Italien und die neue Seidenstraße

Zumindest in der deutschen Öffentlichkeit hat es gedauert, bis man die Bedeutung des Projekts „Neue Seidenstraße“ erkannte. Die Chinesen gaben ihm zunächst den farblosen Namen „Belt and Road Initiative“, abgekürzt BRI. Der Name „neue Seidenstraße“ kam später, aber verrät etwas mehr historisches Bewusstsein. Er erinnert an das klassische Netz von Karawanenstraßen, das seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert China mit Zentralasien und Europa verband, über das vor allem Luxusgüter wie Seide, Glas und Edelmetalle transportiert wurden und Europa Neuigkeiten wie Papier und Schwarzpulver erreichten. Die Bedeutung der alten Seidenstraßen ging über den Handel hinaus: Sie „dienten auch der Verbindung unterschiedlicher Kulturen. Auf diesem Wegenetz verbreiteten sich Buddhismus, Manichäismus und Christentum“ (Brockhaus). Auch die Pest soll so nach Europa gekommen sein.

Das Projekt

Auch bei der neuen Seidenstraße geht es um Handel – und um mehr. Was Marx und Engels vor 170 Jahren im „Kommunistischen Manifest“ als Leistung des Kapitalismus feierten: „sich überall einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen“ und dabei einen „allseitigen Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander“ schaffen, klingt wie die Blaupause des neuen Projekts: Aus dem eurasischen Großraum soll ein einheitlicher Wirtschaftsraum werden, in dem alle Distanzen und sonstigen Hindernisse durch ein Netz von Straßen und Autobahnen, Eisenbahnlinien, Schiffswegen, Häfen, Logistikzentren, Öl- und Gaspipelines aus dem Weg geräumt werden. Der in China lebende Journalist Frank Sieren nennt es (in seinem „Zukunft? China!“) „das größte Infrastrukturprojekt der Weltgeschichte“.

Noch viel eindeutiger als damals ist es China, das die Neuauflage der Seidenstraße aus dem Boden stampft, um das aufstrebende Land mit dem Rest der Welt zu vernetzen. Nach Schätzung des US-Businessmagazins Forbes könnte es bis zu einer Billion Dollar kosten – und China ist offenbar bereit, davon den Hauptteil zu tragen (allein bis 2018 habe es schon 184 Milliarden investiert).

Die Kehrseiten

Bekanntlich stellte der Genosse Mao auf einer Konferenz fest, dass jedes Ding zwei Seiten hat (er drückte es komplizierter aus, aber so die Zusammenfassung). Auch das Seidenstraßen-Projekt ist ein solches Ding. Es fördert den Austausch, also ist es ein Segen. Und wenn dafür ein Land großzügig in die eigene Tasche greift, umso besser –Wege lassen sich in beiden Richtungen nutzen. Wo ist die Kehrseite?

Sie beginnt beim Austausch selbst. Der gilt als gut, wenn der Wettbewerb „fair“ ist. Kann er das sein, wenn der eine Konkurrent ein Riesenreich ist, das sich zwar der modernen Technik bemächtigt hat, wo aber der Staat den Export nach Belieben fördert, den Import und ausländische Investitionen behindert und freie Gewerkschaften verbietet? Zur Kehrseite gehört auch das „Kleingedruckte“ beim Bau und Erhalt des neuen Wegenetzes: Hier die Weltmacht, die Verträge mit 71 Anrainer-Ländern abschließt, dort das einzelne Land, das vielleicht weiter erschlossen wird, aber in Abhängigkeit gerät, wie jetzt gerade in Zentralasien Kasachstan und Usbekistan, die eigentlich Wert auf ihre Unabhängigkeit legen. Hinzu kommt die Intransparenz der Auftragsvergabe (vor allem chinesische Unternehmen profitieren), ebenso wie die Arbeits- und Lebensbedingungen zehntausender Arbeitskräfte und Ingenieure. Auch die Auswirkungen auf die Umwelt spielen nur eine geringe Rolle. Und schließlich das Thema Sicherheit. China ist dabei, zum perfektesten Überwachungsstaat der Welt zu werden. Die ZEIT berichtete kürzlich, wie fast ein ganzes Volk (die Uiguren) in Umerziehungslagern verschwindet – alles zur „Sicherung“ des Projekts Neue Seidenstraße.

Die Reaktion Europas

Wie soll sich Europa dazu verhalten? Eines ist sicher: Das Projekt rückt unaufhaltsam näher, sei es in Gestalt von Infrastrukturmaßnahmen, die bereits durchgeführt wurden bzw, gerade realisiert werden, sei es freundlich verpackt in weitere Partnerschaftsangebote mit lockenden Finanzierungshilfen. Den Hafen von Piräus hat China schon unter Kontrolle gebracht, in Deutschland wurden Duisburg (das Xi schon 2014 besuchte) und Mannheim als Binnenhäfen ins Auge gefasst, und Italien wird ermuntert, den Hafen von Triest in den Dienst der guten Sache zu stellen, weil es den mühsamen Landweg durch den Balkan ersparen würde.

