Die neue Regierung und ein altes Problem: der Süden

Mitte August erschien der neueste Jahres-Bericht der SVIMEZ zur wirtschaftlichen Situation des Südens, mit deprimierenden Befunden. SVIMEZ (Associazione per lo Sviluppo dell´Industria nel Mezzogiorno) ist eine 1949 gegründete Nicht-Regierungsorganisation, die Studien zur Lage des Südens initiiert, regelmäßige Berichte veröffentlicht sowie Vorschläge zur Überwindung der Kluft zwischen Nord und Süd in Italien macht.(Zum Süden gehören die Regionen Abruzzen, Molise, Kampanien, Basilikata, Apulien, Kalabrien, Sizilien, Sardinien und zwei südliche Provinzen des Latium; hier leben ca. 34% der Bevölkerung Italiens.)

Der neueste Bericht bestätigt die Befunde der vorangegangenen (die Angaben habe ich ergänzt durch Daten aus dem Statistischen Amt der EU und dem der OECD). Italien fällt seit ca. 2000 immer weiter gegenüber den meisten EU-Ländern zurück, ebenso wie innerhalb Italiens der Süden gegenüber dem Norden (im „Norden“ ist im Folgenden immer auch die Mitte eingeschlossen). Die Wirtschaftskrise 2008-2012 traf den Süden überproportional. Zwischen 2008 und 2018 sank das BIP (Bruttoinlandsprodukt) im italienischen Durchschnitt (also einschl. des Südens) um 4%; im Süden um mehr als 9% (in der EU stieg es in dieser Zeit um 16%). Die Arbeitslosigkeit lag 2017 im Süden bei 20 – 22%, im Norden bei 4 – 8%. Die Armutsquote (Haushaltseinkommen unter 60% des nationalen Mittelwertes): im Süden bei 30%, in ganz Italien bei 10%, in manchen nördlichen Regionen bei 4%. Das BIP pro Kopf: im Süden zwischen 60% und 70% des EU-Durchschnitts; im Trentino, der Lombardei, der Emilia bei 122-128%; in Südtirol 149% (Italien insgesamt 97%).

Seit einem kurzen Aufschwung nach 2014 stagniert die italienische Wirtschaft ab Mitte 2018, im Süden fällt sie zurück; das liegt an der hier besonders schwachen Binnennachfrage und der Schwäche der Exportwirtschaft sowie an gesunkenen öffentlichen Investitionen (im Norden sind sie leicht gestiegen).

Die säkularen Schwächen des Südens

Die problematischen sozialökonomischen Verhältnisse des Südens wurden seit der Gründung des italienischen Staates 1860 ständig konstatiert und beklagt; sie sind bis heute die gleichen:

– Schwächen der Wirtschaftsstruktur: hohe Zahl wenig produktiver landwirtschaftlicher Kleinbetriebe; sehr viele Klein- und Kleinstbetriebe in Gewerbe und Handel; wenig industrielle Unternehmen; wenig moderne Dienstleistungsunternehmen; schwacher Bankensektor.
– Große Defizite der Infrastruktur: öffentliche Sicherheit; Bildungs- und Gesundheitswesen; Sozialfürsorge; Verkehrswege.
– Demographische Krise: sehr starke Abwanderung von 1860 bis in die 1920er, erneut nach dem 2. Weltkrieg bis Mitte der 1970er und neuerdings wieder (vor allem Junge und gut Ausgebildete). Der Süden blutet aus: 1860 lebten dort ca. 40% der Bevölkerung, heute 34%, prognostiziert wird ein weiterer Rückgang; dafür ist neben der Abwanderung auch die im Süden besonders niedrige Geburtenrate verantwortlich. Zwar ist Italien inzwischen Einwanderungsland, doch die Zuwanderer arbeiten überwiegend im Norden. Im Süden gibt es für sie kaum stabile Arbeitsverhältnisse, die meisten von ihnen arbeiten als landwirtschaftliche Saisonarbeiter, vielfach illegal bei niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen. Viele Betriebe sind zum Überleben darauf angewiesen, doch strukturell verfestigt sich dadurch die unterdurchschnittliche Produktivität und die schwache Binnenkaufkraft.
– Versagen des Staates: Trotz der Tatsache, dass sich der Einkommens-Abstand zwischen Nord und Süd seit 1860 ständig vergrößerte (was nicht heißt, dass sich die Lage absolut verschlechterte – im Gegenteil), gab es kaum staatliche Anstrengungen zur Überwindung der Nord-Süd Spaltung des Landes, abgesehen von den Jahren zwischen 1951 und 1973 – das war die Zeit der großen Transfers durch die Cassa per il Mezzogiorno. Damals verringerte sich erstmals der Einkommensabstand, doch seitdem nimmt er wieder zu.
Ineffektive Verwaltung, politischer Klientelismus, Korruption und Mafia behindern die wirtschaftliche und soziale Entwicklung und sind mitverantwortlich für das Scheitern der Entwicklungsprogramme der 1950er und 1960er Jahre.
– Nicht zu vergessen sind die Auswirkungen des verbreiteten „amoralischen Familismus“ (E.C.Banfield): ausgeprägte und allseits erwartete Verpflichtung zur Solidarität gegenüber Familienangehörigen und dem nahen Umfeld, häufig unter Missachtung von Gesetzen, gepaart mit einem Mangel an moralischem und solidarischem Verhalten gegenüber dem Gemeinwesen (davon lebt auch die Mafia).

