Wenn uns die Migranten plötzlich doch etwas angehen

Vorbemerkung der Redaktion: Während Italien fast ausschließlich nur noch mit dem Corona-Virus beschäftigt ist, wies Gad Lerner am 1. März in der „Repubblica“ auf das neue Drama syrischer Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze hin. Am Beispiel des Syrien-Konflikts beklagt er die Verlogenheit und Kurzsichtigkeit des europäischen „Pazifismus der Satten“, der sich aus den Konflikten an seiner Peripherie heraushält und sich dann die Kollateralschäden dieser Politik dadurch vom Leib zu halten sucht, dass er an Länder wie die Türkei oder Libyen die Aufgabe delegiert, die Flüchtlingsströme aufzuhalten. Indirekt ist Lerners Artikel auch ein Kommentar zur deutschen Politik, die 2016 das Abkommen mit der Türkei schloss und die jetzt mit der EU Griechenland „Solidarität“ bei seinem Abwehrkampf gegen die Flüchtlinge zusichert, der immer brutaler wird (wozu auch die Schlägertrupps von Alba Dorata gehören, die im Grenzgebiet auf Menschenjagd mit Hunden gehen). Mit dem Impfstoff „auf politischem, ökonomischem und leider auch militärischem Gebiet“ am Ende des Artikels meint Lerner die Instrumente einer Außenpolitik, die den Nahen Osten und Afrika wirklich zu befrieden sucht. Und nicht die Hubschrauber, Flugzeuge, Patrouillenboote und Wärmebildkameras, die wir jetzt Griechenland zur Verfügung stellen, damit es uns die Flüchtlinge vom Leibe hält. Die in Zagreb versammelten Außenminister bevorzugten jedoch den „Pazifismus der Satten“. Wir übersetzen den Artikel ungekürzt.

„Ein Notstand führt zum nächsten, in unserem verrückt gewordenen Ameisenhaufen. Wir erinnern uns plötzlich, dass der Abstand von Idlib bis Rom kaum gößer ist als der von Aosta bis Trapani. Dass der syrische Krieg schon ohne Unterbrechung 9 Jahre dauert, mit Hunderttausenden Toten und Millionen Flüchtlingen. Dass Milliardenschwärme von Heuschrecken, die in 24 Stunden 150 Km weit fliegen können, gerade die ostafrikanischen Kulturen auffressen können, mit dem konkreten Risiko, eine Hungersnot auszulösen, die das Leben von 19 Millionen Afrikanern aufs Spiel setzt. Sind auch das Wirtschaftsflüchtlinge?

Tränengas gegen Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze

Tränengas gegen Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze

Auf einmal geht uns all das etwas an. Es scheint wie Häme, dass jetzt nicht nur Israel, sondern auch der Irak die Italiener an seinen Grenzen als potenziell Infizierte zurückweist. Die nahöstliche Schlächterei hat die türkischen Grenzen als Fluchtweg für die Flüchtlinge aus dem syrischen Nordosten geöffnet, fast eine Million, die in die Falle des türkisch-syrischen Konflikts geraten sind. Jetzt sind es Griechenland und Bulgarien, die sie mit Tränengas aufzuhalten suchen, bevor sie sich zu Fuß auf den Weg Richtung Mitteleuropa von Saloniki nach Sofia auf der Balkan-Route machen. Während Lesbos, das ägäische Lampedusa, nicht mehr in der Lage zu sein scheint, einen Füchtling pro 4 Einwohner zu verkraften. Während Nello Musumeci, der (rechte, A.d.R.) Präsident der Region Sizilien, zur abgestandenen Formel des „falschen Gutmenschentums“ greift, um darauf zu bestehen, dass die Schiffe der NGO die Schiffbrüchigen nicht von Bord lassen und dass auch die Norditaliener besser zu Hause bleiben sollten.

Ein verrückt gewordener Ameisenhaufen also, der Migranten wie Touristen zur Umkehr zwingt. Die Souveränisten verstehen und verkünden alles und gleichzeitig das Gegenteil: dass man zu den Schengener Grenzen zurückkehren, aber gleichzeitig die Ankunft ausländischer Touristen im schönsten Land der Welt erleichtern müsse. Dass wir dem türkischen Sultan Erdogan eine Lektion erteilen müssen, der den Migranten die Tore Europas öffnet (von denen sein Land schon 3,5 Millionen aufgenommen hat, aber das ist seine Sache), aber gleichzeitig die Milliardenzahlungen stoppen müssen, die das 2016 zwischen der EU und der Türkei abgeschlosene Abkommen vorsieht.

