Unter Druck

Markige Sprüche sind bei Salvini nichts Neues, aber in letzter Zeit werden die Töne schriller. „Am 26. Mail findet keine Europawahl statt, sondern eine Volksabstimmung, in der es um Leben oder Tod geht, um Zukunft oder Vergangenheit, um ein freies Europa oder einen islamischen Staat, in dem Unsicherheit und Angst herrschen!“, rief er vor ein paar Tagen auf einer Wahlkampfveranstaltung im Piemont.

Im neuesten Fall eines NGO-Schiffs (die Sea Watch), das mit 47 Flüchtlingen an Bord wartend vor Lampedusa lag, bekräftigte er nicht nur sein „Die Häfen bleiben zu!“, sondern setzte noch einen drauf: „Ist mir doch egal, was der Ministerpräsident sagt! Menschenschmuggler (damit meint er die NGOs, Anm. MH) lasse ich nicht nach Italien rein!“. Diesmal machte ihm allerdings nicht der Ministerpräsident einen Strich durch die Rechnung., sondern der Staatsanwalt von Agrigento. Nachdem die Crew der Sea Watch mitgeteilt hatte, dass die Situation an Bord eskalierte und einige Flüchtlinge mit Selbstmord drohten, wies er am Sonntagabend die Finanzwache an, das Schiff zu „Untersuchungszwecken“ (Prüfung der Legitimität und Umstände der Rettungsaktion) zu beschlagnahmen. Das Schiff wurde also in den Hafen eskortiert und alle Flüchtlinge von Bord gelassen, wie es die Bestimmungen verlangen: Wird ein Schiff beschlagnahmt, müssen alle von Bord, die nicht zur Crew gehören. In diesem Fall waren es die geretteten Flüchtlinge. Der Staatsanwalt handelte in Ausübung seines Amtes, er brauchte keine Genehmigung der Exekutive.

Salvini erfuhr davon (manche meinen, er wusste es schon) während einer Life-Fernsehsendung und tobte: „Wer hat das angeordnet? Den werde ich alle zur Rechenschaft ziehen!“. Als er hörte, der Staatsanwalt von Agrigento, drohte er, ihn anzuzeigen „wegen Verdachts auf Begünstigung illegaler Einwanderung“. Nun sind also nicht nur die Mitglieder der Rettungsschiffe „Menschenschmuggler“, sondern auch Staatsanwälte. Ein Irrsinn.

Salvini wird nervös

Das herrische Auftreten und die Drohungen sollen sein Image als „starker Mann“ unterstreichen, sind aber auch Ausdruck wachsender Nervosität. Die Europawahl steht unmittelbar bevor, die Lega verliert nach den letzten Umfragen an Zustimmung. Auch wenn sie nach wie vor damit rechnen kann, aus dieser Wahl als stärkste italienische Partei hervorzugehen, hätte ein Absinken von den zuvor prognostizierten 34-35% auf 30-31% politisches Gewicht.

Auch die Konflikte innerhalb der Regierungskoalition verschärfen sich. Di Maio und seine 5SB sind inzwischen fast nur noch damit beschäftigt, Salvini und die Lega zu attackieren (wenn auch eher verbal als faktisch): wegen der sich in der Lega häufenden Korruptionsfälle, der (von der 5SB plötzlich entdeckten) Nähe Salvinis zur faschistischen Casa Pound und zu rechtsradikalen Parteien in Europa, und wegen des von der Lega angestrebten „Autonomiegesetzes“, das den Regionen im Norden Vorteile und im Süden Nachteile bringen würde. Um nur einige der Streitthemen zu nennen. Der Versuch, sich als „Gegenpol“ zu Salvini zu profilieren, scheint sich zu lohnen: In den vergangenen Wochen sind die Zustimmungswerte der 5SB wieder um 2-3% gestiegen, sie liegen jetzt bei ca. 25%, deutlich vor der PD (20%).

Es gibt noch einen weiteren Grund für Salvinis Nervosität. In ganz Italien wächst seit einigen Wochen der Protest gegen seinen aggressiven Nationalismus und sein inhumanes Vorgehen gegen Flüchtlinge. Und auch dagegen, dass die Ordnungskräfte (oberster Chef: Salvini) immer häufiger versuchen, Protest und Kritik – und seien sie noch so friedlich – schon im Keim zu ersticken.

Bürgerprotest in vielfältigen Formen

Sobald Salvini irgendwo im Land zu einem seiner vielen öffentlichen Auftritte erscheint, gibt es Protestaktionen. Gegendemos, Flashmobs, Spruchbänder und Bettlaken an Fenstern und Balkonen mit Aufschriften wie: „Du bist hier nicht willkommen“, „Die Lega ist eine Schande“, „Offene Häfen, offene Herzen!“, „Minister des Hasses“ oder „Rück die 49 Millionen raus!“ (öffentliche Gelder, welche die Lega trotz gerichtlicher Anordnung bisher nicht zurückerstattet hat und über deren Verbleib sie angeblich nichts weiß ).

