Nach Macrons Sieg: eine europäische Stimme aus Italien

Vorbemerkung der Redaktion: Macrons Sieg in Frankreich hat den „Europäern“ Auftrieb gegeben, auch in Italien. Am 9. Mai erschien in der „Repubblica“ ein Interview mit Romano Prodi. Es ist aus mehreren Gründen bemerkenswert: Erstens zeigt sich hier Prodi als Europäer, dessen „Wir“ (im letzten Absatz) nicht das national-italienische, sondern das kontinental-europäische ist, das sich mit dem Sozialstaat und „demokratischen Werten“ identifiziert. Und der den Sieg Macrons begrüßt, weil er wieder die „Dialektik“ freisetzen könne, die auf europäischer Pluralität beruht, ohne in Kleinstaaterei zurückzufallen. Mit einer Spitze gegen die deutsche Hegemonie, die diese „Dialektik“ stillgelegt habe. Etwas überraschend nennt Prodi als erstes Beispiel für ein europäisches Weiterkommen den Aufbau einer europäischen Streitmacht, in der er sogar der französischen Nuklearmacht eine potenziell positive Funktion zubilligt (um dann als weiteres gesamteuropäisches Projekt den sozialen Wohnungsbau zu nennen). Schon kontroverser könnte seine These sein, dass es heute nicht mehr um die Dialektik von „Links und Rechts“ gehe, sondern nur noch um die von Öffnung oder Schließung gegenüber der Globalisierung – als ob das von ihm angedeutete Konzept einer „gesteuerten Globalisierung“ nicht auch das „linke“ Moment der sozialen Gerechtigkeit enthalten muss. Schließlich ist zu fragen, ob es nicht voreilig ist, angesichts des Sieges von Macron schon das „Verschwinden der traditionellen Parteien“ zu konstatieren. Sicherlich gibt es eine Krise der traditionellen Parteien und der von ihnen getragenen repräsentativen Demokratie. Aber verschwunden sind sie nicht. Dagegen spricht nicht nur das Beispiel Deutschlands, sondern auch Frankreich selbst, wo jetzt Macron nachträglich „seine“ Partei erfinden muss, um seinem Sieg eine realitätsverändernde Stoßrichtung zu geben. Eine „traditionelle“ Partei wird es wohl nicht werden. Meint Prodi, dass solchen Ad-hoc-Parteibildungen die Zukunft gehört?

Hier das (von uns übersetzte) Interview mit Romano Prodi:

Wohin wird Europa mit Macron gehen? „Sein Sieg bedeutet eine Trendwende von historischer Tragweite. Wenn die Bürger vor die klare Entscheidung zwischen Europa und Nicht-Europa gestellt werden, wenn sie entscheiden müssen, welche Zukunft ihre Kinder haben sollen, setzt sich der Instinkt der Selbsterhaltung durch, d. h. die Entscheidung für Europa wird mehrheitsfähig. Das geschah schon in Österreich und Holland, nun konsolidiert sich diese Logik auch in Frankreich.“

Macron sprach vom ‚gemeinsamen Schicksal der Europäer‘… „Ein anspruchsvoller Satz für einen einfachen Gedanken: Als einzelne Kleinstaaten werden wir zerdrückt und können wir uns nicht der Herausforderung einer globalen Welt stellen. Heute ist Europa zwischen Putin und Trump eingequetscht. Das lässt uns wieder den Sinn der Gemeinsamkeit finden“.

Aber ist der Eurooptimismus des französischen Präsidenten begründet? „Man sollte eher fragen, wie begründet ein gewisser modischer Europessimismus ist, der oft nur als Vorwand für den sich dahinter versteckenden Nationalpopulismus dient. Das Problem ist, wie sich diese so verbreitete Haltung überwinden lässt, besonders hier in Italien … In den letzten Jahren hat sich das Konzept der Demokratie verändert. Der Akzent liegt nicht mehr so sehr auf Rechten und Repräsentanz, sondern eher auf dem, was die Demokratie an Resultaten liefert. Ich denke, mit dem Konzept eines Europas der zwei Geschwindigkeiten wird es Macrons Sieg möglich machen, endlich Entscheidungen zu fällen, die zu konkreten Resultaten führen“.

