Das Schweigen der Linken

Vorbemerkung der Redaktion: Die Angriffe auf die NGO’s, die Rettungsaktionen im Mittelmeer durchführen, werden heftiger. Lega, 5-Sterne-Bewegung und Forza Italia betreiben eine massive Kriminalisierungskampagne gegen die Seenotretter. Insbesondere gegen diejenigen, die sich – wie „Ärzte ohne Grenzen“ und „Jugend rettet“ – weigern, den von Innenminister Minniti (PD) formulierten Verhaltenskodex zu unterschreiben. Die Hauptgründe für die Ablehnung: dass den NGOs ab sofort die Anwesenheit bewaffneter Polizeikräfte an Bord aufgezwungen werden soll, und das Verbot, Gerettete anderen Schiffen zu übergeben, um Zeit für weitere Hilfsoperationen zu gewinnen. Gegen die Besatzung des Schiffes „Juventa“ von „Jugend rettet“ ermittelt der Staatsanwalt von Trapani wegen des Verdachts, in einigen Fällen die „illegale Einreise“ begünstigt zu haben. Die Flüchtlinge, denen sie zu Hilfe kam, seien nicht immer in Seenot gewesen (was der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags anders bewertet: völlig überfüllte Boote, ohne Proviant an Bord, seien gemäß dem internationalen Seerecht „automatisch“ in Seenot). Außerdem gebe es Indizien für Kontakte mit Schleppern. Zwar erklärte die Staatsanwaltschaft von Trapani auch, dass die Möglichkeit einer „systematischen Zusammenarbeit mit den Schleppern ins Reich der Phantasie“ gehöre und dass die Aktivisten der „Juventa“ nicht wegen des Geldes, sondern aus humanitären Gründen gehandelt hätten. Den xenophoben Hetzern sind solche Details egal. Nach ihrer perversen Logik sind die Retter – die im Mittelmeer operieren, weil Europa sich abschottet oder darauf zielt, die Menschen in die libyschen Horrorlager zurückzudrängen – die „Schuldigen“. Neu ist, dass inzwischen auch ein großer Teil der sog. „Linken“ ins gleiche fremdenfeindliche Horn bläst. Oder schweigt. In Italien wird eine menschenverachtende, rassistische Xenophobie immer mehr zur Normalität. Aber es gibt noch Einzelstimmen, die sich dagegen klar und deutlich erheben. Zum Beispiel die Stimmen von Roberto Saviano und Massimo Giannini.

Im Folgenden dokumentieren wir – leicht gekürzt – den Artikel, den Giannini am 7. August in der „Repubblica“ veröffentlichte und der vor allem das Verhalten der Linken kritisiert.

„Es gibt etwas, was die gegenwärtige und schon an sich unerträgliche Welle der Xenophobie noch empörender macht: das Abtauchen der Linken, das Verstummen der Zivilgesellschaft. Von dort kommt kein Gedanke und kein Wort, um die politische Instrumentalisierung des Hasses und der Angst vor den Migranten wenigstens einzudämmen (sie zurückzuweisen wäre in dieser Zeit kultureller Dunkelheit wohl schon zu viel verlangt). Stattdessen nur ein … Schweigen, das die rechte Ideologie der ‚Souveränität‘ (‚sovranismo‘) stillschweigend, wenn nicht gar zustimmend hinnimmt. Während die Rechte durch die fatale Verknüpfung identitären Unbehagens mit der wirtschaftlichen Misere Wählerstimmen sammelt. Der Beweis für diesen grandiosen Ausverkauf der Werte liefert einerseits die Unfähigkeit der sog. „Progressiven“, die Arbeit der NGOs auf der Straße und in den Zentren der Macht zu verteidigen, andererseits die endgültige Kapitulation Renzis beim Gesetz über den Ius soli (Renzi erklärte gerade, die Behandlung dieses Gesetzesvorhabens stehe erst nach der Neuwahl an, A. d. R.). Zwei sich wechselseitig ergänzende Ereignisse, die aus dem gleichen Nihilismus geboren sind, der im Namen des Volkes der populistischen Hegemonie nichts mehr entgegensetzen kann oder will. Der einzige, der über die NGOs und über den ausufernden xenophoben Diskurs noch die ganze Wahrheit zu sagen wagt, ist Roberto Saviano, der ohne Wenn und Aber zu den ‚Ärzten ohne Grenzen‘ (MSF) steht.