Die „Bettlaken-Aktionen“ („Lenzuolate“) haben sich über ganz Italien verbreitet. In einigen Fällen hat die Polizei die Feuerwehr angewiesen, die Aushänge mit Hilfe von Leitern zu entfernen. Eine Verletzung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung, die den Protest weiter verstärkte. Jetzt erscheinen noch mehr Laken, mit ironischen Botschaften: „Bringt diesmal eine lange Leiter mit, ich wohne im fünften Stock!“ stand auf einem in Florenz. Und in Mailand: „Jawohl, ich bin gegen Salvini! Und? Nehmt ihr jetzt auch mein Laken ab?“, „Ich protestiere nicht – bin nur ein Laken, zum Trocknen aufgehängt“. Oder in römischem Dialekt „Ah Salvi‘: 7×7=?“ (wieder Anspielung auf die verschwundenen 49 Millionen).

Rosenkranz und „Maria-Hilf“

Am Samstag fand in Mailand die zentrale Abschlussveranstaltung der Lega zur Europawahl statt. Auch hier wieder Protestdemonstrationen und Bettlaken. Salvini hatte die rechtsradikalen Promis Europas eingeladen, von Le Pen bis Wilders, und auch Meuthen durfte dabei sein. „Wir werden mehr als 100.000 sein!“ hatte Salvini prophezeit. Das war Wunschdenken, auf dem Domplatz kamen laut Schätzungen nur ca. 20.000 zusammen (weder die Lega noch die Sicherheitskräfte machten Angaben zur Teilnehmerzahl), obwohl Busse aus ganz Italien organisiert worden waren.

Salvinis Kuss des Rosenkranzes

Salvinis Kuss des Rosenkranzes

In einer surrealen Rede appellierte Salvini in messianischem Ton an die „sechs Schutzheiligen Europas“ (die er namentlich mit viel Pathos anrief) und an die Madonna (“Ich vertraue mich, mein und euer Leben dem unbefleckten Herzen Marias an, die uns zum Sieg führen wird!“). Schwenkte einen Rosenkranz, küsste ihn und griff anschließend Papst Franziskus an, der gerade erneut das Massensterben im Mittelmeer verurteilt hatte.

Der Spektakel mit Rosenkranz, Heiligen-Litanei und Madonna kam bei der Kirche nicht gut an. Franziskus schwieg, aber andere Vertreter des Vatikans verwahrten sich mit den katholischen Zeitungen gegen den Versuch, die Religion samt Heiligen und Muttergottes in den Dienst des Lega-Wahlkampfs zu stellen.

Das umstrittene „Sicherheitsgesetz Bis“

Trotz des Appells ans unbefleckte Herz der Madonna konnte Salvini sein „zweites Sicherheitsgesetz“ nicht so durchbringen, wie er wollte. Die Bestimmung, dass Mitglieder von NGOs-Rettungsschiffen, die Menschen in Seenot an Bord nehmen, mit Sanktionen von 3.500 bis 5.500 Euro pro geretteter Person „bestraft“ werden sollten, wurde aus dem Entwurf gestrichen: Die Juristen des Staatspräsidenten hatten signalisiert, das werde er aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht unterschreiben. Die Neufassung sieht nun vor, dass Kapitän und Eigentümer von Schiffen, die trotz Verbots in italienische Hoheitsgewässer fahren, „nur“ eine Strafe von 10.000 bis 50.000 Euro zahlen (plus Beschlagnahmung des Schiffes). Auch die Verschiebung der Zuständigkeit für Operationen im Mittelmeer, die in italienischen Gewässern stattfinden, vom Verkehrsminister (zurzeit 5SB) zum Innenminister ist entfallen. Hier hatte die 5SB ihr Veto angekündigt.

Noch ist unklar, ob Salvinis Plan, das Gesetz noch vor der Europawahl vom Kabinett beschließen zu lassen, gelingt. Heute (22.5.) hatte Regierungschef Conte zu dem Thema ein langes Gespräch mit Staatspräsident Mattarella, dessen Bedenken sich wohl nicht nur auf den inzwischen geänderten Passus beschränken.

Der Hohe Kommissar für Menschenrechte der UNO hat die italienische Regierung bereits aufgefordert, den ganzen Gesetzesentwurf umgehend zurückzunehmen, da er gravierend gegen Menschenrechte und internationale Rechtsbestimmungen verstoße und „Xenophobie und Ressentiments schürt“. Salvini reagierte wie gewohnt mit Hohn: „Das ist ja zum Lachen! Die UNO sollte sich lieber um Venezuela kümmern, statt Wahlkampf in Italien zu machen!“.

In Italien werden die Ergebnisse des 26. Mai erhebliche Auswirkungen haben: auf die Lebensdauer der Koalition, auf das Schicksal von Ministerpräsident Conte, auf das Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Opposition. Und auf die Zukunft des Landes.