Barbarisierung einer Gesellschaft

Zertretenes Brot

7. Mai 2019 im römischen Randbezirk Casal Bruciato. Vor einem Haus versammeln sich Anwohner, denn Neuankömmlinge sind angesagt: Das Wohnungsamt hat einer aus Bosnien stammenden Roma-Familie mit 10 Kindern (die alle in Italien geboren wurden) in diesem Haus eine Sozialwohnung zugewiesen. Ein Teil der Familie soll an diesem Tag einziehen, einige ältere Kinder, die noch in einem Lager wohnen, sollen nachkommen Die Familie hat lange auf eine Wohnung gewartet, endlich ist sie „dran“. Als die ersten Neuankömmlinge sichtbar werden, beginnt das Gebrüll: „Wir wollen euch hängen sehen, Zigeuner!“, „Verrecken sollt ihr, wir verbrennen euch!“ Angeführt wird die Menge von „Casa Pound“-Leuten, einer rechtsextremen Organisation, die in den Randbezirken Roms aktiv ist und deren Spezialität es ist, systematisch den Rassenhass anzuheizen. Dass die Familie berechtigt ist, dort zu wohnen, interessiert niemanden. Es sind „Zigeuner“. Also Diebe, Verbrecher, Untermenschen.

Eingekreist und bedroht

Eingekreist und bedroht

Als die Mutter Senada mit ihrer zweijährigen Tochter auf dem Arm ins Haus will, kreist sie der Mob ein. Sie hatte im Supermarkt Brote eingekauft, die sie als „Grußgeschenk“ und Zeichen der Freundschaft an ihre neuen Hausnachbarn verteilen möchte. Jetzt müssen Polizisten einschreiten, um sie und ihre Kleine vor diesen Nachbarn zu retten und bis zur Wohnungstür zu eskortieren. Ein Casa Pound-Mann schreit: „Du Hure, dich vögele ich durch!“. Senada zittert vor Angst, ihr kleines Mädchen steht unter Schock und will anschließend nicht mehr essen.

Es ist nicht das erste Mal in diesem Jahr. Anfang April revoltierten Bewohner des römischen Randbezirks Torre Maura gegen den Einzug von 80 Roma in ein Aufnahmezentrum, für das man ein ehemaliges Krankenhaus freigeräumt hatte. Auch hier stand Casa Pound an der Spitze. Als ehrenamtliche Helfer Tüten mit belegten Broten an die Neuankömmlinge verteilen wollten, riss man sie ihnen weg, warf die Brote auf die Straße und zertrat sie („Ihr sollt verhungern, Zigeuner!“).

Nur die Wut von „Abgehängten“?

Ist dieser hemmungslose Hass, der die Grenzen des Menschseins unterschreitet, Ausdruck der Wut und Verzweiflung darüber, dass man selbst sozial ausgegrenzt wurde und sich von staatlichen und politischen Institutionen allein gelassen fühlt? Auch wenn sich der Hass dadurch nicht rechtfertigen lässt: Lässt er sich dadurch wenigstens erklären? Nur zum Teil. Die Ursachen sind komplexer:

Zunächst hat der Rassismus seine eigene Realität, nicht nur in Italien. In Italien gibt es ihn vor allem gegenüber Afrikanern und Roma (die Lega punktet mit ihm seit Jahrzehnten). Der Hass hat auch politische Gründe. Seitdem die „linke“ PD die neue Mittelklasse entdeckte, die es in die urbanen Zentren zieht, hat die PD die Peripherie Casa Pound als Jagdrevier überlassen. Jetzt verkündet Generalsekretär Zingaretti, dass die PD dorthin zurückkehren müsse, angefangen mit Casal Bruciato. Leider garantiert die Neugründung eines „Circolo“ noch keine Basisverankerung – dafür muss sich die PD erst einmal neu erfinden.

Was aber der Barbarisierung der italienischen Gesellschaft vor allem die Schleusen öffnete, ist die Legitimation von oben. Das Motto „Italiener zuerst!“, das Innenminister Salvini verbreitet, dringt wie ein Gift in alle Poren. Wenn ein Innenminister medial immer wieder zelebriert, wie er afrikanische Flüchtlinge in die libyschen Sklavenlager zurückjagt oder im Mittelmeer ertrinken lässt, warum soll man dann den Roma noch mit Humanitätsgedusel begegnen? „Italiener zuerst“ hat viele Facetten.

Es gibt auch Widerstand

Nichts ist determiniert. Nicht alle „Abgehängten“ in den römischen Randbezirken lassen ihre Wut an noch Schwächeren aus. In Torre Maura war es ein fünfzehnjähriger Junge, der – anfangs allein – ruhig und selbstbewusst einem Anführer von Casa Pound entgegentrat, der die Bewohner des Viertels aufheizte. „Das hier passt mir ganz und gar nicht“ erklärte der Junge in römischem Dialekt („Nun me sta‘ bene che no“). Es sei falsch, wegen eigener Probleme Leute anzugreifen, die dafür nicht verantwortlich sind und es denen noch schlechter geht: „Keiner darf zurückbleiben, ob Italiener oder Roma“ sagte der schmächtige Simone mit leiser aber fester Stimme dem Muskelprotz von Casa Pound ins Gesicht. Und setzte hinzu: „Ihr wollt nur die Wut nutzen, um Wählerstimmen zu kriegen“. Am Tag danach gab es im Bezirk eine Demonstration gegen Rassismus und Faschismus unter Simones Motto: „Nun me sta‘ bene che no!“, an der Tausende teilnahmen. Trotzdem wurden die 80 Roma schließlich doch wieder „ausgelagert“ (einige wollten selbst wieder raus).