Bei seinen Verhandlungspartnern ist China nicht wählerisch, es nimmt, was sich bietet. Es ist eine Spezialität Europas, dass es dafür zwei Ebenen gibt: das einzelne Land und die EU (China spielt auf beiden Klavieren). Somit kann sich ein Land, das ins Visier der chinesischen Planer gerät, entscheiden: Will es vor allem den schnellen Vorteil in Gestalt von chinesischen Investitionen, Aufträgen und Arbeitsplätzen, ohne Rücksicht auf die Kehrseite, dann wird es die Angebote annehmen, ohne lange zu fragen. Will es hingegen Einfluss auf das gesamte Projekt nehmen, sowohl im längerfristigen Eigeninteresse als auch wegen der „Werte“, die Europa definieren sollen (Multilateralismus, Reziprozität, Umweltschutz, Menschenrechte), braucht es die EU im Rücken – zumindest gegenüber einer Supermacht wie China.

Feierliche Unterzeichnung von Verträgen

Feierliche Unterzeichnung von Verträgen

Die Antwort Italiens…

Als Xi in der zweiten Märzhälfte auf europäischer Promotion-Tour war, wurden ihm beide Antworten gegeben. Da die italienische Regierung ein schnelles Erfolgserlebnis brauchte, entschied sie sich für die erste: Sie verhandelte mit Xi, ohne sich mit der EU abzustimmen. Sie ist innenpolitisch in Bedrängnis, weil es statt des angekündigten Aufschwungs nur ein Nullwachstum gibt, der TAV-Konflikt endete für die 5SB mit einem Debakel, und das Land ist auch außenpolitisch isoliert. Da gibt der Besuch Xis die Gelegenheit, um sagen zu können: Seht, wir sind überhaupt nicht isoliert, sondern auf Augenhöhe mit den Großen der Welt, und wo uns die Euros fehlen, kommt der Yuan. Italien hatte vorher ein paar Demutsbotschaften nach Osten geschickt: Es enthielt sich der Stimme, als die EU mit Blick auf China beschloss, künftig ausländische Investitionen schärfer zu durchleuchten, und als der Verdacht aufkam, dass Huawei seine in Europa implementierte Technik zu Spionagezwecken nutzen könnte, hielt es sich raus. Was Xi damit belohnte, dass er Rom zur ersten Station seiner Europatour machte. Wo es dann auch das erste wichtige Etappenziel erreichte: Italien steigt in das Seidenstraßen-Projekt ein, indem es die Häfen von Triest und Genua für chinesische Umrüstungsarbeiten freigibt, ohne China mit irgendwelchen „Werten“ zu konfrontieren. Das tat nur Staatspräsident Mattarella, der beim Empfang ansprach, was am Verhandlungstisch tabu blieb: Die italienisch-chinesische Annäherung sei zu begrüßen, aber „im Rahmen der von der EU verfolgten Strategie“. Das war in den Wind gesprochen.

Ansonsten hielt sich die chinesische Großzügigkeit in Grenzen: Italien darf künftig Orangen, Rindersamen und tiefgefrorene Schweine nach China ausführen, für den Tourismus gibt’s ein paar weitere Direktflüge, und für die Industrie ein paar Aufträge, z. B. eine Energiezentrale und eine Turbine für Aserbeidschan.

… und die Antwort der EU

Anschließend flog Xi nach Paris, wo Macron eine Art Gegenveranstaltung vorbereitet hatte: Er hatte als weiteren Gast Angela Merkel eingeladen, und zur Betonung der EU-Bindung auch Jean-Claude Juncker. Hier konnte angesprochen werden, was in Rom unter den Tisch gefallen war: klare Regeln, Reziprozität, vielleicht sogar Menschenrechte. Mit welchem Ergebnis, wird sich noch zeigen müssen – vorerst rang sich Xi nur zu der Feststellung durch, dass China auch an einem vereinten und starken Europa interessiert sei.

Wobei allen Anwesenden bewusst war, dass China längst begonnen hat, diese Einheit zu unterminieren. Und zwar von Osten her, wo es dafür (seit 2012) sogar das Format „16 + 1“ geschaffen hat (16 osteuropäische Staaten, darunter 12 EU-Länder, plus China). Das Muster ist immer das gleiche: China hilft, die unterstützten Länder hindern die EU an Kritik. 2017 verhinderte Athen, dass die EU einstimmig Chinas Menschenrechtslage kritisieren konnte, und 2018 boykottierte Ungarn den EU-Versuch, Chinas Vergabepraxis für Bauaufträge bei der neuen Seidenstraße genauer unter die Lupe zu nehmen. China hat längst den Fuß in der europäischen Tür.

Das heutige Entgegenkommen Italiens liegt also im Trend. Die neue Qualität besteht nur darin, dass es das erste Gründungsmitglied der EU und zugleich das erste G7-Mitglied ist, das sich dem chinesischen Druck beugt. Womit es auch den Versuch unterläuft, dem chinesischen Hegemoniestreben etwas von der EU aus entgegenzusetzen. Für den „Souveränismus“ der italienischen Regierung sind nicht die Hegemonialansprüche Chinas oder Russlands das Problem, sondern nur ein sich einigendes Europa.

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