten beweint, gibt es in Europa Leute, die sich wie Geier in die Lüfte erheben, um nach Kadavern Ausschau zu halten, von denen sie sich nähren können.“ Schiltz als nekrophiler Geier ist ein bisschen viel der Ehre (wo er doch nur Eurobonds verhindern will). Da musste auch Di Maio zeigen, dass er sich in Sachen Viktimismus von niemandem übertreffen lässt: Was die WELT behauptet habe, sei für Italien nicht nur „schändlich und inakzeptabel“, sondern etwas, wovon sich „aus Respekt vor dem italienischen Volk“ auch Angela Merkel „distanzieren“ müsse (er ist offenbar der Meinung, dass zu Merkels Ämtern auch die Oberaufsicht über die deutschen Zeitungen gehört – aber so ist nun mal sein Demokratieverständnis).

Nur ein Sturm im Wasserglas? Es zeigt leider, mit welcher Vehemenz und oft auch Erfolg immer noch national bornierte Vorurteile beschworen werden, um ein Handeln aus gesamteuropäischer Verantwortung zu verhindern. Ein WELT-Journalist instrumentalisiert die italienische Mafia, um Angela Merkel im Namen der deutschen Steuerzahler vor allzu viel Solidarität zu warnen. Was wiederum die italienische Rechte instrumentalisiert, um das eigene Volk gegen die Leichenfledderer aus Deutschland zu mobilisieren.

Nachbemerkung: Dass sich Saviano darauf einließ, dem Aufruf von Schiltz eine eigene Video-Antwort entgegenzustellen, hatte wohl auch einen hausgemachten Hintergrund. Der italienischen Rechten ist er mit seine Enthüllungen über die Mafia schon lange ein Dorn im Auge, weshalb sie ihn gern auch als „Nestbeschmutzer“ verleumdet, zumal es zwischen der Rechten und dieser Mafia einige Verbindungen gibt. So konstruierte das rechtsreaktionäre Hetzblatt „Giornale“ denn auch vor wenigen Tagen einen Zusammenhang zwischen den letzten Äußerungen Savianos zum Thema  Mafia und Pandemie und Schiltzens WELT-Aufruf. Nach dem Motto: Wer das Mafia-Problem an die große Glocke hängt, braucht sich dann über solche Ausfälle nicht zu wundern.

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