Auch in Casal Bruciato regt sich Widerstand. Casa Pound hatte tagelang auf dem Innenhof des Mietshauses einen „Wachstand“ aufgestellt, um die Familie einzuschüchtern und am Verlassen ihrer Wohnung zu hindern. Die Polizei duldete es mit der hanebüchenen Begründung, dass die „Wache“ ja auf Privatgelände stehe und die Hausbewohner damit einverstanden seien. Dass dadurch eine dort rechtmäßig wohnende Familie belagert und bedroht wurde, war für die Polizei kein Grund zum Eingreifen. Erst als einige Bürger vor dem Haus ebenfalls einen Stand aufbauten, um die bosnische Familie zu schützen und gegen die faschistische Bedrohung zu protestieren, und es eine Solidaritätsdemonstration im Viertel gab, an der über tausend Menschen teilnahmen, baute Casa Pound ihre „Wache“ wieder ab.

Dann geschah ein kleines Wunder. Die glücklose Bürgermeisterin von Rom, Virginia Raggi (5SB), die auf die Vorfälle von Torre Maura noch hilflos reagiert hatte, raffte sich zu einer Geste auf: Sie besuchte (mit Polizeieskorte) die bosnische Familie in Casal Bruciato, wobei auch sie von Bewohnern beschimpft, beleidigt und bedrängt wurde. Nun zeigte Parteichef Di Maio, aus welchem Holz er geschnitzt ist: Er distanzierte sich von ihr: „Sie soll sich lieber um die Probleme der Römer kümmern! Erst die Römer, dann die Roma!“. Salvini machte es vor, Di Maio machte es nach.

Vom Regen in die Traufe

Bald stellte sich heraus, dass sich Raggi in guter Gesellschaft befand. Papst Franziskus lud 500 Sinti und Roma in den Vatikan ein, um dort die Dinge beim Namen zu nennen: „Ja, es ist wahr. Es gibt Bürger zweiter Klasse. Das sind diejenigen, die andere Menschen ausgrenzen, die mit dem Besen in der Hand andere wegfegen wollen“. In Italien gebe es Organisationen, die „Meister der Rache“ seien, aber der Hass dürfe nicht siegen, denn er mache die Herzen krank und erzeuge nur neue Rachegefühle. Die bosnische Roma-Familie aus Casal Bruciato empfing Franziskus persönlich. Und ermunterte sie, „nicht aufzugeben“.

Wir wissen aus eigener Anschauung, wie die Roma in Bosnien-Herzegowina lebten, also in dem Land, in dem die Serben, Kroaten und Bosniaken die Macht teilen. Unter ihnen (im wörtlichen Sinn: unter ihnen) gibt es eine vierte Volksgruppe: die Roma als machtlose Parias. Noch heute sieht man sie dort betteln oder im Restmüll wühlen. In Städten wie Mostar, wo es ein wenig Tourismus gibt, jagt man sie mit Fußtritten aus den Läden. Sie stören die Geschäfte.

Während der postjugoslawischen Kriege flüchteten viele Roma nach Mitteleuropa, auch nach Italien. Die meisten von ihnen lernten die Sprache, fanden Arbeit, versuchten ihre Kinder zur Schule zu schicken. Aber durch die Vorurteile der Bevölkerung und eine kurzsichtige Politik stieß ihre Integration auf eine harte Grenze: ihre Unterbringung. Was zunächst nur Provisorien sein sollten, wurde zum Dauerzustand, aus den Lagern wurden Ghettos. Auch in ihnen kamen die Roma nicht zur Ruhe. Die Dramatisierung der von den „Campi Rom“ ausgehenden Gefahren verband die Lega mit dem Versprechen, sie im Falle ihrer Wahl „mit Bulldozern platt zu machen“. Mit dem Ergebnis, dass sie immer wieder geschlossen wurden, um an anderer Stelle neu zu entstehen. Viele Roma, auf die heute Jagd gemacht wird, wenn sie in einzelnen Wohnungen (wie in Casal Bruciato) oder Sammelunterkünften (wie in Torre Maura) untergebracht werden sollen, haben eine ganze Odyssee durch die „Campi“ hinter sich.

Die Roma, die Anfang der 90er Jahre nach Italien flüchteten, kamen, wie sich jetzt zeigt, vom Regen in die Traufe. Was eine europäische Aufgabe sein müsste, wird zum Drama ohne Ende.

PS: So etwas kann sich eigentlich nur ein krankes Hirn ausdenken. Salvini hat jetzt ein zweites „Sicherheitsgesetz“ angekündigt, das Leute, die im Mittelmeer andere Menschen vor dem Ertrinken retten, eine Geldstrafe von 5000 € je geretteter Person auferlegt. Wer also das Pech hat, dort einem Schlauchboot mit sagen wir 40 afrikanischen Flüchtlingen zu begegnen, das gerade sinkt, hat die Qual der Wahl: Entweder er lässt sie ertrinken, dann verstößt er gegen internationales Recht und kann sogar im Knast landen. Oder er fischt sie aus dem Meer, dann muss er 200.000 € Strafe zahlen. Man wird sehen, was dazu Salvinis Kabinettskollegen von der 5SB sagen. Die Geldstrafe wird ihnen vielleicht egal sein, aber Salvini möchte das Dekret nutzen, um gleich noch einen zweiten bisher umstrittenen Punkt zu klären: Für das Geschehen im Mittelmeer soll in Zukunft nur noch der Innenminister ( Salvini) zuständig sein, ohne dass ihm da noch ein anderen Minister (z. B. der eigentlich zuständige Minister für Transport, ein 5SB-Mann) dazwischenreden kann. Das neue Sicherheitsdekret wäre dann auch ein Ermächtigungsdekret.