Die Rückständigkeit des Südens gab es schon vor 1860. Sie beruhte auf dem Fehlen einer bürgerlichen Stadtkultur, wie sie sich im Norden ausgebildet hatte. Stattdessen herrschten dort lange Zeit fremde und überwiegend reaktionäre Monarchen im Bündnis mit feudalen Großgrundbesitzern. Nach 1860 ging die piemontesische Monarchie (um die antimonarchistischen Tendenzen bei erheblichen Teilen der ländlichen und städtischen Unterschichten zu blockieren und ihre eigene fehlende Verankerung im Süden zu kompensieren) ein Bündnis mit den Großgrundbesitzern und dem antimodernistischen Bürgertum ein – den einen wurde versprochen, ihren Grundbesitz zu erhalten, den anderen wurden Stellen im Staatsdienst geboten. Unter diesen Bedingungen waren eine Entwicklungspolitik für die Landwirtschaft und eine Industrieförderung, die die traditionalistischen Gewerbe bedroht hätte, nicht möglich. Zudem belasteten die Besteuerungspolitik und die (Außen-)Wirtschaftspolitik des Staates den Süden.

Der Faschismus tastete die wirtschaftlichen Machtverhältnisse im Süden nicht ernsthaft an. Seine Wirtschafts- und Industriepolitik orientierte sich an den Strukturen und Bedürfnissen des Nordens. Immerhin bekämpfte er – anders als die vorangegangenen Regierungen und Parteien – mit deutlichen Erfolgen die Mafia. Die Amerikaner kooperierten jedoch 1943 bei der Eroberung des Südens mit der Mafia, deren Führer überwiegend in der Zeit des Faschismus in die USA ausgewichen waren (und der dortigen Mafia in den 1920ern und 1930ern ihren großen Aufschwung beschert hatten); nun konnten sie wieder zurückkehren. Diese Legitimierung der Mafia setzten die christdemokratischen Regierungen teils offen, teils verdeckt fort – zum beiderseitigen Nutzen: Die Mafia konnte ihre Macht wieder aufbauen und half der DC bei der Unterdrückung der Bauernbewegungen, der Gewerkschaften und der Kommunisten. In dieser Konstellation überlebte auch das alte Bündnis des Staates mit den Grundbesitzern und dem staatsorientierten und staatsabhängigen Bürgertum.

Projekte zur Entwicklung des Südens

Das Programm der DC-Regierungen der 1950er und 1960er Jahre beinhaltete:

– eine, wenn auch im Umfang bescheidene Enteignung von Grundbesitzern zugunsten von Kleinbauern;
erhebliche Mittel für den Ausbau der Infrastruktur: Straßen, Eisenbahnausbau, Wasser- und Stromversorgung, Schulen, Krankenhäuser;
– deutliche Ausweitung des Personals in der öffentlichen Verwaltung, in der Justiz, bei der Polizei, im Bildungs- und Gesundheitswesen;
– Industrieansiedlungen, vor allem durch Betriebe der großen staatlich beherrschten Konzerne der Stahlindustrie und der Petrochemie.

Zunächst flossen die dafür notwendigen Mittel aus dem Marshall-Plan, anschließend aus der 1950 gegründeten Cassa per il Mezzogiorno. Das führte zu deutlichen Verbesserungen für die Lage der Bevölkerung und vor allem auch zur Verringerung der Einkommens-Kluft zwischen dem Norden und dem Süden. Mitte der 1970er wurden die Transfers allerdings abgebaut (wegen einbrechender Steuereinnahmen und ausufernder Staatsverschuldung), die einsetzenden Transfers aus EU-Mitteln konnten das nicht ausgleichen. Danach vergrößerte sich die Nord-Süd Differenz wieder, bis heute. Das zeigt, dass die Programme der 1950er und 1960er Jahre kaum grundlegende Verbesserungen der sozialökonomischen Strukturen bewirkt hatten, sondern die aufgewendeten Mittel überwiegend als Transfers in konsumtive Bereiche geflossen waren. Die Ansiedlung von Industrien hatte Beschäftigungseffekte, doch ihnen fehlte die Anbindung an lokale Unternehmen; viele Vorleistungen bezogen sie aus dem Norden, ebenso wie qualifiziertes Personal. Vor allem wurde das Geld der Cassa zunehmend zu einer Ressource für die Patronagepolitik der Christdemokraten zulasten einer zielgerichteten Entwicklungspolitik. Zudem trug es zur Stärkung der Mafia bei.