Alles nur, um zu verleugnen, was evident ist: Kriege, Epidemien, Naturkatastrophen, ökonomische Krisen, dem man unmöglich nur damit begegnen kann, dass man an den Grenzen Dokumente verlangt oder die Häfen mit der Marine blockiert.

Jahrelang haben wir den Kampf gegen die ISIS-Jihadisten, die den Terror nach Europa exportierten, an die kurdischen Peschmerga und an die blutigen iranischen Pasdaran des Generals Suleiman delegiert, indem wir sie höchstens aus der Luft und durch Ausbildung unterstützten. Als es die Kinder unserer Nachbarn waren, die unter den Bombenangriffen starben, hat sich die wortgewaltige europäische Rechte gehütet, wieder ihre militaristischen Traditionen aus der Mottenkiste zu holen. „Verschwinden wir von dort“, titelten ihre Zeitungen, als ob sie ignorieren könnten, wie sehr schon jenes „dort“ mit unserem „hier“ zusammenhängt. Wir haben vor der Gefahr den Kopf in den Sand gesteckt. Nach der imposanten Fluchtwelle im Sommer 2015 traf nicht nur die Rechte, sondern der verängstigte europäische Gipfel eine opportunistische Entscheidung. Es war die Entscheidung, ein Jahr später die Türkei mit 6 Milliarden zu finanzieren, damit sie die Flüchtlinge im Land behielt – eine Kopie des gescheiterten Modell-Abkommens, das 2008 zwischen Italien und Gaddafis Libyen zustande kam und 2017 erneuert wurde, mit der einzigen Absicht, den Strom der Migranten einzudämmen.

Als ob es nur die Schlepperbanden waren, die sie verursachten.

Jetzt bringt die syrische Tragödie die Nostalgiker zum Schweigen, die Gaddafi nachtrauern, nachdem sie ungern zu seiner Vernichtung beitrugen, als sie noch regierten. Die Diktatoren sind nie die Lösung, von Tripolis bis Damaskus. Wo es die Unterstützung Putins dem Ras Assad ermöglichte, sich neun lange Jahre an der Macht zu halten, hat sich die Zahl der Flüchtlinge nicht vermindert, sondern vervielfacht. Und jetzt, wo wir es sind, die unter der Isolierung durch den Corona-Virus leiden, erweist sich der Cordon sanitaire, von dem wir glaubten, ihn an der türkischen Grenze geschaffen zu haben, als ebenso unwirksam wie das italienisch-libysche Abkommen. Früher oder später explodieren die Korken, wenn es sich um Menschen und nicht um Flaschen handelt.

Da uns der gesundheitliche Notstand, der unsere Bürger trifft, ganz und gar in Anspruch nimmt, wird über die Appelle der Unicef, die eine Hilfe für die Zivilbevölkerung der Region um Idlib fordern, der Mantel des Schweigens gedeckt. Auch wenn wir eigentlich gelernt haben müssten, dass es sich hier nicht nur um eine Frage der Humanität und Zivilisiertheit handelt (entschuldigt, wenn euch das wenig erscheint), sondern um eine geopolitische Frage, die für ein von Untätigkeit paralysiertes Europa von vitalem Interesse ist.

Aus Angst vor dem Krieg taten wir so, als ob er weit entfernt ist.

Wir haben den Konflikt im Nahen Osten vor sich hinrotten lassen, als ob es sich um einen Konflikt zwischen irgendwelchen Barbaren handelt, zwischen Schiiten und Sunniten, dessen Austragung an Sultane, Zaren, Ayatollahs und Kalifen delegiert werden konnte. Es ist eine historische Lektion. Der Pazifismus der Satten erweist sich als Krankheit, gegen die es noch keinen wirksamen Impfstoff gibt, weder auf politischem, noch auf ökonomischem und leider auch notfalls auf militärischem Gebiet, um bekämpft zu werden.“

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