Romano Prodi

Romano Prodi

Welche? „Das erste Ergebnis wird, so hoffe ich, das Ende jener europäischen Einbahnstraßen-Gipfel sein, in denen Merkel die Doktrin vorgibt und die anderen Regierungschefs dann dazu Pressekonferenzen abhalten. Der deutsch-französische Motor wird dann wieder auf zwei Zylindern laufen, und das ist gut so. Dank der beiden Geschwindigkeiten und der verstärkten Kooperation kann sich dann auch der Konsens anderer großer Länder wie Italien und Spanien hinzugesellen, um wieder die Dialektik in Gang zu setzen, die Europa vorankommen ließ. Konkret könnte es jetzt der Verteidigungsbereich sein, der dafür am reifsten ist. Nach dem englischen Ausscheiden ist Frankreich das einzige europäische Land, das noch über atomare Abschreckung und ein Vetorecht in der UNO verfügt. Zusammen mit Deutschland, Italien und Spanien muss es jetzt den Plan einer europäischen Streitmacht in Angriff nehmen. Es ist ein realistisches Projekt, das unsere Verteidigungskraft erheblich erhöhen könnte, und zwar ohne zusätzliche Kosten. Aber es gibt auch andere Bereiche wie die gemeinsame Forschung für die großen Infrastrukturprojekte oder die Auflage von Sozialprogrammen auf europäischer Ebene, die mit dem sozialen Wohnungsbau beginnen könnten.“

Macron wurde als Vorreiter der Globalisierung beschrieben, aber setzt in Wahrheit auf europäischen Protektionismus… „Protektionismus ist das falsche Wort. Ich habe noch nie gehört, dass er von Mauern und Barrieren sprach. Macron ist ein französischer Liberaler: freie Wirtschaft, aber unter der Führung eines starken Staats, eine Idee, die er auf ganz Europa ausdehnen will. Ich finde es richtig, dass er mehr auf die Verteidigung des europäischen als nur des nationalen Interesses setzt. Die EU sollte ihre Öffnung beibehalten, aber muss die entsprechende Öffnung auch von den anderen Partnern fordern, vor allem von China, was bisher nicht immer der Fall war.“

Die französischen Präsidentschaftswahlen markierten auch das Verschwinden der traditionellen Parteien: Ist das ein gesamteuropäisches Phänomen? „Mit der einzigen Ausnahme Deutschland würde ich dem zustimmen. Die Welt hat sich verändert. Die Politik hat sich verändert. Die heutige Dialektik ist nicht mehr die von Rechts und Links, sondern von Öffnung oder Schließung gegenüber der globalen Welt. Wie Frankreich gut gezeigt hat, geht es nicht mehr um den Konflikt zwischen Proletariat und Bürgertum, sondern zwischen den gebildeten urbanen Schichten und den subkulturellen Schichten in der Peripherie. Den alten Parteien, die zu Wahlmaschinen ohne soziale Funktion geworden sind, gelingt es nicht mehr, die neuen gesellschaftlichen Widersprüche zu verstehen und zu repräsentieren“.

Aber kann die Demokratie auf längere Sicht das Ende der politischen Parteien überleben? „Das ist genau die große Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen. Nach der Niederlage des Kommunismus schien sich die Welt der Demokratie zu öffnen. Stattdessen wächst bei den Bürgern überall das Bedürfnis nach autoritärer Führung: in China, Indien, den Filippinen, Russland, der Türkei, Ägypten und nun auch in den Vereinigten Staaten. Die Leute scheinen starke Regimes zu lieben, und solche Versuchungen zeigen sich nun auch in Europa. Glücklicherweise zeigt uns Macron, dass sich bei uns letztlich doch die Entscheidung zu Europa und somit zur Demokratie durchsetzt“.

Riskieren wir nicht, damit allein zu bleiben? „Das ist teilweise wahr, aber das sollte uns nicht erschrecken. Im letzten Jahrhundert, dem Jahrhundert der Tragödien und Kriege, war Europa der einzige Ort, wo die Utopie des Wohlfahrtsstaates, die weitsichtige Idee des Sozialstaats verfolgt und umgesetzt wurde. Heute müssen wir den Kampf um die Werte der Demokratie führen, die in eine gesteuerte Globalisierung eingebettet sind. Macrons Sieg sagt uns, dass es machbar ist.“