Eine Rettungsaktion der Ärzte ohne Grenzen

Eine Rettungsaktion der Ärzte ohne Grenzen

Ansonsten Leere. Dabei könnte man sich doch fast mühelos die Informationen besorgen, die nötig sind, um sich dem Nein der MSF zum Codex von Minniti anzuschließen, der den NGOs auferlegt, bewaffnete Polizisten an Bord ihrer Schiffe zu nehmen… Ebenso wie Emergency haben die MSF seit 2015 ihre Rettungsaktionen direkt der Koordination der italienischen Küstenwache unterstellt, und vor einem Jahr haben sie als erste den italienischen Autoritäten eine gemeinsame Vereinbarung darüber vorgeschlagen, wie die Hilfsaktionen für die Flüchtlinge besser zu koordinieren sind.

Es ist schlechterdings nicht hinnehmbar, wenn Ernesto Galli Della Loggia im Corriere della Sera von diesen Organisationen verlangt, sich nun ‚zwischen Italien und den Schleppern zu entscheiden‘ – eine Alternative, die ebenso falsch wie abwegig ist. Wie schon Saviano in der ‚Repubblica‘ schrieb, würde das Einholen der Flagge, welche in einem roten Kreis die durchstrichene Kalaschnikoff zeigt, für diese NGOs das Ende ihrer Mission bedeuten. Einer Mission, die immer die gleiche ist, vom Kongo bis zu Libyen, vom Kanal von Sizilien bis zum Tschad-See: die Rettung menschliches Lebens, unter Beachtung der international anerkannten Prinzipien der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität. Da ist keine Entscheidung zwischen Legalität und Schleppern nötig. Die einzige Entscheidung, vor der sie nun stehen, ist Rettung von Menschen, oder durch das Befolgen der vom ‚Verhaltenscodex‘ auferlegten Regeln dazu beizutragen, dass das Ertrinken zum wahren Abschreckungsmittel gegen die Flucht über das Meer wird …

Es ist wahr: In der ersten Jahreshälfte sind mehr über das Mittelmeer gekommen. Aber die Zahlen zeigen auch, dass es die so häufig beschworene „Invasion“ nicht gab und auch nicht geben wird. Aber so wahr es ist, dass im Mittelmeer kein Krieg stattfindet, so wahr ist es auch, dass in ihm alle zwei Stunden ein Kind, eine Frau oder ein Mann ertrinkt, was einem Krieg schon sehr nahe kommt. Warum sagt die Linke dazu nichts? Warum äußern sich die Intellektuellen nicht? Warum hat keine Nachrichtensendung der RAI eine Minute übrig, um eine andere „Erzählung“ als die banale und gängige zu versuchen, welche die Letzten dieses Planeten gegen die Vorletzten unseres eigenen Landes ausspielt? Saviano hat Recht: Auch sie (die Journalisten, Politiker und Intellektuellen, A. d. R.) haben Angst… Sie ducken sich vor der rassistischen Meute weg, die nach Sündenböcken sucht. Sie fürchten sich vor den Sturmtrupps Grillos und Salvinis, die im Netz und außerhalb exerzieren. Und schauen schon auf die Wahlurnen von 2018, wo die Kampagne gegen die Migranten eine reiche Ausbeute an Wählerstimmen verspricht.

Nun ist plötzlich auch der Ius soli zum Terrain einer möglichen Jagd nach Wählern geworden. Es kann kein Zufall sein, dass gerade jetzt der Generalsekretär der PD … verlauten lässt, das aufzugeben, was er vor nur einem Monat noch zurecht „eine Schlacht für die Humanität“ nannte. Und Pisapia hat Recht, wenn er Renzi zuruft, diese Schlacht im Parlament keinesfalls aufzugeben. Aber leider wird diese „Resistenza“ nichts helfen. Denn das Recht des in Italien geborenen Kindes auf Einbürgerung, bei dem zumindest ein Elternteil über eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung verfügt, hat mit dem Thema epochale Migration nichts zu tun. Auch dieses eigentlich sakrosankte Recht landet jetzt – wie vieles andere – auf der Müllhalde der Geschichte, in welche die Linke nun alles wirft, woran sie einst glaubte. Alles, wofür sie einst gekämpft hat. Alles, was ihre Existenz rechtfertigte.“