Seit der Staatsgründung 1860 war die Kluft zwischen Nord und Süd immer ein prominentes Thema. Vor allem die politisch-intellektuelle Bewegung der „Meridionalisten“ publizierte dazu wissenschaftliche Arbeiten, journalistische Beiträge und Vorschläge für die Politik. Sie appellierte an die Solidarität des Nordens und betonte, dass die nationale Einheit Italiens mit der Integration des Südens in den Staatsverband noch keinesfalls hergestellt sei. Seit 1946 wirkt die SVIMEZ in diesem Sinn.

Giuseppe Provenzano, neuer Minister für den Süden

Giuseppe Provenzano, neuer Minister für den Süden

Die Politik der Nachkriegsregierungen stand jedoch nicht – wie von den Meridionalisten gefordert – in engem Bezug zu den jeweiligen konkreten regionalen Bedingungen. Vielmehr prägten sie zentral entwickelte Vorstellungen, vermutlich vor allem, um die politische (christdemokratische) Kontrolle zu behalten. Nicht nur Geldmangel war dafür verantwortlich, dass die Cassa aufgelöst wurde, sondern die übereinstimmende Überzeugung, dass das viel Geld verschlingende Programm letztlich gescheitert war. Die einen machten dafür das falsch angelegte Konzept und die Korruption der Politiker verantwortlich, die anderen die Subventionsmentalität von Bevölkerung und Politikern des Südens. Hier setzte seit Ende der 1980er der im Norden entstehender Regionalismus an. Die Lega beklagte (mit teilweise rassistischen Tönen) eine finanzielle Ausbeutung des Nordens durch den Süden – dadurch sei eine „nördliche“ Frage an die Stelle der traditionellen südlichen getreten.

Bestrebungen der Regionalisierung

Unabhängig von der Lega sehen manche Politiker und Wirtschaftswissenschaftler in einer stärkeren Autonomie der Regionen, Provinzen und Gemeinden eine Alternative zu dem gescheiterten zentralistischen Projekt. Sie versprechen sich davon eine bessere Anbindung der Programme an die je konkreten regionalen und kommunalen Bedingungen. An die Stelle paternalistischer Politik von oben müsse die wirtschaftliche Eigeninitiative vor Ort angeregt werden, unterstützt von Mitteln des Staates und der EU-Fonds. Skeptiker verweisen allerdings darauf, dass zwar inzwischen die Kompetenzen der dezentralen Einheiten erweitert wurden, deren finanzielle Ausstattung aber immer noch unzureichend sei. Zudem befürchten sie, dass durch vermehrte Mittel und Kompetenzen die Macht der alten, z.T. korrupten, z.T. inkompetenten regionalen Eliten und Netzwerke verstärkt werden könnte. Die Voraussetzungen, unter denen regionale Autonomie funktioniert, seien in weiten Teilen des Südens nicht vorhanden: ein Grundstock von erprobten Erfahrungen mit Eigeninitiative in modernen Wirtschaftssektoren, ausreichende private Mittel, Unterstützung von starken Banken sowie für eine effektive Wirtschaftsförderung qualifizierte Verwaltungen.

Scheitern des zentralistischen Ansatzes – Skepsis gegenüber dem dezentralen Ansatz: Was könnte überhaupt noch Hoffnung für den Süden machen? SVIMEZ fordert in ihrem Bericht außergewöhnliche Anstrengungen, die die durchaus vorhandenen ausbaufähigen Ansätze in den Regionen gezielt aufgreifen und fördern müssen, statt mit der Gießkanne über die Regionen zu gehen.

Die neue Regierung hat in ihrem Programm einen Sonderplan für untereinander verknüpfte strategische Investitionen im Süden angekündigt, die die dortige Infrastruktur verbessern, den Unternehmen helfen und die touristischen, kulturellen und natürlichen Potenziale unterstützen sollen, auch unter Nutzung europäischer Fonds. Zudem wurde Giuseppe Provenzano, ein Wirtschaftswissenschaftler und ausgewiesener Experte für den Mezzogiorno, der bisher stellvertretender Vorsitzender von SVIMEZ war, zum neuen Minister für den Süden ernannt. Man kann nur hoffen, dass der neue, überzeugende Minister und die gesamte Regierung die Kraft haben endlich eine Wende in der Politik für den Süden einzuleiten. Auf jeden Fall braucht er, wenn er tatsächlich einen überzeugenden Strukturförderungs- und Investitionsplan vorlegen kann, kräftige Unterstützung aus Brüssel.

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