„Ein Land, das nicht wiederzuerkennen ist“

Vorbemerkung der Redaktion: Rossana Rossanda charakterisiert sich selbst als „typische bürgerliche Intellektuelle, die eine kommunistische Wahl traf“. In Italien war noch der Faschismus an der Macht, als sie in Mailand Philosophie und Literatur zu studieren begann, Kontakt zum linken Untergrund aufnahm und in die Resistenza ging. Ihre Karriere in der KPI endete, als sie im Geiste der 68er Bewegung parteiinterne Meinungsfreiheit forderte und die Unentschiedenheit der KPI gegenüber Moskau kritisierte. 1969 gründete sie (mit anderen) die linke Tageszeitung „Manifesto“ und wurde noch im gleichen Jahr aus der KPI ausgeschlossen. Nachdem 1976 der Versuch einer neuen linken Parteigründung gescheitert war, zog sie sich aus der aktiven Politik zurück, um sich von da an ihrer redaktionellen und schriftstellerischen Arbeit zu widmen. Jetzt ist sie 94 Jahre alt und nach zwölfjährigem Aufenthalt in Paris nach Italien zurückgekehrt. Das folgende Interview (das sie der „Repubblica“ am 31. Oktober gab), zeigt, dass sie ihre Streitlust nicht verloren hat. Wir übersetzen es (mit leichten Kürzungen) nicht, weil wir mit jedem Satz übereinstimmen. Aber zum Beispiel ihre Sorge, dass es jetzt in Europa zum Durchmarsch eines neuen Nationalpopulismus kommen kann (Rossanda nennt ihn kurz „Faschismus“), teilen wir. Es zeigt eine Klarheit, die vielen anderen „Linken“ fehlt.

Was für ein Italien haben Sie vorgefunden?

Ein Land, das nicht wiederzuerkennen ist, ohne Rückgrat. Mir macht Angst, was aus ihm wird.

Wer macht Ihnen mehr Angst, Salvini oder Di Maio?

Salvini, denn er weiß, was er will, während Di Maio immer nur lacht.

Was erschreckt Sie bei Salvini?

Die Anmaßung. Ich habe das Dekret zum Thema Sicherheit gründlich studiert und verstehe nicht, wie Mattarella so etwas unterschreiben konnte.

Scheint es Ihnen rassistisch zu sein?

Es ist es, der Migrant wird nur als potenzieller Krimineller gesehen.

Welche Art von Macht stellt diese Regierung dar?

Sie ist die Abdrift des Populismus in den Rassismus. Di Maio und Salvini sind beide Populisten, aber auf unterschiedliche Weise, denn die Regierung wird von den Ideen des Lega-Mannes beherrscht. Die 5 Sterne kann ich nicht ernst nehmen.

Sie kamen auf 32 Prozent, wie kann man sie da nicht ernst nehmen?

Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Was ich sagen will: Ich verstehe sie nicht. Man sagt mir, dass sie von vielen Linken gewählt wurden, aber an ihnen ist wirklich nichts Linkes.

Sehr viele, die früher zur außerparlamentarischen Bewegung gehörten, haben die 5SB gewählt. Wie erklären Sie sich das? Mit einem Radikalismus, den die reformistische Linke nicht mehr bietet?

Das scheint mir evident zu sein. Sie haben aus Rache eine Veränderung gesucht, nachdem ihre Hoffnungen enttäuscht wurden.

Was sagt das über die italienische Linke?

Millionen haben früher links gewählt, weil zu ihrer DNA die Verteidigung der Schwächsten gehörte. Daran denkt heute niemand mehr…

Sind Sie noch Kommunistin?

Ich ja.

Rossana Rossanda

Rossana Rossanda

Wen würden Sie heute wählen?

Ich wüsste nicht, wen. Nehmen Sie die Kandidaten für den PD-Generalsekretär: Zingaretti, Minniti, Martina, Boccia, Richetti. Ich sehe da keine Unterschiede. Man sagt mir, Delrio sei ein guter Mann. Woran ich nicht zweifle. Aber welche Vision hat er von der Welt? In meiner Jugend in Mailand kannte ich den linken DC-Flügel gut: Ihre Stimmen unterschieden sich klar von denen der anderen Flügel…

Wundert es Sie, dass die Arbeiter Lega wählen?

Das ist eine alte Geschichte. Schon vor 15 Jahren gab es CGIL-Mitglieder, die für die Lega stimmten.

Wie kam es dazu?

Die Lega bot die einfacheren Erklärungen. „Wenn Du die Arbeit verlierst, hat sie Dir der Immigrant weggenommen, früher war es der Süditaliener (als die Lega noch die Abspaltung von Italien betrieb, A. d. R.)… Deine Schuld ist es nicht. Und auch nicht die des Systems“. So bot man einen Feind und Trost zugleich.

Machen Sie sich Sorgen um den Spread?

An sich scheint er mir noch kein Indikator für den Ruin zu sein. Schlimmer scheint mir, einen Haushalt vorzulegen, der keinerlei Wachstum und Arbeit bringt.

Befürworten Sie den ‚Reddito di Cittadinanza‘?

Im Prinzip ja, die Unterstützung der Armen ist richtig, aber was wird davon bleiben? Man muss Arbeit schaffen. Hier finde ich das chinesische Sprichwort richtig, das so geht: Gib einem Menschen einen Fisch, und du wirst ihn einen Tag lang ernähren, bring ihm das Fischen bei, und du wirst ihn sein Leben lang ernähren.

Wofür werden Sie sich bei den Europawahlen entscheiden?

Ich werde proeuropäisch wählen, gegen die Gefahren des Faschismus, die ich sehe. An den Faschismus erinnere ich mich gut, deshalb macht er mir Angst.

Welcher Weg bleibt der Linken in der Klemme zwischen Populismus und Austerität?

Denen, die meinen, hier gebe es keine Alternativen, sage ich: Schaut auf Sanchez und Podemos in Spanien, schaut auf das kleine Portugal, macht es wie sie.

Erschreckt Sie die Versimpelung der politischen Debatte?

Mich erschreckt die Vulgarität. Vor ein paar Tagen sah ich eine Fernsehdebatte, wo alle nur wiederholten: ‚Das geht mir am Arsch vorbei‘ (die italienische Fassung ist vulgärer, A. d. R.). Redete ich so in Gegenwart meines Vaters, fing ich mir mindestens eine ein…

Wie sehen Sie in die Zukunft?

Ich weiß, dass mir davon nicht viel bleibt, was ich im Grunde auch nicht bedaure. Ich hatte ein glückliches Leben, ich kannte interessante Leute.

Die wichtigsten?

Mein Schwager. Mein Lehrer Antonio Banfi. Sartre.

Wie war Sartre?

Als Franzose ein seltener Fall: disponibel und offen. Er kam jedes Jahr nach Rom, er liebte Italien, war neugierig, die De Beauvoir war da rigider…

Nutzen Sie die Sozialen Netzwerke?

Ich verabscheue sie. Ins Jenseits möchte ich gehen, ohne dass Zuckerberg einen einzigen Euro an mir verdient hat.

Überwiegt in Ihrer Lebensbilanz das Richtige oder der Irrtum?

Ich habe versucht, eher das Richtige zu tun, aber beging auch große Fehler. Wer kann übrigens von sich behaupten, keine begangen zu haben.

Welches war der größte Irrtum?

Das sage ich Ihnen nicht. Bei der Mühe, die es macht, ihn mir selbst einzugestehen.